Bei der Hochwasser-Katastrophe 2021 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen starben allein an der Ahr 135 Menschen - einer gilt auch drei Jahre später noch als vermisst. Wie konnte es dazu kommen? Eine Rekonstruktion der Flut-Ereignisse im Ahrtal mit Pegelständen, behördlichen Warnungen und Erlebnissen des Gastronomen Michael Lang. Er bekam die Katastrophe am eigenen Leib zu spüren und dokumentierte sie in Videos. Drei Jahre nach der Flut berichtet er, wie es ihm geht.
Von Jörn Seidel, Han Lay (Animationen) und Merle Göddertz (Recherche)
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Juli 2021: Die Tische sind dekoriert, der Wein steht bereit. Für die Eröffnung seiner Ahr-Vinothek hat Michael Lang so gut wie alles vorbereitet. Das Haus im kleinen Marienthal mit Garten und Terrasse direkt an der Ahr hat der Gastronom erst vor neun Monaten gekauft. Im Obergeschoss ist seine Wohnung. Im Erdgeschoss hat er ein halbes Jahr lang renoviert. Zwei Wochen noch, dann sollen die ersten Gäste kommen.
Doch dann beginnt es zu regnen. Und das Wasser der Ahr beginnt zu steigen.
Dieses Video zeigt die Überschwemmungen am 14. und 15. Juli 2021 an der Ahr. Datenbasis: Copernicus-Satellitendaten und Karlsruher Institut für Technologie:
Am Morgen des 14. Juli 2021 warnt der Deutsche Wetterdienst (DWD) vor "extremem Unwetter" mit Dauerregen und Starkregen in weiten Teilen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Schon am 12. Juli, also zwei Tage zuvor, warnte die Behörde die Bevökerung vor "großen Regenmengen" in "den nächsten Tagen" – und informierte die Hochwasserzentralen der Länder. Das Europäische Flutwarnsystem EFAS warnte die deutschen Behörden bereits am 10. Juli vor "Überschwemmungen im Einzugsgebiet des Rheins".
Screenshot eines Videos des Deutschen Wetterdienstes mit Unwetterwarnungen, Stand Mittwoch, 10.52 Uhr.
Etwa 11.00 Uhr: Der Hochwassermeldedienst des Landesumweltamtes Rheinland-Pfalz ruft die zweithöchste Warnstufe aus.
11.17 Uhr: Das Landesumweltamt gibt die zweithöchste Warnstufe (rot, "hohe Hochwassergefährdung") über die Katwarn-App heraus. Es warnt die Bevölkerung und andere Behörden vor "schnell ansteigenden Wasserständen".
14.30 Uhr: Der Wasserstand am Pegel Altenahr ist bereits auf 1,38 Meter angestiegen. Normalerweise liegt er deutlich unter einem Meter.
14.34 Uhr: Die Kreisverwaltung Ahrweiler warnt die Bevölkerung über die Katwarn-App, es sei "örtlich mit Überschwemmungen zu rechnen". Man solle "bei Überschwemmungsgefahr nicht in Keller und Tiefgaragen" gehen.
15.26 Uhr: Das Landesumweltamt prognostiziert, dass bei diesem Hochwasser ein bedrohlicher Höchststand erreicht werden könnte: 5,19 Meter am Pegel Altenahr. Der höchste Stand in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde dort 2016 mit 3,71 Metern gemessen.
Etwa 16.00 Uhr: Michael Lang steht mit Regenschirm im Garten seiner Ahr-Vinothek in Marienthal. Ende Juli will er das Weinlokal eröffnen. Der Dauerregen lässt die Ahr stark ansteigen. Der Gastronom hat eine schlimme Vorahnung.
16.20 Uhr: Die Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr, Cornelia Weigand, ruft beim Landratsamt dazu auf, den Katastrophenfall auszurufen. Doch das geschieht noch lange nicht.
17.17 Uhr: Das Landesumweltamt ruft über die Katwarn-App die höchste Warnstufe aus: violett.
An der Ahr und ihren Zuflüssen ist die Hochwassergefahr sehr groß. Innerhalb der nächsten 24 Stunden ist mit Sturzfluten und Überflutungen zu rechnen.
Karte des Landesumweltamtes Rheinland-Pfalz: Höchste Hochwasser-Warnstufe (violett) für das Gebiet der Ahr.
17.40 Uhr: Die Kreisverwaltung Ahrweiler ruft die zweithöchste Alarmstufe aus, obwohl die Hochwasser-Warnstufe des Landesumweltamtes da schon die höchste ist. In einer Pressemitteilung des Kreises heißt es:
Die technische Einsatzleitung (Feuerwehr, Technisches Hilfswerk, DRK, Polizei und Verwaltungskräfte der Kreisverwaltung) unterstützt den Brand- und Katastrophenschutz-Inspekteur des Kreises, Michael Zimmermann, der um 17:40 Uhr die überörtliche Einsatzleitung übernommen hat, da Alarmstufe 4 ausgerufen wurde.
Mittlerweile hat die Kreisverwaltung in ihrem Gebäude in Bad Neuenahr-Ahrweiler einen Krisenstab eingerichtet.
Etwa 18.00 Uhr: Michael Lang meldet sich erneut aus dem Garten seiner Ahr-Vinothek in Marienthal. Mittlerweile besorgt ihn das Hochwasser sehr.
18.25 Uhr: Das Landesumweltamt senkt seine Pegelstand-Prognose auf vier Meter, gibt allerdings keine Entwarnung. Vorausgegangen ist eine reduzierte Regenprognose des Deutschen Wetterdienstes.
Später wird sich Jürgen Pföhler (CDU), Landrat des Kreises Ahrweiler, auf die gesunkene Pegel-Prognose berufen, um zu erklären, warum der Kreis erst spät weitreichende Maßnahmen ergriffen hat.
19.20 Uhr: Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) trifft in der Einsatzzentrale des Krisenstabs ein. Dort ist auch Landrat Pföhler.
Das Bild zeigt u.a. Minister Lewentz (links), Katastrophenschutz-Inspekteur Zimmermann (2. v. l.) und Landrat Pföhler (rechts).
Gegen 19.30 Uhr: Innenminister Lewentz verlässt die Einsatzzentrale. Später wird er sagen: Er habe bei seinem Besuch den Eindruck gehabt, dass im Krisenstab "ruhig und konzentriert" gearbeitet werde. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) reagiert auf die Krisensituation im Ahrtal an diesem Tag nicht - die Landesregierung verzichtet auf eine eigene Warnmeldung über die Medien.
19.30 Uhr: Der Pegelstand in Altenahr hat den Höchststand von 2016 nun tatsächlich übertroffen.
19.57 Uhr: Das Landesumweltamt hebt seine Pegelstand-Prognose wieder deutlich an: auf 5,30 Meter.
Etwa 20.00 Uhr: Michael Lang steht im Garten der Ahr-Vinothek mittlerweile tief im Wasser.
20.43 Uhr: Das Landesumweltamt erhöht seine Pegelstand-Prognose auf 6,81 Meter.
20.45 Uhr: Der Pegel in Altenahr zeigt bereits einen Wasserstand von 5,75 Metern an. Es ist das letzte Mal bei diesem Hochwasser, dass für Altenahr ein genauer Wert vorliegt. Danach fällt offenbar zunächst der Strom aus. Die Messstation liefert keine Daten mehr. Später zeigt sich: Die Pegellatte ist irgendwann zusammen mit dem kleinen Häuschen, an dem sie angebracht war, von den Wassermassen abgerissen und weggeschwemmt worden.
Die Reste der Pegellatte und Messstation in Altenahr nach dem Hochwasser.
20.56 Uhr: Die Kreisverwaltung Ahrweiler schreibt bei Twitter, dass mit weiteren "Sturzfluten und Überflutungen" zu rechnen ist. Als "aktuellen Pegelstand" in Altenahr nennt sie 5,09 Meter – mehr als einen halben Meter unter dem jüngsten Messwert.
Etwa 21.20 Uhr: Michael Lang nimmt ein letztes Video in Marienthal auf. Dann flüchtet er vor der Flut.
Etwa 22.00 Uhr: Der Krisenstab in Bad Neuenahr-Ahrweiler bemerkt mutmaßlich erst jetzt, dass sich der Pegel in Altenahr nicht mehr verändert.
23.09 Uhr: Der Kreis Ahrweiler löst über die Katwarn-App die höchste Warnstufe und damit den Katastrophenalarm aus. Die Verwaltung ruft zur Teil-Evakuierung auf:
Aufgrund der starken Regenereignisse sollen die Bewohnerinnen und Bewohner der Städte Bad Neuenahr-Ahrweiler, Sinzig und Bad Bodendorf, die 50 m rechts und 50 m links von der Ahr wohnen, ihre Wohnungen verlassen.
Der Aufruf reicht bei Weitem nicht aus. Auch in anderen Orten gibt es große Überschwemmungen. Wie Satellitenbilder später zeigen, werden sogar Häuser im Umkreis von 250 Metern überflutet.
Dernau, 15. Juli - weite Teile der Ortschaft sind überschwemmt.
Etwa 23.15 Uhr: Michael Lang hat das Haus in Marienthal verlassen und ist nun vier Kilometer flussabwärts in Bad Neuenahr-Ahrweiler angekommen. Dort betreibt er eine Weinhandlung mit Ausschank. In der Altstadt dreht Lang ein letztes Video an diesem Mittwoch. Von den Warnungen der Kreisverwaltung, die ihren Sitz gleich um die Ecke hat, oder von einem Sirenenalarm bekommt er an diesem Tag nichts mit, wie er dem WDR später sagt.
0.22 Uhr: Vielerorts im Ahrtal hat es längst aufgehört zu regnen. Der Deutsche Wetterdienst warnt jedoch schon wieder vor starken Regenfällen.
Im Ahrtal herrscht mittlerweile Chaos. Überall, wo es möglich ist, versuchen Einsatzkräfte, Menschen vor der Flut zu retten. Seit der Katastrophenfall ausgerufen wurde, helfen auch Bundeswehr und Bundespolizei mit. Nicht wenige Menschen verbringen die Nacht auf dem Dach.
In der Nacht liegt der Wasserstand in Altenahr nach Schätzungen des Landesumweltamtes über 7,00 Metern. "Waren es acht oder neun Meter? Es kann keiner sagen", wird ein Sprecher der Behörde dem WDR später sagen. Mit Hinweisen aus der Bevölkerung und Abflussdaten aus anderen Messstationen will das Amt den Höchststand im nachhinein berechnen.
Etwa 6.00 Uhr: Michael Lang steht am Marktplatz Ahrweiler. Noch immer ist alles überflutet - also nicht nur sein Haus in Marienthal, sondern auch sein Ladenlokal.
6.39 Uhr: Der Kreis Ahrweiler verschickt über die Katwarn-App eine weitere Hochwasser-Warnung. Darin ist von einer Trinkwasserknappheit die Rede:
In der Ortslage Bad Bodendorf kommt es derzeit durch die extreme Hochwasserlage zu massiven Einschränkungen in der Trinkwasserversorgung. Die Bevölkerung wird aufgefordert, mit dem Trinkwasser äußerst sparsam umzugehen.
Bei Tageslicht werden die immensen Überflutungen im Ahrtal deutlich sichtbarer. Das Einsatzgebiet erstreckt sich über 40 Kilometer links und rechts der Ahr.
Etwa 8.00 Uhr: Von einem Weinhang in Marienthal blickt Michael Lang auf sein Haus herab, das wie eine Insel in der Ahr liegt. Er sorgt sich um seine Nachbarn.
10.27 Uhr: Die Kreisverwaltung Ahrweiler teilt bei Twitter mit, dass sie derzeit von rund 1.300 Vermissten ausgehe. Etwa 3.500 Menschen seien in Betreuungseinrichtungen untergebracht.
Am Vormittag gibt es eine Pressekonferenz mit Landrat Pföhler, Innenminister Lewentz und anderen. Dabei stellt Pföhler fest:
Dieses Hochwasser ist die größte Katastrophe im Kreis Ahrweiler seit dem Zweiten Weltkrieg.
Etwa 17.00 Uhr: Noch einmal ist Michael Lang zum Weinhang in Marienthal zurückgekehrt. Von dort erblickt er nun das volle Ausmaß der Verwüstung. Nicht nur die Ahr-Vinothek wurde vom Hochwasser zerstört, sondern auch seine Wohnung im Obergeschoss.
Samstag: Blick über Marienthal. Zerstörte Häuser, Schlamm und Schutt. So wie hier sieht es in vielen Orten im Ahrtal aus. Während die Suche nach Vermissten weitergeht, haben die Aufräumarbeiten bereits begonnen.
18. April 2024: Die Staatsanwaltschaft Koblenz stellt die Ermittlungen gegen den ehemaligen Landrat Jürgen Pföhler wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung ein. Der Vorwurf: Er habe in der Flutnacht zu wenig getan, um die Menschen im Ahrtal zu retten.
19. Juni 2024: Malu Dreyer erklärt ihren Rücktritt als Ministerpräsidentin. Die Flut-Katastrophe bezeichnet sie in diesem Zusammenhang als "eine schmerzhafte Zäsur" in ihrem Leben. Im Zuge der Aufarbeitung der Flut-Katastrophe warf ihr die Opposition im rheinland-pfälzischen Landtag schwere Versäumnisse vor.
11. Juli 2024: Der Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags beschließt seinen Abschlussbericht. Im August soll er veröffentlicht und im September im Parlament diskutiert werden. Fast drei Jahre lang ging der Ausschuss der Frage nach, wie es zu der Flut-Katastrophe im Ahrtal kommen konnte. Aber noch immer bleibt die Frage nicht restlos geklärt: Warum mussten im Ahrtal so viele Menschen sterben?
Klar ist zumindest der Grund für das Hochwasser: Mit dem Sturmtief "Bernd" fiel im Einzugsgebiet der Ahr an nur einem Tag mehr Regen als sonst durchschnittlich im ganzen Monat Juli fällt.
Aber warum regnete es so viel? Lag es am Klimawandel? Das lasse sich bei einzelnen Ereignissen nicht genau bestimmen, sagen Klimaforscher. Ihre Erkenntnisse zeigen allerdings: Extremwetter-Ereignisse werden durch die vom Menschen gemachte Erderwärmung stärker - und kommen häufiger vor.
12. Juli 2024: Der Opferbeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz teilt auf WDR-Anfrage mit: Ein Mensch aus dem Ahrtal gilt immer noch als vermisst. Eine Todeserklärung durch die Hinterbliebenen sei nicht beabsichtigt.
Ein anderer Vermisster wurde genau zwei Jahre nach der Flut für tot erklärt: Franky Neufeld fiel mit 22 Jahren dem Hochwasser zum Opfer. Wenige Monate später wurden seine Überreste gefunden.
Drei Jahre nach der Hochwasser-Katastrophe dauert der Wiederaufbau im Ahrtal an.
Michael Lang ließ sich nicht unterkriegen. Einige Wochen nach der Flut sagte er dem WDR: Trotz Schutt und Schaden wolle er die Ahr-Vinothek doch noch irgendwann eröffnen.
Dieses Stückchen Erde hat es verdient, wieder zum Leben erweckt zu werden.
Es ist ihm gelungen. Zu Ostern 2022 konnte Lang seine Ahr-Vinothek in Marienthal tatsächlich eröffnen. "Man darf sich nicht hängen lassen", erzählte er wenig später dem WDR. Auch sein damals zerstörtes Wein-Ladenlokal am Marktplatz Ahrweiler konnte er wiedereröffnen.
Das Haus der Ahr-Vinothek in Marienthal ist aber auch drei Jahre nach der Flut immer noch eine Ruine. Das Gutachten vom Architekten lasse weiter auf sich warten, berichtet Lang. Ohne Gutachten kein Antrag auf staatliche Hilfsleistungen. Und ohne Hilfsleistungen kein Wiederaufbau. Michael Lang zeigt sich frustriert - auch darüber, dass der Wiederaufbau vielerorts im Ahrtal nur schleppend vorangehe und der Tourismus sich folglich nicht erhole. Trotzdem: Ihm selbst gehe es gut, sagt er.
Die Terrasse der Ahr-Vinothek ist jedes Jahr von April bis Oktober samstags und sonntags als Gastronomie geöffnet. Im Haus selbst ist eine Ausstellung zu sehen: Bilder, Videos und Objekte erinnern an die Flut.
Die Ahr-Vinothek zur Eröffnung im April 2022. Auf dem Plakat , das dort auch im Juli 2024 noch hängt, zeigt eine Linie, wie hoch das Wasser hier in der Flutnacht stand: 9,24 Meter.
Die Freude über diesen Ort an der Ahr hat Michael Lang bis heute nicht verloren. "Nach und nach holt sich die Natur alles zurück", sagt er und schwärmt vom Plätschern des Flusses, von Kormoranen und von den Weinbergen. "Es ist der schönste Ort, um zu verweilen."
Zur Übersicht: Multimedia-Reportagen im WDR
Autor/Konzept/Produktion: Jörn Seidel
Vorrecherche: Merle Göddertz
Animationen: Han Lay
Redaktion: Axel Klauwer, Raimund Groß, Jeanette Erfurth, Julia Linn
Fotos: ddp/Geisler/Christoph Hardt, dpa/Philipp von Ditfurth, DWD, Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz, Michael Lang, Struktur- und Genehmigungsdirektion (SGD) Nord, WDR, picture alliance/Geisler-Fotopress, Google Earth
Erstervöffentlichung: 10.09.2021, zuletzt aktualisiert: 12.07.2024