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WDR

Autorin: Elisa Sobkowiak
Redaktion:
Julia Linn, Thierry Backes
Übersetzung: Lesya Pullmann
Fotos: privat
Videos: privat

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Geigen­klänge im Krieg



Seine Heimatstadt Kiew musste Musiklehrer Andrij Derij, 24, wegen des Kriegs gegen die Ukraine verlassen - seine Geige konnte er retten. Hier erzählt Andrij von der Sorge, sein Instrument bald gegen eine Waffe tauschen zu müssen - und Geigenschülern, die stolz Militärgräben bauen.

Protokoll: Elisa Sobkowiak



Geigen-Unterricht - als Ablenkung vom Krieg

„Ich erinnere mich an eine meiner sehr jungen Schülerinnen: Sie war gerade fünf Jahre alt und kam kurz nach Beginn des Krieges auf mich zu, legte ihre kleine Hand in meine und hat mir die ukrainische Hymne vorgesungen. Die Hälfte der Wörter konnte sie noch nicht richtig aussprechen, aber es war wichtig für sie, diese Hymne zu singen.

Ihr und anderen Kindern Geigen-Unterricht zu geben - das will und muss ich machen. Damit sie vom Krieg abgelenkt sind. Er ist ständig in ihren Köpfen.

Jede Geige hat eine Seele

Wenn ein Mensch Angst hat, nimmt er immer nur das Wertvollste mit. Bei mir war das die Geige - ich konnte sie nicht in Kiew zurücklassen. Die Geige, dieses kleine Instrument, es hat eine Seele. Nicht nur im übertragenen Sinn: Jede Geige hat eine Seele, den Stimmstock, er sieht ein bisschen wie ein Bleistift aus. Ohne diese Seele gibt es keinen Klang.

Bei unserer Flucht aus der Stadt dachten wir, dass es so einen heftigen Krieg geben wird, dass wir draußen übernachten werden. Ich saß also im Auto mit meiner Geige auf dem Schoß und ein paar warmen Kleidungsstücken.



Meine Emotionen waren bei null

Seit ich drei Jahre alt bin, spiele ich Geige. Aber diesen ersten Monat nach Beginn des Kriegs konnte ich nicht ruhig Musik machen.

All das, was in meinem Land passiert, ist kaum zu ertragen. Musik ist für mich etwas sehr Emotionales. Wie in einem interessanten Buch gibt es in der Musik sehr viele verschiedene Geschichten, sehr viele Emotionen. Und ich war in so einem Zustand, wo alle Emotionen bei null sind. Ich konnte weder fröhliche noch traurige Musik spielen. Weil ich den Tränen nahe war.

Mit meinem Bruder, seiner Frau und meiner Freundin bin ich in einem Dorf nahe Lwiw untergekommen. Einen Monat nach der Flucht bin ich noch einmal zurück, um meine zweite Geige abzuholen.

Dieses Bild hat Andrij bei der Stadt Fastiw unweit von Kiew aufgenommen. Er musste diese Route nehmen, weil der schnellste Weg gesperrt war.

Geigen-Unterricht - von der Ukraine in die halbe Welt

Mit meiner zweiten Geige gebe ich mittlerweile wieder Unterricht. Das Coronavirus hat unseren Online-Unterricht eingeführt, der Krieg die verschiedenen Zeitzonen. Viele Schüler sind in Deutschland, Spanien, Belgien, Rumänien. Aber ich unterrichte jetzt auch Kinder in der Schweiz, in Kanada und Südkorea

Insgesamt hatte ich 18 Schüler. Aktuell sind es nur zwölf. Zu manchen habe ich seit Beginn des Kriegs keinen Kontakt mehr. Entweder, weil sie gerade kein Instrument haben. Oder weil ich mich ihnen nicht aufzwingen möchte. Ich verstehe, dass es gerade größere Probleme gibt als Geigenunterricht.

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Geigenschüler spielen Schützenlieder - und bauen Militärgräben

Der Krieg verändert die Sicht der Kinder auf die Musik. Und auch meine Sicht ist anders geworden. Ich will unsere ukrainische Kultur, unsere ukrainische Musik zeigen. Und die Kinder selbst wollen das auch.

Neulich war ich joggen und sah eine Gruppe Kinder. Sie haben im Chor ein altes, ukrainisches Schützenlied gesungen. Eine treffende Zeile darin: ‚Einst in voller Pracht die Ukrainer, gerade so sorgenvoll.‘ Auch einer meiner Schüler wollte das zuletzt spielen, obwohl es für Kinder so untypisch ist. Eine andere Schülerin kam plötzlich und sagte: ‚Ich habe gelernt, die ukrainische Hymne zu spielen: Hören Sie mal, wie ich das kann!‘

Hier hatte Andrij zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wieder eine Unterrichtstunde mit einer Schülerin in Lwiw. Symbolisch hat er Geigen ins Publikum gesetzt.

Als ich mich um meine Stelle beworben habe, wurde ich gefragt, ob ich Kinder mag. ‚Nicht so sehr‘, habe ich geantwortet. Jetzt habe ich sie richtig ins Herz geschlossen. Ich mache mir große Sorgen um sie. Sie rufen mich an, teilen ihre Geschichten mit mir. Einer erzählte: ‚Ich habe heute ein Loch ausgehoben, das ist mein eigener Militärgraben.‘ Kann man sich das vorstellen? Dass ein 12-Jähriger so etwas erzählt?

Instrument gegen Waffe tauschen?

Ich hatte auch meine Pläne. Ich wollte gerne in Düsseldorf studieren. Dort unterrichtet ein Dozent, der selbst aus der Ukraine stammt. Aber um im Ausland zu studieren, braucht man eine sehr gute Geige und die Möglichkeit, sich das Studium zu finanzieren. Außerdem sind hier meine Eltern, meine Verwandten.

Und dann kann es sein, dass ich bald nicht mehr mein Instrument in der Hand halte, sondern eine Waffe – um meine Heimat zu beschützen. Auch gerade sitze ich nicht tatenlos herum, sondern gebe mir Mühe, den Kindern emotional beizustehen.

Aber ist es nicht sogar wertvoller als alles andere, wenn du deine Eltern und deine Heimat schützen musst? Sogar wertvoller als eine Geige? Wir Ukrainer sind keine Angsthasen. Für die Freiheit muss man kämpfen. Wir wollen, dass es unserem Land gut geht und dafür werden wir alle kämpfen.

Konzertplanung für das Kriegsende

Wenn das Ganze zu Ende geht, wollen wir ein großes Konzert geben. Aber aktuell kommen die Sirenen so oft, dass auch kleinere Veranstaltungen verboten sind. Es gibt eine Melodie, die ich vor einigen Jahren gespielt habe. Sie versetzt einen in einen Zustand wie nach dem Krieg, wenn du nichts mehr hast, aber gleichzeitig noch lebst. Eigentlich will ich über nichts Trauriges sprechen. Aber so ist nun mal mein Zustand gerade.

Ich denke oft an Kiew. Ich mag die kleine Hymne dieser Stadt, wenn ich sie spiele, gibt mir das Kraft.

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Ich hoffe, dass wir bald wieder zu fröhlichen Tanz-Melodien zurückkehren. Und ich hoffe, dass die Kinder bald wieder nach Hause können.

Aber es ist noch sehr lange bis dahin.“

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