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WDR

Autorin: Tasja Demel
Redaktion:
Thierry Backes, Julia Linn
Übersetzung: Anastassia Boutsko
Fotos: WDR/Jan Knoff (3), privat
Videos: WDR/Archiv, privat
Produktion: Thierry Backes

Bildrechte: WDR, WDR/Archiv, WDR/Jan Knoff, privat

Flucht ohne Bruder

Adana, 21, lebt alleine mit ihren drei Brüdern in Charkiw, als der Krieg in der Ukraine ausbricht. Vier Tage harren sie aus, dann flieht Adana mit David, 11, und Denis, 13 - erst nach Lwiw, dann weiter nach Polen und schließlich nach Deutschland. Nur ihr Bruder Victor, 18, bleibt im Nordosten des Landes zurück. Er darf das Land nicht verlassen. Hier erzählt Adana, was sie in den vergangenen Wochen erlebt hat.

Protokoll: Tasja Demel



Niemand hat wirklich an einen Krieg geglaubt

„Der Tag vor Kriegsbeginn war ein ganz normaler Tag. Ich habe Sport gemacht, war einkaufen und habe gearbeitet. Die Jungs kamen von der Schule, wir haben zu Abend gegessen. Ich glaube, es gab Blinis (gefüllte Pfannkuchen, Anm. d. Red.).

Morgens um fünf Uhr bin ich durch seltsame Explosionen aufgewacht. Zuerst dachte ich, es wäre ein Feuerwerk. Aber dann sind die Alarmanlagen der Autos in der Gegend angesprungen. Ich habe im Internet gelesen, dass man die Detonationen in der ganzen Stadt hören konnte. Ich bin zu meinem ältesten Bruder ins Zimmer gegangen. Ein Freund hatte ihn schon angerufen und gesagt: ,Es ist Krieg.‘

Natürlich hatten wir mitbekommen, dass die Russen an der Grenze stehen, aber niemand hat geglaubt, dass etwas passiert. Niemand hat geglaubt, dass es im 21. Jahrhundert bei uns in Charkiw Krieg geben könnte. Bis zum Schluss nicht.

Von den Explosionen sind auch meine jüngeren Geschwister aufgewacht. Wir haben uns im Wohnzimmer zusammengesetzt und meine Mutter Ludmila angerufen. Sie hat zu dem Zeitpunkt in der Slowakei in einer Fabrik gearbeitet, zusammen mit vielen anderen Ukrainern. Sie haben alle gleichzeitig Nachrichten von ihren Kindern bekommen. Aber Mama konnte nicht weg, sie hatte Frühschicht.

Tagsüber in der U-Bahn, nachts auf der Matratze im Flur

Als der Beschuss stärker wurde, habe ich angefangen, einen Koffer zu packen mit wichtigen Dokumenten und Kleidung, eine Hose und ein Pullover pro Person. Wir haben in der U-Bahn-Station Studencheskaya (im Nordosten der Stadt, d. Red.) Schutz gesucht. Zum Glück hatte ich vorher eingekauft, so hatten wir ein paar Vorräte.

Wir haben die U-Bahnstation erst am Abend wieder verlassen, als sich die Lage ein wenig beruhigt hatte. In unserer Wohnung haben wir die Matratzen in den Flur gelegt, um ein wenig zu schlafen, weg von den Fenstern.

Um fünf Uhr morgens wurden wir von Sirenen und Explosionen geweckt. Also haben wir wieder unsere Sachen gepackt und sind zurück in die U-Bahn.

So ging das vier Tage lang: morgens in die U-Bahn, abends wieder zurück in die Wohnung. Wir hatten sogar einen festen Platz und feste Nachbarn. Sie hatten Angst rauszugehen und haben wie viele andere Menschen unten übernachtet, auf aufblasbaren Matratzen oder auf mitgebrachten Stühlen.

Weg von den Fenstern: Schlafplatz im Flur der gemeinsamen Wohnung.

Konnten wir Victor wirklich alleine lassen?

Die Situation verschlechterte sich Tag für Tag. Mit meiner Mutter haben wir dann besprochen, dass wir Charkiw verlassen werden.

Das Problem war mein ältester Bruder Victor: Männer zwischen 18 und 60 dürfen nicht mehr ausreisen. Zwei Tage haben wir versucht, ihn dazu zu bringen, wenigstens mit in die Westukraine zu fliehen. Aber er hat sich geweigert. Er sagte, er kenne dort niemanden. In Charkiw hätte er wenigstens seine Freunde, seine Clique. Hier fühle er sich sicherer.

Ich war hin- und hergerissen: Konnten wir ihn wirklich alleine lassen? Meine jüngeren Geschwister wollten so schnell wie möglich zu ihrer Mama. Wir haben Victor dann das Versprechen abgerungen, dass er einen Zug in den Westen nimmt, wenn sich die Situation weiter verschlechtert.

Auf die Flucht habe ich für mich kaum etwas mitgenommen. Dokumente. Einen Pullover. Eine Hose. Unterwäsche. An Decken und eine Yogamatte für den Zug habe ich gedacht. Aber nicht mal andere Schuhe eingepackt. Ich war panisch. Ich habe zum Beispiel auch Schmuck mitgenommen. Warum? Ich weiß es nicht.

Adana im Gespräch mit dem WDR.

Eingeschlossen im eigenen Bad, mit einem Prozent Akku

Wir haben drei Stunden vor dem Bahnhof gewartet, so voll war es. Während wir auf die Abfahrt des Zuges nach Lwiw gewartet haben, hat Victor angerufen. Er sagte, so stark wie jetzt sei noch nie geschossen worden. Ich konnte übers Telefon die Schreie von Kindern und Erwachsenen auf der Straße hören. Er war schon zu Hause, hatte sich im Bad eingeschlossen. Der Strom war abgestellt, sein Handy hatte nur noch ein Prozent Akku.

Ich habe meiner Mutter Bescheid gesagt. Mein jüngerer Bruder hat das alles mitgekriegt und eine Panikattacke bekommen. Wir wären fast wieder ausgestiegen und umgekehrt. Die ganze Nacht im Zug haben wir kein Auge zugetan, aus Sorge um Victor. Erst am anderen Morgen hat er sich gemeldet und gesagt, dass es ihm gut gehe.

Der Zug war total überfüllt. Überall hockten Menschen, auch in den Durchgängen. Es gab keine Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen, oder sich hinzulegen. Wir haben Luna mitgenommen, unsere Hündin, aber ich konnte nicht mit ihr aussteigen, um Gassi zu gehen. Wenn der Zug anhielt, dann nur für eine Minute. Ich habe Luna die ganze Zeit auf dem Arm gehalten, weil sie weglaufen wollte. Sie hat gezittert und nicht verstanden, was passiert. Das kannst du einem Hund nicht erklären.

In Lwiw haben wir uns einen Tag ausgeruht. Dann sind wir mit dem Bus in zwei Tagen weiter nach Polen, wo wir meine Mutter getroffen haben, die aus der Slowakei hergekommen war. Wir wollten nach Deutschland, auf jeden Fall Jobs finden, um uns nützlich zu machen.

Wir sind am 11. März in Köln am Hauptbahnhof angekommen, und haben dort Jan kennengelernt, der uns aufgenommen hat. Er hat selbst einen Hund, der genau so aussieht wie Luna. Das ist Schicksal.

Wir hatten Glück. Wir haben es aus der Ukraine rausgeschafft und es geht uns soweit ganz gut. Wir sind jedoch nicht in Deutschland angekommen, wir sind hier irgendwie steckengeblieben. Wir wollen keine Flüchtlinge sein, wir verstehen uns als Reisende.

„Ich will irgendwann zurück in die Ukraine“

Wir suchen jetzt eine eigene Wohnung und meine Mutter einen Job. Die Jungs gehören in die Schule, und ich möchte mein Studium beenden. Ich hätte noch ein Jahr Internationale Beziehungen studieren müssen, dann wäre ich fertig gewesen. Ich will, dass meine Familie wieder komplett ist, dass mein Bruder zu uns kommt.

Victor ist jetzt bei der Familie eines Freundes in der Nähe von Charkiw untergekommen. Er ist in Sicherheit, aber sie leben dort von Tag zu Tag. Meine Mutter telefoniert jeden Tag mit ihm, sie weint viel.

Einmal hatten wir ihn fast überredet, doch wegzugehen. Eine halbe Stunde später hat er gesagt: Nein, ich gehe hier nicht weg. Ich kann ihn auch verstehen. Auch er ist gestresst und hin- und hergerissen.

Reisende: Mutter Ludmila, Denis, Adana und David (v.l.n.r.) in Köln.

Ich vermisse alles an meinem alten Leben. Damals hatte ich meine Routine und Ziele, die ich erreichen wollte. Natürlich will ich irgendwann zurück in die Ukraine. Aber Charkiw muss erst wieder aufgebaut werden und es wird lange Zeit keine Jobs geben. Deswegen denken wir uns: Wenn wir hier in Deutschland arbeiten und lernen können, können wir die Organisationen drüben besser unterstützen, das Land wieder aufzubauen.

Der Krieg hat uns beigebracht, dass alles Materielle keine Bedeutung hat. Was wichtig ist, das sind Familie und Freunde. Weil du nicht weißt, was morgen kommt. In einer Woche können alle Pläne, die du für dich und dein Leben gemacht hast, zerstört sein.“

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