Stolz, was wir geschafft haben
Mit einer Handprothese zum Modeljob, als erste Schwarze Frau in Deutschland zur Theaterintendanz oder als Analphabet zum Traumjob als Koch – diese Menschen haben in ihrem Leben viel Benachteiligung erfahren und ihr Ziel trotzdem erreicht. Geschichten, die Mut machen und von denen sich lernen lässt.
von Louisa Heerde und Marspet Movsisyan
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Mit Handprothese zum Model-Job
Greta (23) ist vier Jahre alt, als sie zum ersten Mal merkt: "Huch, ich bin irgendwie anders als die anderen Kinder." Greta fehlt seit ihrer Geburt eine Hand. Eigentlich war das nie ein Problem für sie, sondern immer nur dann, wenn sie andere damit konfrontieren. In der Schule sagte mal eine Lehrerin zu ihr, dass sie kein Fahrrad fahren könne. Oder als sie mal einen Radausflug mit einer Freundin macht, wird sie von einem fremden Mann bemitleidet: "Oh mein Gott, du Arme, dir fehlt ja eine Hand!" Für Greta komplett unverständlich:
Entmutigen lässt Greta sich davon nicht. Im Gegenteil: Die Diskriminierungserfahrungen treiben sie an. Während ihres Psychologiestudiums arbeitet Greta als Kurierfahrerin. Eine Art Genugtuung für sie, denn in der Schule wurde ihr damals abgesprochen, Fahrradfahren zu können. Aktuell arbeitet sie als Model für diverse Marken. Bis dahin war es aber ein harter Weg.
Seit etwa drei Jahren hat Greta eine elektrische Handprothese und wird damit im Alltag oft ganz anders wahrgenommen.
Das Modeln ist Gretas große Leidenschaft und gibt ihr auch Selbstvertrauen. Sie hat das Gefühl, dass sie mit der Prothese Menschen mit Behinderung eine Sichtbarkeit verschaffen kann, die es in der Modewelt bisher kaum gibt.
Obwohl es auch insgesamt eine positive Entwicklung in der Branche gebe: Die Modefirmen würden mittlerweile mehr zulassen. Oft kann sie selbst entscheiden, ob sie mit oder ohne Prothese modelt. So, wie sie sich gerade wohlfühlt. Dennoch will Greta die diskriminierenden Erfahrungen aus der Vergangenheit mit anderen teilen.
Sie weiß, dass sie anderen damit helfen kann, wenn sie ihnen zeigt, dass sie mit ihren Erlebnissen nicht allein sind. Gleichzeitig erfährt sie selbst viel Unterstützung.
Wie es Karim vom Analphabeten zum Koch geschafft hat
Karim Faizi ist gerade mal 17 Jahre alt, als er 2015 als Minderjähriger alleine aus Afghanistan nach Deutschland flüchtet. Schwieriger hätte der Start für ihn nicht sein können: Weit weg von Freunden und Familie musste er von null anfangen und verbrachte die erste Zeit in einem Flüchtlingsheim. Sprache und Kultur waren ihm fremd und oben drauf war er noch Analphabet.
Er besucht Sprachkurse, lernt schnell lesen und schreiben, macht seinen Realschulabschluss, arbeitet nach der Schule in einer Eisdiele, um die Sprache zu verbessern, und schafft dann sogar seine Ausbildung zum Koch. Er weiß heute: Das hat alles nur geklappt, weil ihn eine Familie aus Brühl aufgenommen und bei seinem Weg unterstützt hat.
Seit über zwei Jahren arbeitet er nun als Koch in einem gehobenen Restaurant in Köln. Das Kochen liegt ihm quasi in den Genen, schon immer wollte er seiner großen Leidenschaft nachgehen und Koch werden.
Der Weg dahin ist geprägt von vielen Selbstzweifeln:
Doch einen Job finden, ohne Aufenthaltstitel in Deutschland? Fast unmöglich für Karim. Umso glücklicher war er, als es mit der Ausbildung zum Koch geklappt hat.
Küchenchef Felix schätzt besonders an Karim, dass er so viel Spaß bei der Arbeit hat, jeden Tag mit einem Lächeln auf den Lippen ins Restaurant kommt und jederzeit einspringt, wenn es nötig ist. Natürlich seien Karims Deutschkenntnisse manchmal nicht ausreichend, besonders wenn es um Fachbegriffe geht. Aber für ihn definitiv kein Hindernis, Karim nicht zu beschäftigen.
Karim hat einen großen Wunsch: Seine Familie irgendwann nach Deutschland holen zu können. Er wünscht sich von der Regierung, dass der Familiennachzug vereinfacht wird und es schneller geht. Gerade auch, weil seine Familie noch in Afghanistan ist, wo es seit der Machtübernahme der Taliban den Menschen und insbesondere den Frauen noch viel schlechter geht.
Bis das klappt, versucht er hier in Deutschland trotz der vielen Schwierigkeiten in seinem Leben seinem Traumjob nachzugehen. Sein Ziel: Irgendwann ein eigenes Restaurant eröffnen. Und was natürlich nicht fehlen darf: Afghanische Gerichte.
Hingefallen und wieder aufgestanden: Was Philipp Halt gibt
Klettern gehört schon lange zu Philipps liebsten Freizeitbeschäftigungen. Genießen konnte er es früher aber oft nicht. Philipps psychische Erkrankung flüstert ihm ins Ohr, dass er nicht gut genug ist - in der Schule, in menschlichen Begegnungen, selbst im Hobby. Was mit ihm los ist, weiß er als Jugendlicher noch nicht.
Und Philipp hatte Probleme. Besonders in der Ausbildung: Leistungsdruck, Angst vor Prüfungssituationen - das lähmt Philipp und wirft ihn zurück in depressive Episoden. "Das hat schon an der Seele geschliffen. Und wenn es mir schlecht ging, konnte ich mit niemandem darüber sprechen: Ich habe nicht das Vertrauen in die Person gehabt." Zu groß war die Sorge vor dem Stigma bei psychischen Erkrankungen.
Zwei Ausbildungsversuche macht Philipp, bevor er die Reißleine zieht. Er muss abbrechen. Aufgeben will er aber nicht: Er wendet sich an Förderungswerke und entscheidet sich für den zweiten Bildungsweg.
Mit der Aktion "100 zusätzliche Ausbildungsplätze" will das Land NRW Jugendliche erreichen, die auf dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. "Ich habe das dankend angenommen. Trotz meiner Krankheit habe ich von Anfang an gesagt, dass ich irgendwie weiterkommen möchte."
Die Ausbildung beim Berufsförderungswerk Oberhausen ist engmaschiger betreut und geht auf Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung oder Erkrankung ein. Philipp arbeitet hart an sich – und wird dafür belohnt: Im Januar letzten Jahres feiert er seinen Abschluss als Fachinformatiker und wird für seine herausragenden Leistungen sogar ausgezeichnet. Noch heute arbeitet er in seinem Ausbildungsbetrieb, in dem er sich verstanden fühlt. Endlich kann Philipp offen über seine unsichtbare Erkrankung sprechen, ohne Sorge vor der Reaktion.
"Wenn es mir richtig schlecht geht, darf ich schon mal ein paar Stunden vom Arbeitsplatz weggehen. Zeit und Luftholen. Der Effekt davon ist meist, dass ich es gar nicht erst mache, weil diese Gewissheit mich beruhigt", erzählt Philipp.
Noch heute ist der 27-Jährige seiner Pädagogin und seinem Ausbilder dankbar für die Unterstützung. Und auch auf seine eigene Leistung ist er stolz: "Selbst mit allem, was mein Betrieb mir ermöglicht hat, hätte ich es nicht geschafft, ohne dass ich selber ein anderes Mindset bekommen hätte. Ich bin auch in der Zeit gewachsen und älter geworden. Das alles gemischt hat das ermöglicht."
Eine Änderung, die Philipp auch in der Freizeit bemerkt: "Das Klettern gibt mir jetzt einfach ganz viel Stabilität im Leben, einfach als Ausgleich. Früher war ich da ganz anders getrieben, leistungsorientierter. So entspannt daran gehen zu können, das wäre früher gar nicht möglich gewesen."
Julia will: Endlich Theater für Alle
Theater - das ist im Kopf vieler noch immer was für reiche Leute aus dem Bildungsbürgertum, nichts für die breite Masse. Was zieht man da an? Wie verhält man sich? Darf ich lachen, wenn ich das Stück witzig finde? Julia Wissert nennt das "Klassen-Scham" und glaubt: Diese Fragen würden vielleicht auch ihre Eltern noch heute vom Besuch eines Schauspielhauses abhalten, wenn ihre Tochter sich nicht zufällig als Kind in diese Kunstform verliebt hätte.
"Ich weiß noch: Vorm Theater standen einfach drei Menschen in Orangen-Kostümen. Dann haben wir unseren Vater ewig bequatscht, dass wir uns das unbedingt anschauen müssen. Und dann haben wir Die Liebe zu den drei Orangen angeguckt und ich dachte: Oh je, ich liebe das. Keine Ahnung, was es ist, oder was das soll, oder was die Geschichte ist. Aber: Ich lieb’s."
Als Teenagerin macht Julia erste Hospitanzen, später studiert sie Schauspiel und inszeniert preisgekrönte Stücke. Mittlerweile ist sie die jüngste Intendantin Deutschlands, sie ist auch die erste Schwarze Frau, die eine solche Stelle innehat. Aber auf allen Sprossen der Karriereleiter ist sie auch damit konfrontiert, wie elitär die Theater-Welt noch immer ist und dass sie nicht ins bisher gängige Schema passt.
"Ich tauche auf Festivals auf und bin nicht 'Julia Wissert, die Regisseurin. Stattdessen bin ich ‘Julia Wissert, die post-migrantische Regisseurin.'"
"Im Nachhinein muss ich sagen: Dieses Label ist extrem wichtig gewesen fürs Theater." Denn ihr fällt auf: Sowohl auf der Bühne als auch im Publikum spiegelt das Theater oftmals nicht die komplette Gesellschaft wider. Die Intendantin will, dass sich das ändert: damit mehr arme, queere, behinderte und nicht-weiße Menschen Lust auf Theater bekommen.
"Und ganz viele Menschen wissen gar nicht, dass es ihnen eigentlich gehört und dass sie damit eigentlich auch einen Anspruch haben, sich selber und das, was sie interessiert, in diesem Haus repräsentiert zu sehen." Deshalb setzt die 39-Jährige auf ungewohnte Angänge - und erntet so auch Kritik von manchen Lokalpolitikerinnen und -politikern und alteingesessenem Publikum. Besucherschwund zeitweise inklusive.
Trotzdem glaubt sie: In den letzten Jahren ist Theater in Deutschland insgesamt diverser geworden. Bei Theater-Festivals wie "Dortmund Goes Black” oder dem “Queer-Festival" redet die Intendantin immer häufiger mit Theater-Neulingen, die reinschnuppern und wiederkommen.
Und auch ihre Eltern kommen heute stolz und selbstsicher ins Schauspielhaus, erzählt Julia lachend: "Im Notfall können sie immer sagen: 'Na! Aber unsere Tochter ist ja eine Intendantin!'– Und das würde ich ihnen sogar zutrauen."
"Malcolm, mein Junge!" So lief Malcolms Coming-out
Seit Jahren ist sich Malcolm sicher: Er ist trans. Trotzdem dauert es, bis er seinem Freundeskreis und der Familie erzählt, dass er sich nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert. Zu groß ist die Sorge vor den Reaktionen seiner Mitmenschen. Im Januar 2022 wissen in Malcolms Privatleben endlich alle Bescheid.
Malcolm hat große Sorge vor seinem Coming-out auf der Arbeit. Schließlich hängt viel an der Anerkennung durch den Chef und die Kollegen: Akzeptieren sie Malcolms Entscheidung? Nutzen sie seinen neuen Namen und die Pronomen, mit denen er sich wohlfühlt? Viele trans Menschen, von denen Malcolm liest, werden nach ihrem Coming-out auf der Arbeit durch die Chefetage und die Kollegen ausgegrenzt.
Aber Malcolm ist damals schon kurz davor, Testosteron zu nehmen und wird sich sichtbar verändern - auch für seine Kollegen im Lager einer Lebensmittelproduktion. Ein Coming-out ist unvermeidbar. Als er schließlich das Gespräch mit seinem Chef sucht, geht alles ganz schnell: "Ich hab’s ihm dann gesagt, dass ich jetzt eine Hormonbehandlung anfange, dass ich da sehr lange drüber nachgedacht habe und es dauerte keine fünf Minuten, dann hat er meinen Namen gesagt."
Alle Schritte in Malcolms Transition erleben seine Kollegen mit. Und unterstützen ihn, wo sie können: von Bartwuchs-Tipps bis zur Erlaubnis, auf die Herrentoilette zu gehen.
Malcolm ist gerührt von dieser Selbstverständlichkeit. "Ich habe nie mit so einer krassen Akzeptanz sofort gerechnet, auch wenn ich weiß, die Leute wollen nie irgendwas Böses. Aber es ist halt tatsächlich noch ein Tabuthema."
Diese Reaktionen haben Malcolm noch selbstsicherer gemacht. Der 28-Jährige weiß, wie hart die Entscheidung für ein Coming-out ist - aber auch, wie gut es sich anfühlt, endlich man selbst sein zu können.
"Das sind keine Entscheidungen, die man über Nacht fällt. Das sind Entscheidungen, da hat man echt lange mit zu kämpfen. Wenn du das alles hinter dir hast und weißt: 'Okay, ich stehe zu 100 Prozent hinter mir', dann kannst du dich auch problemlos outen. Dann ist es im Endeffekt egal, was andere sagen, weil du zu dir stehst."
Heimatstadt, Identität oder Traumjob? Sena muss sich nicht mehr entscheiden
Sena selbst war froh, als die Schulzeit endlich vorbei war: Oft hatte sie sogar Angst, dorthin zu gehen. Und trotzdem will sie unbedingt Lehrerin werden. Um es besser zu machen als ihre Lehrkräfte damals.
Aber in ihrer Heimatstadt Berlin galt bislang: Beamte dürfen keine religiösen Symbole tragen. Schon im Lehramts-Studium bekommt Sena zu spüren, dass sie später nicht in Berlin mit Kopftuch arbeiten darf. Im Praktikum schlägt ihr eine Direktorin sogar vor, dass sie das Kopftuch "probeweise" ablegt. "Genau in dem Moment habe ich verstanden, dass für viele außenstehende Personen das Kopftuch ein Modeaccessoire ist. Ein Stück Stoff."
Sena schreibt gerade an ihrer Masterarbeit, bald steht das Referendariat an. Dann muss sie sich entscheiden, denkt sie - zwischen Traumjob, Identität und Heimatstadt. "Deshalb habe ich schon angefangen zu schauen, wo ich hin kann, welches Bundesland mich mit meinem Kopftuch haben möchte – welches Bundesland mich nicht aufgrund meiner Kopfbedeckung diskriminiert."
Auf TikTok und Instagram erzählt Sena, wie sehr sie rassistische Äußerungen im Studium und die bisherige Regelung belastet. Dabei trifft sie den Nerv vieler Frauen mit Kopftuch. Hunderttausende schauen ihre Videos. Auch uns erzählt sie schon vor einem Jahr von dem Druck, der auf ihr lastet:
Hier geht's zum Beitrag mit Sena und vielen weiteren Menschen, die Diskriminierung im Job erleben mussten und erzählen: "Was ich nie wieder erleben will"
Bis zuletzt weiß sie nicht, ob sie wegziehen muss. Dann, im März 2023, wird das Gesetz geändert: Zukünftig darf Lehrerinnen in Berlin nur noch in Ausnahmefällen das Kopftuch verboten werden.
Sena ist froh, dass sie ihre Identität zukünftig zeigen darf - auch wenn sie weiß, dass das noch immer nicht folgenlos ist.
"Dass wir mit dem Kopftuch als Lehrerin arbeiten dürfen, ist nur ein kleiner Schritt. Es gibt viele Berufe, wo es nicht möglich ist, mit dem Kopftuch zu arbeiten. Ich muss mich zukünftig mit der Frage beschäftigen, ob ich in meinem Lebenslauf mal ein Foto mit rein packe oder nicht. Ich muss mich fragen: Okay, werde ich jetzt angenommen, wenn mein Nachname draufsteht?"
Weiterlesen? Hier erzählen Bildungsaufsteigerinnen und -aufsteiger ihre Geschichten: "Aufgestiegen: Unser Leben zwischen den Bildungsschichten"