Dürren, Waldbrände, Fluten: Allein die vergangenen beiden Jahre haben gezeigt, dass Naturkatastrophen auch uns verstärkt treffen. Dabei sind Klimawissenschaftler sich einig: Das war erst der Anfang. Wie gut ist Deutschland im Katastrophenschutz aufgestellt? Und was kann jede und jeder Einzelne tun, um eine Notsituation zu überstehen?
Von Jörn Kießler und Madelaine Meier
Der menschengemachte Klimawandel ist in Deutschland angekommen, das wissen wir spätestens seit der Flutkatastrophe, die im Juli 2021 mehr als 180 Menschen in den Tod riss. Doch diese Flut wird nicht die letzte gewesen sein: Wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass Deutschland in Zukunft häufiger mit extremen Wettereignissen rechnen muss.
Mit mehr Fluten. Mit mehr Dürren, wie jene, die schon 2018 und 2019 Ernten zerstört haben. Mit mehr Hitzeperioden, mehr Waldbränden. Mit heftigeren Stürmen. Die Anzahl der extremen Wetterereignisse steigt weltweit seit Jahren an, das ist längst auch in Deutschland spürbar.
„Die Extremereignisse werden stärker, sie werden häufiger“, sagt Ina Wienand, Referentin beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Wie gut ist Deutschland darauf vorbereitet? Was möchte die Politik nach der Bundestagswahl tun, um den Katastrophenschutz zu stärken? Und was kann jeder Einzelne von uns tun, um so einen Notfall bestmöglich zu überstehen?
Das sind „Eure Fragen“ zum Katastrophenschutz:
Katastrophenschutz ist Ländersache. Anders als der Zivilschutz, dem nicht-militärischen Schutz der Bevölkerung im Kriegsfall, wird der Katastrophenschutz nicht zentral vom Bund organisiert und durchgeführt. Stattdessen sind die Kommunen und Gemeinden für die Sicherheit ihrer Bürger und Bürgerinnen zuständig. Im Katastrophenfall helfen zunächst einmal die Institutionen, die auch bei alltäglichen Unglücken im Einsatz sind: Feuerwehr, Polizei, Ordnungsdienste und Hilfsorganisationen wie der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die Johanniter Unfallhilfe (JUH), der Malteser Hilfsdienst und die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG).
Eine Besonderheit des deutschen Katastrophenschutzes ist, dass die Einsatzkräfte zu 90 Prozent ehrenamtlich tätig sind. Gerade in kleineren Gemeinden, aber auch in großen Kreisen wie beispielsweise dem Rhein-Sieg-Kreis, gibt es keine hauptberufliche, sondern nur eine freiwillige Feuerwehr; in der Not kommen Retter zur Hilfe, die zwar gut ausgebildet sind, dafür aber nicht bezahlt werden.
Gibt es in einer Kommune ein Ereignis, das die Kapazitäten der örtlichen Einsatzkräfte übersteigt, einen Fall, bei dem auch die „überbehördliche Hilfe“, also zum Beispiel die Feuerwehren aus den Nachbarorten, nicht mehr helfen können, kann der Katastrophenfall ausgerufen werden. Dabei ist es egal, ob es sich um ein Naturereignis, ein Unglück wie eine Explosion, einen schweren Unfall mit vielen Verletzten oder auch eine langanhaltende Krise wie die Corona-Pandemie handelt.
In diesem Augenblick übernehmen die Kreise und kreisfreien Städte das Krisenmanagement. Je gravierender das Ereignis, desto höher sind auch die Krisenstäbe angesiedelt. In diesen sitzen neben der Verwaltung, Feuerwehr, Polizei und Hilfsorganisationen auch andere Behörden, die bei der Bewältigung der Katastrophe helfen können. Bei einem Hochwasser kann das zum Beispiel die Stadtentwässerung sein, die sonst für das Abwasser zuständig ist.
Reichen die vorhandenen Kapazitäten nicht, weil sich etwa die Lage verschlimmert, können sich die Kreise und kreisfreien Städte Hilfe von den Bezirksregierungen oder sogar dem Land holen. Das Land wiederrum kann Unterstützung vom Bund anfordern, der die Bundespolizei oder sogar die Bundeswehr in das Katastrophengebiet schicken kann. Eine Ausnahme bildet das Technische Hilfswerk (THW). Es unterstützt die zuständigen Behörden, wenn es auf kommunaler Ebene angefordert wird, kann aber auch vom Bund entsandt werden. Bekommt auch der Bund eine Situation nicht unter Kontrolle, kann die Regierung internationale Unterstützung etwa über das Katastrophenschutzverfahren der Europäischen Union rufen.
Auf Ebene des Bundes ist auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) angesiedelt. Das wiederum greift bei Katastrophen selbst nicht aktiv ein, sondern berät auf allen Ebenen, koordiniert die Zusammenarbeit von Bund und Ländern, bereitet die Vorsorge für Krisenfälle vor, erstellt Risikoanalysen und ist für die Warnung der Bevölkerung zuständig.
Wann genau der Katastrophenfall ausgerufen wird, ist in Deutschland nicht einheitlich geregelt. Das BBK definiert eine Katastrophe als „Geschehen, bei dem Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen oder die natürlichen Lebensgrundlagen oder bedeutende Sachwerte so (…) gefährdet oder geschädigt werden“, dass die Katastrophenschutzbehörden eingreifen müssen.
Letztlich entscheiden die Verantwortlichen vor Ort darüber, wann die höchste Warnstufe ausgerufen wird - sprich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landräte und Landrätinnen, Leiterinnen und Leiter von Bezirksregierungen und im Extremfall die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder. Wie unterschiedlich Lagen bewertet werden, zeigen zwei Beispiele aus diesem Sommer: die Explosion im Leverkusener Chemiepark und die Flutkatastrophe.
Explosion in einer Sondermüllanlage in Leverkusener Chempark. Am 27. Jul 2021 explodiert gegen 9.30 Uhr ein Tank im Lager einer Müllverbrennungsanlage auf dem Gelände des Leverkusener Chemieparks. Sieben Menschen sterben, 31 werden zum Teil schwer verletzt. Anfangs ist nicht klar, ob und wenn ja, wie gefährlich der dabei entstandene Rauch ist, weil er mit Giftstoffen belastet sein könnte. Anwohner werden aufgefordert, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ordnet das Ereignis als "extreme Gefahr" ein und warnt über die dafür vorgesehene Notfall-Informations- und Nachrichten-App (NINA). Trotzdem wird in Leverkusen nicht der Katastrophenfall ausgerufen: Die Leverkusener und die Werksfeuerwehr schaffen es, den Unfall allein zu beherrschen. Zwar fordert die Feuerwehr überörtliche Hilfe bei den Kollegen in Köln an; um 12.15 Uhr melden die Einsatzkräfte aber, dass das Feuer unter Kontrolle sei.
Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz. Ganz anders ist die Situation bei der Flutkatastrophe Mitte Juli. Zahlreiche Kommunen und Kreise rufen den Katastrophenfall aus – allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Im Rhein-Erft-Kreis läuft das Procedere ganz klassisch ab: Erst ruft Erftstadt den Katastrophenfall aus, eineinhalb Stunden später dann der Kreis, in dem sich die Stadt befindet. Dass die Abläufe aber nicht immer wie auf einem Schaubild oben von statten gehen, zeigt der Kreis Ahrweiler. Als dort während der Flutkatastrophe ein Krisenstab eingerichtet wird, sind die örtliche Kräfte des THW schon länger im Einsatz. Der Katastrophenfall wird aber erst viel später ausgerufen.
Die beiden Beispiele zeigen: Es gibt zwar Leitlinien, doch am Ende entscheiden einzelne oder kleine Gruppen von Amtsträgern, ob und wann der Katastrophenfall ausgerufen wird.
Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer bilden in Deutschland das Fundament des Katastrophenschutzes: 1,7 Millionen Menschen engagieren sich hierzulande in der freiwilligen Feuerwehr, beim THW oder in zahlreichen anderen Organisationen, wie dem DRK oder der DLRG. Sie riskieren teilweise ihr Leben - und das alles freiwillig und ohne Bezahlung, und auch immer abhängig von der Kulanz des Arbeitsgebers.
„Wir haben in Deutschland ein ganz großes Potential an ehrenamtlichen Helfern und das macht uns im Vergleich zu anderen Ländern sehr besonders“, sagt Simone Sandholz. Sie forscht an der United Nations University in Bonn zum Thema Katastrophenmanagement im internationalen Vergleich. Die Ehrenamtlichen seien hierzulande sehr gut ausgebildet und geschult. Ein Vorteil sei ihre lokale Expertise: Sie verfügten über gute Ortskenntnisse, kennen die Bedürfnisse und Ressourcen der Region, seien untereinander gut vernetzt und könnten so im Krisenfall gut reagieren.
„Einen hauptamtlich bezahlten Katastrophenschutz könnten wir uns gar nicht leisten“, sagt Sven Werner. Er hat selbst erst bei der Freiwilligen Feuerwehr gearbeitet und ist inzwischen bei der Berufsfeuerwehr in Mülheim an der Ruhr. Werner hat schon einige Großeinsätze koordiniert. Die vergangene Flut habe auch Probleme der Strukturen aufgezeigt: So stand zum Beispiel im Ahrtal die Freiwillige Feuerwehr selbst unter Wasser. Die Feuerwache wurde von der Flut zerstört, die Fahrzeuge waren defekt und die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer zum Großteil privat betroffen und dementsprechend gar nicht in der Lage, anderen zu helfen. So eine Katastrophe wie die Flut im Juli „kann man nur überregional bewältigen“, sagt Werner.
Er macht sich Sorgen um „das Rückgrat„ des Deutschen Katastrophenschutzes: “Wir müssen zusehen, dass wir weiterhin viele Ehrenamtliche gewinnen. Denn das ist auch eine Tendenz, die wir heutzutage feststellen: Dass das Ehrenamt an manchen Stellen schwindet.“ Das Engagement sei nicht mehr so groß wie früher. Viele würden sich heute mehr „auf den Staat„ verlassen. Deshalb sei es besonders wichtig, weiterhin Ehrenamtliche zu gewinnen.
Emily Miller von der Osten packt seit der Flut im Juli in den zerstörten Gebieten mit an. Sie hat tonnenweise Schlamm weggeschippt und Spenden organisiert – alles privat. „Wir waren an vielen Orten ganz alleine“, sagt sie: „Die Bewohner waren auf freiwillige Helfer angewiesen.“ Eine Frage lässt Emily Miller von der Osten deshalb nicht mehr los: Tut Deutschland genug für den Katastrophenschutz? Und: Sind wir ausreichend für kommende Katastrophenlagen aufgestellt?
WDR-Reporterin Madelaine Meier hat für sie nach Antworten gesucht:
Katastrophenschutz ist ein Gemeinschaftsprojekt. Jede und jeder Einzelne kann sich auf Naturkatastrophen und Unglücke vorbereiten. Lernen können wir dabei vor allem von Ländern, in denen es regelmäßig zu größeren Katastrophen kommt, von Schwellen- und Entwicklungsländern wie Indonesien zum Beispiel. „Weil dort die direkte Gefahr durch eine jährliche Überflutung noch stärker in den Köpfen ist, gibt es dort auch ein größeres Bewusstsein dafür“, sagt Simone Sandholz von der United Nations University in Bonn. Das führe dazu, dass dort auch der Schutz auf der individuellen Ebene besser aufgebaut werde.
Der Fachbegriff für die vermeintliche Sicherheit, in der wir uns in Deutschland hingegen oft wähnen und deshalb nicht auf einen Notfall vorbereiten, nennt man „Verwundbarkeitsparadoxon“: „Wenn wir in Deutschland in den letzten Jahrzehnten Katastrophen erlebt haben, waren sie eher selten oder auch lokal begrenzt“, sagt Ina Wienand vom BBK. „Von daher haben die Leute nicht unbedingt das Gefühl, ein großes Maß an Vorsorge betreiben zu müssen.“
Dabei ist genau diese Vorsorge relativ leicht zu bewerkstelligen. Auch weil der Rahmen, in dem sie sich bewegt, überschaubar ist. In erster Linie geht es darum, einen Grundvorrat an Lebensmitteln immer im Haus zu haben. Als Ziel gibt das BBK aus, zehn Tage ohne Einkaufen überstehen zu können.
Neben Nahrung sollte auch jede und jeder eine Grundausrüstung an Hygieneartikeln, Verbandsmaterial und Medikamenten vorrätig haben. Auch sollte man für Notfälle wie einen Stromausfall oder ein Feuer, das nach einem Katastrophenfall ausbrechen kann, gewappnet sein.
Eine komplette Einkaufsliste gibt es auf der Seite des BBK als pdf, eine noch detailliertere Vorratstabelle hier. Mit Broschüren zur Notfallvorsorge in bestimmten Katastrophensituationen und gezielten Kampagnen will das BBK die Menschen in Deutschland stärker für das Thema sensibilisieren.
Über die Bedeutung des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes in Deutschland sind sich fünf der sechs Parteien, die aktuell im Bundestag vertreten sind, weitestgehend einig. Unterschiede gibt es jedoch darin, wie er gestärkt und für künftige Herausforderungen aufgestellt werden soll.
Union, SPD, FDP, Linke und Grüne glauben, dass der Katastrophenschutz in den Ländern und dort in den Kommunen gut angesiedelt ist. Dort kennen sich die Einsatzkräfte aus, wissen um die örtlichen Begebenheiten und können im Ernstfall am effektivsten helfen.
Diese örtliche Kompetenz könne laut Wahlprogramm von CDU und CSU gestärkt werden, wenn es beispielsweise klarere Regeln im Katastrophenfall gebe. Zuständig für diese könnte dann das BBK sein. „Das kann sein, dass man zum Beispiel bei der höchsten Wetterwarnstufe eine Regelung einzieht, dass es vor Ort kein Ermessen gibt, ob man warnt oder nicht. Es gibt dann sozusagen eine Warnpflicht“, sagt Andrea Lindholz (CSU), Vorsitzende des Ausschusses für Inneres und Heimat im Bundestag in einer Diskussionsrunde des Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge (DKKV).
Die Grünen schlagen vor, dass das BBK im Krisenfall konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet, mit denen vor allem kleine, kommunale Leitstellen entlastet werden. Die Partei kann sich, genau wie die FDP und die SPD, eine Grundgesetzänderung vorstellen, um die strikte Aufteilung zwischen Zivil- und Katastrophenschutz aufzuheben und eine ressortübergreifende Stelle auf Bundesebene zu schaffen. Das mit mehr Kompetenzen ausgestattete Bundesamt solle dann in erste Linie die Strukturen und die Koordination zwischen Bund und Ländern verbessern.
So könne auf Bundesebene auch die Bevorratung mit bei Katastrophen benötigter Schutzausrüstung - beispielsweise medizinische Masken während einer Pandemie - verbessert und das System der digitalen Warnsysteme optimiert werden, schlägt die FDP vor. Die Freidemokraten wollen zudem konkrete Anreize schaffen, um das Ehrenamt wieder attraktiver zu machen. Laut Wahlprogramm wollen sie etwa junge Menschen bei der Vergabe von Studienplätzen bevorzugen, die sich ehrenamtlich engagieren.
Das wiederum geht der Linken nicht weit genug. Sie fordert, dass der Staat für Menschen, die ehrenamtlich für Feuerwehr, THW und Rettungsdienste arbeiten, Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt. Und auch die Einsatzkräfte vor Ort sollen finanziell und materiell besser ausgestattet werden.
Einzig die AfD äußert sich weder in ihrem Wahlprogramm noch auf Anfrage zum Thema Katastrophenschutz, was auch damit zusammenhängen könnte, dass sie den menschgemachten Klimawandel in Frage stellt. Die Partei bezweifelt, dass die globale Erwärmung nur negative Folgen habe. „Die Menschheitsgeschichte belegt, dass Warmzeiten immer zu einer Blüte des Lebens und der Kulturen führten“, heißt es im AfD-Wahlprogramm.
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