Vor der Bundestagswahl hat der WDR die Menschen in NRW gefragt, was sie sich von der nächsten Bundesregierung wünschen und welche Probleme am dringendsten behandelt werden sollten. Bei der Online-Befragung "Deutschland, wo brennt's?" haben wir etwa 7.000 Antworten bekommen. Flucht und Migration, Wirtschaft und Wohlstand sowie Krieg und Frieden gehören laut ARD-DeutschlandTrend zu den wichtigsten Themen vor der Bundestagswahl. Ihnen widmen wir uns ausführlich an drei Thementagen.
Für den WDR-Thementag "Krieg und Frieden" am 5. Februar 2025 haben wir unter anderem Menschen auf der Straße angesprochen. Außerdem haben wir mit einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Online-Befragung länger darüber gesprochen, was sie bei diesem Thema besonders umtreibt.
Drei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine wühlt das Thema Krieg und Frieden die Menschen weiterhin auf. Wie können Friedensgespräche zum Erfolg kommen? Mit mehr Waffenlieferungen? Oder einem Waffenstopp? Sind wir in Deutschland sicher? Sollten wir aufrüsten? Die Wehrpflicht wieder einführen? Auslandseinsätze beenden? Uns anders positionieren zum Krieg in Nahost?
Darauf geben die Parteien in ihren Wahlprogrammen zur Bundestagswahl zum Teil sehr unterschiedliche Antworten. Beispiel Waffenlieferungen an die Ukraine: Das BSW fordert den Stopp. "Die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln lehnen wir grundsätzlich ab." Auch die Linke will Verhandlungen ohne weitere Militärhilfe. "Wir lehnen Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete ab." Die AfD schweigt sich im Wahlprogramm zu deutschen Waffenlieferungen aus. Sie fordert eine "sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland".
Für eine "starke Position" in künftigen Friedensgesprächen wollen die Grünen weitere Waffenlieferungen. Auch die SPD will weiter Waffen liefern - nur keine Taurus-Marschflugkörper, damit "Deutschland und die NATO nicht selbst zur Kriegspartei werden". Die FDP will Taurus liefern, denn die Ukraine brauche "weitreichende Waffen" zur "Verteidigung gegen Abschussbasen und Nachschublinien auf russischer Seite". Auch CDU/CSU wollen die Ukraine weiter mit Waffen unterstützen, und zwar "mit allen erforderlichen".
🔗 Was steht in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl? - WDR.de
Die Sicherheitspolitik spielt für die Menschen offenbar eine wichtige Rolle bei der Frage, welcher Partei sie bei der Bundestagswahl am 23. Februar ihre Stimme geben. Im ARD-DeutschlandTrend nennen sie "Bewaffnete Konflikte / Frieden / Außenpolitik" an dritter Stelle der wichtigsten Probleme - nach "Zuwanderung / Flucht" und "Wirtschaft".
🔗 ARD-DeutschlandTrend vom Januar 2025 - tagesschau.de
An der WDR-Befragung "Deutschland, wo brennt’s?" nahmen im Dezember 2024 etwa 7.000 Menschen aus fast allen Regionen Nordrhein-Westfalens teil. Bei unseren Rückfragen und ausführlichen Gesprächen hat sich gezeigt: Das Thema lässt niemanden kalt. Jede und jeder scheint sich dazu viele Gedanken zu machen.
🔗 Diese Themen beschäftigten NRW vor der Bundestagswahl - WDR.de
Über die aktuelle Sicherheitspolitik, über Wünsche und Forderungen an die nächste Bundesregierung und über sehr persönliche Gedanken zu Krieg und Frieden haben wir mit vier Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Befragung ausführlicher gesprochen:
Die Ukraine brauche dringend mehr Waffen vom Westen, sagt Tobias aus Neuss am Niederrhein. "Ich bin für Frieden", so der 39-Jährige, aber nicht um jeden Preis. Was wäre das für ein Frieden, wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land opfern und sich dem Aggressor unterwerfen würden?, gibt der Bio- und Geschichtslehrer an einer Gesamtschule zu bedenken.
Der Krieg in der Ukraine bewegt Tobias in besonderer Weise. Seine Frau ist gebürtige Ukrainerin, heute Deutsche. Sie kam vor mehr als zehn Jahren als Spätaussiedlerin, ist heute ebenfalls Lehrerin. Gemeinsam haben sie einen sechsjährigen Sohn.
Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, sei seine Frau "völlig erschlagen" gewesen. Freunden aus der Ukraine sagten sie am Telefon: "Seht zu, dass ihr das rauskommt!" Eine Familie flüchtete nach Warschau. Von dort holten Tobias und seine Frau sie mit dem Auto nach Neuss.
Der "Verbrecher Putin" verstehe nur "die Sprache des Stärkeren", sagt Tobias. "Bei meinen Schülern läuft das so: Macht einer Mist, wird er ermahnt. Hört er damit nicht auf, hat das Konsequenzen, die dazu führen, dass er das nicht mehr tut. So müsste das auch mit Putin geschehen." Die "schleppenden Waffenlieferungen", "diese Salamitaktik", auch jetzt noch - das sei fatal.
Die NATO und der Westen hätten schon von Anfang an alles geben sollen.
"Auch wir sind längst mit Russland im Krieg", sagt er. Das sehe man an durchtrennten Unterseekabeln, Ausspähungen und Cyberangriffen. "Wenn wir jetzt nichts tun, geht das nach hinten los."
Weniger entschieden ist Tobias, was Israel und den Gazastreifen angeht. "Meine Schüler fragen mich in ihrer Art: Für wen bist du?" Aber so einfach sei das nicht. Er könne sowohl die Israelis als auch die Palästinenser verstehen. Dass sich Außenministerin Baerbock gleich nach dem Terror-Großangriff der Hamas klar an die Seite Israels stellte, später aber auch Israels militärischen Kurs kritisierte, hält Tobias für richtig.
Von der künftigen Bundesregierung verlangt er mehr Ausgaben für die Verteidigung. "Die Merkel-Regierung hatte bei der Bundeswehr alles zusammengespart." Aber auch Scholz habe geschwächelt:
Man hätte nicht nur von der Zeitenwende reden, sondern sie auch umsetzen sollen.
Gerade auch mit Blick auf die Trump-Regierung in den USA, die sich im Verteidigungsbündnis NATO weniger engagieren will, sagt Tobias: Deutschland sollte als bevölkerungsreichstes und wirtschaftsstärkstes Land in Europa militärisch "eine Führungsrolle" einnehmen - an der Seite seiner Partner.
Dem Vorschlag, den Wehr- und Zivildienst wieder einzuführen, kann Tobias etwas abgewinnen. Ob das den Aufwand lohnt, könne er zwar nicht einschätzen. Aber vielen seiner Schülerinnen und Schülern täte mehr Disziplin ganz gut, meint er.
Er selbst war damals Zivildienstleistender in einer Jugendherberge. "Mittlerweile würde ich mich für die Bundeswehr entscheiden." Angesichts der heutigen Sicherheitslage hat Tobias schon überlegt, Reservist zu werden. Gedient haben muss man dafür nicht.
Die künftige Bundesregierung solle zu Israel und dem Gazastreifen eine klarere Haltung einnehmen, fordert Nicole aus Paderborn. Für die 37-Jährige steht zwar außer Frage, dass Israel ein Recht auf Verteidigung habe und gegen die Terroristen der Hamas vorgehen müsse. Aber das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung wird aus ihrer Sicht viel zu sehr ignoriert. Vor allem eines geht ihr nah:
Ich bin schockiert, dass so viele Kinder gestorben sind.
Auch wenn die israelische Armee Ziele der Hamas treffen wolle, dürfe sie nicht Krankenhäuser bombardieren und "Kinder abschlachten", sagt Nicole. Die Bundesregierung müsse darauf anders reagieren als bisher: "Ich glaube, da hat Deutschland eine ganz quere Meinung zu, dass wir uns da zurückhalten."
Nicole ist selbst in einem bewaffneten Konflikt aufgewachsen. Sie hat irische Wurzeln, ist in Belfast zur Schule gegangen. In der Hauptstadt Nordirlands bekämpften sich jahrzehntelang Katholiken und Protestanten.
"Das Thema Krieg und Frieden ist bei mir immer auf dem Radar", sagt Nicole. Sie studierte katholische Theologie, begann eine Doktorarbeit in der Friedens- und Konfliktforschung, ließ es dann aber bleiben. Heute ist sie in Paderborn Betriebsleiterin eines Irish Pubs.
Vor zehn Jahren war sie zu einem Studienaustausch in Kiew. "Jetzt wird Kiew bebombt. Ein Krieg bei uns in Europa - wie kann das sein?"
"Die Ukraine muss unterstützt werden, damit sie sich verteidigen kann", sagt Nicole. "Ansonsten wäre das ein ganz fatales Signal an andere Machthaber." Sie dürften sich nicht alles erlauben.
Aber wie weit die Militärhilfe aus dem Westen gehen soll, da ist sie sich unsicher. "Ich kenn mich in Kriegsführung nicht aus." Wichtig sei:
Man muss dahin kommen, dass beide Seiten zu Friedensgesprächen bereit sind.
Putin müsse man zu Friedensgesprächen drängen. Auf die Ukraine hingegen solle der Westen "keinen großen Druck ausüben".
Nicole fühlt sich in Deutschland sicher. Denn sie habe Vertrauen in die NATO. Die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland befürwortet sie. "Ich wünsche es mir anders, aber es ist sinnvoll."
"Armee und Bundeswehr - das war mir früher nie ganz geheuer", sagt Nicole. Heute sieht sie das anders. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht kann sie sich gut vorstellen, sofern man sich auch für einen anderen "Dienst an der Gesellschaft" entscheiden kann.
"Die Bundeswehr sollte einsatzfähig sein", sagt Nicole. Deutschland solle sich militärisch mit Ländern wie Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden "auf Augenhöhe bewegen". Ob aber Auslandseinsätze nötig sind, da ist sie sich unsicher. "Einsätze wie in Mali - ich habe das weltpolitisch nie verstanden."
Vor allem müsse man nicht nur Kriege beenden und zerstörte Orte wieder aufbauen, sagt Nicole. Man müsse den Frieden in der Gesellschaft auch nachhaltig schaffen. Besonders das ist ihr nach ihrer Kindheit in Nordirland wichtig.
"Sind wir bereit, für die Ukraine in einen großen Krieg einzusteigen?", fragt der 34-jährige Umut aus Dortmund. "Ich bin definitiv Pazifist", sagt der ausgebildete Krankenpfleger. Seine Forderung: Die künftige Bundesregierung solle die Waffenlieferungen stoppen.
Deutschland soll sich da raushalten.
"Natürlich haben die Ukrainer ihr Selbstverteidigungsrecht. Wer will ihnen das absprechen? Aber ob dieser Kampf vom Westen unterstützt werden muss, ist eine andere Frage", sagt Umut. Nach drei Jahren Krieg müsse man sich vor Augen führen, was erreicht worden ist.
Erst lieferte Deutschland Helme, dann Panzerabwehrwaffen, später Kampfpanzer und hochmoderne Luftabwehrsysteme. Aus anderen Staaten erhielt die Ukraine Kampfjets - und Kurzstreckenraketen, die offenbar auch in Russland einschlagen. "Bis wohin wollen wir das steigern?", fragt Umut. "Und wie viele Jahre noch?"
Viele Waffenlieferungen habe man als "Gamechanger" angekündigt. "Aber wenn man sich den Frontverlauf anschaut, dann sieht man nicht viel Veränderung", sagt er. "Die Militärhilfe für die Ukraine hat nicht den versprochenen Erfolg gehabt. Das müssen wir uns eingestehen."
"Wo sollen denn auch die Soldaten für die ganzen Waffen herkommen?". Selbst der Einsatz von stärkeren Waffen habe personelle Grenzen, sagt Umut. Die Überlegungen, den Beginn der Wehrpflicht in der Ukraine auf 18 Jahre zu senken, machen dem Vater eines einjährigen Sohnes Sorgen.
Wir müssen uns fragen: Wie kommen wir aus der Misere raus?
Klar sei: "Eine Lösung muss für beide Seiten gesichtswahrend sein", ist Umut überzeugt. "Ansonsten wird der Krieg nicht enden." Daher gehe es nicht anders: Die Ukraine müsse den Russen eroberte Gebiete abtreten. "Leider", betont er.
Russlands Forderung, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, kann er nachvollziehen. Ansonsten wäre das westliche Verteidigungsbündnis nur noch gut 450 Kilometer vom Kreml entfernt. Umut erinnert an die Kuba-Krise 1962: Damals waren es die USA, die in ihrer Nähe keine Sowjet-Raketen duldeten.
Die Entscheidung der Bundesregierung, dass die USA in Deutschland Mittelstreckenraketen stationieren dürfen, hält Umut für falsch. Auch Auslandseinsätze der Bundeswehr lehnt er kategorisch ab. Afghanistan zum Beispiel: "Das hat nichts gebracht."
Die Bundeswehr solle fähig sein, Deutschland zu verteidigen - das ist ihm wichtig. Wenn nötig, müsse man dafür Geld in die Hand nehmen, aber auch genau hinschauen, wofür. "Grundsätzlich ist jeder Euro für Waffen ein Euro zu viel."
Eine Wiedereinführung des Wehrdienstes findet Umut allerdings sinnvoll. Zum einen könne das helfen, genug Berufssoldaten zu finden. Zum anderen öffne der Wehr- und Zivildienst jungen Menschen die Augen, dass es "noch eine andere Welt" als ihre bisherige gebe.
Ihm selbst ging es ähnlich. Über ein Soziales Jahr in der Behindertenpflege kam er zum Beruf des Krankenpflegers, sagt der gebürtige Dortmunder mit deutscher Staatsangehörigkeit, dessen Eltern einst aus der Türkei eingewandert sind.
Ingrids Vater wurde aus Niederschlesien vertrieben. Ihre Mutter erlebte den Zweiten Weltkrieg in Engelskirchen, wo zahlreiche Fliegerbomben niedergingen. "Die haben mir immer ihre Geschichten erzählt, wie schlimm das alles war", sagt die 67-Jährige aus Lindlar im Oberbergischen Kreis.
Vor diesem Hintergrund blickt sie mit einiger Sorge auf die Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine. Um eine Eskalation zu vermeiden, erhofft sie sich von der künftigen Bundesregierung, dass auch weiterhin keine Taurus-Marschflugkörper geliefert werden, da diese weit in russisches Gebiet eindringen könnten.
Ich habe Angst, dass wir noch mehr in Kriegshandlungen hineingezogen werden.
Mit ihrer Skepsis gegenüber der Militärhilfe stehe sie ziemlich alleine da in ihrem Freundeskreis und der Familie. "Die sind eher für Waffenlieferungen", sagt Ingrid. "Ich bin so etwas zwiespältig."
Einerseits sieht sie eine große Gefahr durch Russland unter Präsident Putin. Daher müsse man sich verteidigen können, auch in Deutschland: "Dass wir aufrüsten müssen, ist wahrscheinlich notwendig", sagt Ingrid, denn "man weiß ja nicht, ob er sich dann wirklich mit der Ukraine zufriedengeben würde und nicht weitermarschieren würde." Andererseits dürfe man auch die Kosten nicht vergessen:
Man könnte das Geld, das man für Waffen ausgibt, so viel besser einsetzen.
"Straßenbau, Brücken, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen - das sollte man nicht aus den Augen lassen", sagt sie. "Das geht hier in Deutschland den Bach runter." Außerdem sei vieles teurer geworden: Gas zum Beispiel.
"Ich habe jahrelang geschuftet, geschuftet, geschuftet", sagt Ingrid. "Mir geht's nicht schlecht. Aber es ging mir mal besser."
"Es wird meiner Meinung nach viel zu viel Geld für Waffen ausgegeben. Inwiefern es nötig ist oder nicht: Ich weiß es nicht." Stattdessen wünscht sich Ingrid: "Man sollte sich viel mehr unterhalten und einen Konsens finden, nicht immer direkt mit Waffengewalt." Mit Blick auf die Ukraine und Russland sagt sie: "Beide Parteien müssten bereit sein, auch mal miteinander vernünftig zu reden."
Aber vernünftig miteinander zu sprechen - das sei auch schon im Privaten schwierig geworden, bedauert Ingrid. Ständig werde geschimpft. Sei es bei Facebook, wo sie in Garten-Gruppen unterwegs ist, oder auch in Lindlar, wenn sie sich mit Leuten unterhalte.
Ingrid zeigt sich offen für andere Meinungen. Ihr Haus teilt sie sich mit einem Syrer. In den Gesprächen mit ihm sei Israel lange ein "Streitthema" gewesen. Aber sie habe zugehört und dazugelernt. Sie sei froh, dass Israel und die Hamas nun erst mal eine Waffenruhe vereinbart haben.
Eine Welt, in der man miteinander redet, statt sich mit Waffen zu bekämpfen: "Ist vielleicht ein Traum von mir. Ich weiß es nicht. Aber ich würde es mir so sehr wünschen, dass endlich mal etwas mehr Frieden einkehrt."
Hinweis der Redaktion: Einige der Personen, die in den Online-Beiträgen zu den drei Thementagen zu Wort kommen, haben darum gebeten, dass nicht ihr kompletter Name veröffentlicht wird. Wir nennen daher alle nur mit ihrem Vornamen. Ihre Meinungen, Gefühle und Erlebnisse geben wir in diesem Text wieder. Faktenbehauptungen, die von ihnen getätigt wurden, haben wir so weit es uns möglich war überprüft.
Unsere Quellen:
Über dieses Thema berichten wir am 05.02.2025 auch im WDR-Fernsehen: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.
Das Team
Autor: Jörn Seidel
Grafik: Jennifer Hütt
Redaktion: Raimund Groß und Till Hafermann