Tanja Burkova, 38, ist im sechsten Monat schwanger, als der Krieg in der Ukraine ausbricht. Sie flieht mit ihrer Mutter und ihren Kindern nach Hagen, muss ihren Mann und ihren Vater in Krementschuk zurücklassen. Hier erzählt sie vom Alltag im Krieg, der schwierigen Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen, und der Sehnsucht nach Mann und Papa.
Protokoll: Tasja Demel
„Jeden Tag heulen die Sirenen in Krementschuk. Wenn es dort einen Luftalarm gibt, bekomme ich hier in Hagen eine Nachricht auf mein Handy. Warum sollte ich sie abbestellen? Mein Mann und mein Vater sind ja noch dort. Sie sagen zwar immer, dass es ruhig ist, aber jeden Tag bekomme ich diese Warnungen. Ich hätte nicht gedacht, dass man sich an die Sirenen gewöhnen kann, aber sie gehen nicht mehr jedes Mal in einen Unterschlupf.
Ich war mir so sicher, dass es keinen Krieg geben wird. Wir wussten zwar, dass russische Truppen an der Grenze standen, aber ich konnte mir einen Krieg einfach nicht vorstellen. Wir haben uns nicht darauf vorbereitet; Freunde von mir haben sogar noch einen Urlaub in der Türkei geplant.
Am 24. Februar rief uns am frühen Morgen ein Fahrer aus der Firma meines Mannes an. Er war auf dem Weg nach Kiew, aber konnte nicht mehr rein in die Stadt. Er sagte, es gäbe einen Luftangriff und dass der Boden beben würde. Es war ein seltsames Gefühl um die Uhrzeit, wir waren noch nicht ganz wach. Ich habe die Kinder dann noch ein bisschen schlafen lassen. Aber ab diesem Moment haben wir den Fernseher nicht mehr ausgeschaltet.
„Nach Kriegsbeginn habe ich so getan, als ob nichts wäre“
Den ersten Luftalarm in Krementschuk gab es einen Tag später. Zuerst waren wir uns gar nicht sicher, ob es ein echter Alarm war oder nur eine Übung. Wir wussten auch nicht, wo wir überhaupt hingehen sollten. In der Nähe unseres Hauses steht eine Fabrik, die einen Schutzraum hat. Aber sie ist mehr als zehn Minuten entfernt. Wir haben uns dann mit unseren Nachbarn in unserem Keller eingerichtet. Sie kommen immer noch dahin, wenn die Sirenen wieder heulen.
In der ersten Zeit nach Kriegsbeginn habe ich so getan, als ob nichts wäre. Meine Firma hat mir freigegeben. Ich war zuhause und habe gekocht, mich um die Kinder gekümmert. Mein Mann ist einfach weiter zur Arbeit gegangen. Trotzdem haben wir uns viele Gedanken darüber gemacht, was wir tun sollten.
Es war mein Vater, der uns dazu gedrängt hat, die Stadt zu verlassen. Die Entscheidung ist mir schwergefallen, aber ich musste an meine Kinder und an meine Gesundheit denken. Ich bin im siebten Monat schwanger und brauche bald medizinische Hilfe. In Krementschuk konnten damals schon einige Behandlungen nicht mehr in den Krankenhäusern durchgeführt werden. Und meine Kinder: Wie viel Stress würden sie ertragen?
Im Gepäck: Pulli, T-Shirt, Laptop, Handy - und eine Puppe
Am 3. März haben wir die Stadt verlassen. Meine Mutter hat verschiedene Busunternehmen angerufen und gefragt, ob sie Menschen zur Grenze fahren. Morgens um sieben sollten wir am Abfahrtsort sein. Alles ging so schnell.
Wir haben nur das Nötigste gepackt: jeder einen Pulli, ein T-Shirt, einen Laptop und unsere Handys. Meine Tochter hat noch eine Puppe eingepackt, die sie in der Schule gemacht hat. Eine Motanka, eine traditionelle ukrainische Wickel-Puppe, die Glück bringen soll.
Meine Mutter ist mit uns gekommen, wegen der Kinder, sagt sie, und um mich zu unterstützen. Mein Vater ist 62, er hätte auch ausreisen dürfen. Aber er wollte bei seinem Hund bleiben, und weil er das Haus beschützen will.
Der Abschied von meinem Mann und meinem Vater war nicht so, wie man sich das im Film vorstellt. Wir haben nicht viel geredet, standen auf dem Parkplatz, sie waren recht reserviert. Wir wussten ja auch gar nicht so genau, ob wir überhaupt einen Platz bekommen würden und wohin die Reise am Ende geht.
Zwölf Stunden Wartezeit an der polnischen Grenze
Über zwölf Stunden waren wir mit dem Bus unterwegs, nur zweimal haben wir kurz gestoppt. An der Grenze zu Polen mussten wir aussteigen und uns in eine Schlange stellen, um die Grenze zu Fuß zu überqueren. Nochmal fast zwölf Stunden. Das war der härteste Teil der Flucht.
Auf der anderen Seite haben uns Menschen aus Bydgoszcz empfangen, der polnischen Partnerstadt von Krementschuk. 700 Kilometer sind sie für uns gefahren, um uns in die Stadt zu holen. Auf dem Weg dorthin haben wir eine Nachricht von einer alten Bekannten meiner Mutter bekommen. Sie wohnt schon lange in Deutschland und hatte für uns eine Familie gefunden, die uns aufnehmen wollte. Wir haben kostenlose Tickets für die Bahn bekommen und sind über Berlin nach Hagen gefahren.
Familie Kalthaus hat uns sehr unterstützt, hat Kleidung und einen Deutschlehrer für uns organisiert, der uns am Wochenende die Sprache beibringt. Als meine Mutter Geburtstag hatte, haben sie ein Kaffeekränzchen für sie veranstaltet.
Vier Wochen sind wir inzwischen hier. Eine Woche davon waren wir krank, vom Stress wahrscheinlich. Dann hat es sich für ein paar Tage so angefühlt, als wären wir im Urlaub. Diese Zeit aber ist vorbei. Das Wochenende ist besonders hart, weil mein Mann dann zu Hause wäre und etwas mit uns unternehmen würde. Wir erwarten fast, dass er irgendwann durch die Tür kommt.
„Wir reden nicht viel über den Krieg“
Der Schmerz kommt und geht in Wellen. Ich denke daran, dass ich hierbleiben muss, damit die Familie in Sicherheit ist. Aber abends oder früh morgens merke ich: Das hier ist nicht mein richtiges Leben.
Ich möchte so schnell wie möglich zurück in die Ukraine. Ich weiß aber nicht, wann das möglich sein wird. Der Geburtstermin für meinen Sohn ist Ende Juni. Vielleicht ist dann noch Krieg.
Die Kinder haben wieder ukrainischen Unterricht über Zoom, wie während der Corona-Zeit. Ich hoffe sehr, dass sie das Jahr abschließen können. Viele Lehrer sind noch in der Ukraine. Und wenn sie geflohen sind, sagen sie das nicht.
Ich telefoniere regelmäßig mit meinem Mann. Er geht ganz normal zur Arbeit, wie viele in der Ukraine. Sie wollen Steuern zahlen, um das Land zu unterstützen. Wir reden nicht viel über den Krieg, eher über Alltägliches. Was er gekocht hat, wie es dem Hund geht. Und ich erzähle, wie es uns geht. Er ist das, was ich am meisten an meinem alten Leben vermisse. Meine Tochter hatte kürzlich Geburtstag, und ich habe sie gefragt, was sie sich wünscht. Sie hat gesagt: meinen Papa.“
Die WDR Lokalzeit Dortmund hat am 9. März 2022 über die Geschichte von Tanja Burkova berichtet, WDR aktuell auf Facebook. Sehen Sie, wo sie und ihre Familie in Hagen Zuflucht gefunden haben: