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Autorin: Lisa Kreuzmann
Redaktion: Julia Linn, Till Hafermann
Grafik: Anna Zdrahal, Alina Bilkis, Anne Spruiijtenburg
Video-Schnitt: Maik Arnold

Medien
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Aufgestiegen

Unser Leben zwischen den Bildungsschichten

Aus Gelsenkirchen, der ärmsten Stadt Deutschlands, nach London ins Investmentbanking? Solche Geschichten machen Mut. Aber was bedeutet es wirklich, einen höheren Bildungsabschluss als die eigenen Eltern zu erreichen? Hier erzählen Aufsteigerinnen und Aufsteiger selbst.

Ein Feature von Lisa Kreuzmann

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Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, zu perfektionieren, dass mir niemand ansieht, wo ich herkomme. Ich bin dann in die Oper gelatscht. Fand ich schrecklich. Aber ich dachte, das ist das, was man tut, wenn man in diese bürgerliche Schicht aufsteigt. Sabrina Schmitt, Hochschullehrerin, will sich nicht mehr für ihre Herkunft schämen

Sie stammen aus Einwanderer-, Arbeiter- und Hartz IV-Familien. Sie sind Kinder alleinerziehender Mütter, malochender Väter, wachsen zwischen sogenannten Brennpunktvierteln und Brennpunktschulen auf. Viele haben Rassismus, Diskriminierung und Armut erlebt, manche Gewalt oder eine Zeit im Kinderheim verbracht.

Und jetzt?

Sind sie oben angekommen. Sie gehören zur Bildungselite. Sie haben Abitur, sie haben studiert, einige einen Doktortitel oder eine Professur. Sie haben profitiert und reüssiert und manch einer fragt sich: Bin ich jetzt glücklicher als meine Eltern? Und gehöre ich endlich dazu?

Hintergrund: Deutschland - Land der Chancen(un)gleichheit?

Diese neun Menschen haben einen sogenannten Bildungsaufstieg geschafft. Sie haben eine höhere Bildung als ihre Eltern und stehen damit im Spannungsfeld der Frage, wie durchlässig das deutsche Bildungssystem nun wirklich ist. Kann Aufstieg durch Leistung gelingen? Ja oder nein.

Eine Frage, über die Bildungspolitiker und -politikerinnen spätestens seit der Jahrtausendwende verstärkt streiten, als die erste Pisa-Studie gezeigt hat, dass schulischer Erfolg in Deutschland stärker mit der sozialen Herkunft zusammenhängt als in anderen OECD-Ländern. Seither wackelt hierzulande das liberale Credo von Jeder kann es schaffen. Der Glaube daran, dass Leistung belohnt wird, und dass, wer sich nur hart genug anstrengt, die Chance hat, ganz oben anzukommen. Die Elite dieses Landes zu werden also.

Zwar besuchen immer mehr Kinder das Gymnasium. Erziehungswissenschaftler sprechen dabei jedoch von einem "Lotteriespiel", in dem immer dieselben gewinnen. So haben Untersuchungen gezeigt, dass Kinder aus einem bildungsnahen Milieu eine vierfach so hohe Chance auf eine Empfehlung für das Gymnasium haben als Kinder aus bildungsfernen Milieus. Und das bei gleichen kognitiven Voraussetzungen. In den vergangenen Jahren taucht deshalb ein Begriff immer häufiger auf: Klassismus. Darunter versteht man eine Form der Diskriminierung, die dazu führt, dass junge Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft weniger Aufstiegschancen haben als andere.

Marvin Aideyan: Mangel und Ausgrenzung haben ihn angespornt

Marvin Aideyan wächst in Leverkusen Rheindorf auf. Ein Stadtteil, der Armut und Kriminalität kennt. "Da wurde nichts investiert, Basketball-Ringe wurden extra am Wochenende abmontiert, damit die Jugendlichen nicht dort spielen können", erzählt Marvin Aideyan.

Wäre es nach seiner Grundschullehrerin gegangen, hätte Marvin Aideyan heute einen Hauptschulabschluss. Seine "Stifthaltung" kritisiert die Lehrerin, in Kunst und Religion sacken die Noten zum Ende der Grundschulzeit ab. Marvin verhalte sich auffällig, steht in seinem Zeugnis. Seine Grundschullehrerin habe ihn vorgeführt, erinnert sich Marvin Aideyan. "Zehn-kleine-N-lein" habe er der Klasse vorsingen müssen.

Dass Marvin Aideyan schließlich aufs Gymnasium geht, sein Abitur mit 1,2 abschließt und erfolgreich das erste und zweite Jura-Staatsexamen absolviert, hat er der Hartnäckigkeit seiner Mutter zu verdanken.

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Mir wurde in meinem Leben so viel abgesprochen, wer ich bin und was ich kann, so viele Möglichkeiten nicht gegeben, die mich befähigt hätten, mehr aus mir zu machen.

Am liebsten wäre Marvin Aideyan ohnehin auf die Gesamtschule gegangen, so wie die meisten seiner Freunde aus Rheindorf. Seine Mutter willigt ein. Am Tag der Einschulung fährt sie jedoch an der besagten Gesamtschule vorbei, weiter zum Gymnasium, wo sie ihn heimlich angemeldet hat.

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Das Ende der Sommerferien? Für Marvin Aideyan purer Stress. Bücher, Atlanten, Zirkel, alles muss neu gekauft werden. Das Geld dafür fehlt der Familie.

Das ist einfach kostspielig. Hundert Euro zum Beispiel. Für andere mag das gering klingen, für mich, der jetzt Geld verdient, auch, aber für meine Familie war das einfach ein Viertel von unserem Leben. Und dann hieß es: Innerhalb von einer Woche das Geld da haben, ansonsten kannst du nicht im Unterricht teilnehmen, ansonsten kannst du nicht mit auf die Klassenfahrt.

Heute möchte Marvin Aideyan mit seinem Erfolg Vorbild sein. Sein dringlichster Wunsch ist ein anderer:

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Derya Gür-Şeker: "Der reine Zufall hat mir den Weg geebnet"

Derya Gür-Şeker wächst im Duisburger Norden auf. Ein Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt. Ihr Vater arbeitet im Bergbau, erst als Dynamit-Sprenger, dann steigt er zum Reviersteiger auf. Die Mutter kümmert sich um die Kinder und den Haushalt, korrigiert Hausaufgaben, obwohl sie selbst keinen Schulabschluss hat.

Derya Gür-Şeker beschreibt ihre Kindheit als "schön" und "behütet". Die Bergbau-Familien halten zusammen, einige Freundschaften halten bis heute. Bildung sei den Eltern stets wichtig gewesen, wenn auch ohne konkretes Ziel. Ihr Bildungsweg ist von Eigeninitiative, Zufall und Ehrgeiz geprägt, erzählt Derya Gür-Şeker.

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Die Institution Schule hat da, meiner Meinung nach, total versagt. Der reine Zufall hat mir den Weg geebnet. Niemand ist je auf den Gedanken gekommen zu sagen: 'Derya, das ist toll, was du machst.'

Derya Gür-Şeker bekommt nach der Grundschule eine Empfehlung für die Hauptschule. Warum, erklärt sie sich heute so:

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In der Grundschule bekommt Derya Gür-Şeker eine Vier in Deutsch. Heute ist sie Professorin für Linguistik. Sie forscht zur Kommunikation in Online-Medien, beschäftigt sich mit Diskursen und Sprache. Oben angekommen fühlt sie sich nicht.

Meine Eltern haben mir beigebracht, dass man in Deutschland alles werden kann, solange man leistet. Ich habe geleistet, ich trage einen Doktortitel, ich bin seit Kurzem habilitiert - aber trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, dass ich noch immer nicht da angekommen bin, wo ich eigentlich auch sein könnte, wenn ich nicht diese Herkunft hätte, nicht diesen Namen tragen würde.

Grundschule entscheidet maßgeblich über Zukunft

Ob ein Aufstieg gelingt oder nicht, fängt schon bei der Empfehlung für die weiterführende Schule an. Am Ende der Grundschule gehen die meisten Kinder verloren, sagen Bildungsforscher. Dabei finden "Selektionsprozesse statt, die sich über die gesamte Schullaufbahn fortsetzen", schreiben etwa die Autorinnen und Autoren vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung.

An der frühen Aufteilung gibt es deshalb immer wieder Kritik. Eine aktuelle Studie zeigt, dass leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler dadurch benachteiligt werden, hingegen längeres gemeinsames Lernen nicht zulasten der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler geht.

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Sarina Kniep: Wenn das Zuhause keinen Schutz bietet

Sarina Kniep wächst in Dortmund auf. Ihre Eltern trennen sich, als sie 15 Jahre alt ist. Kontakt zu ihren "Erzeugern" hat sie heute keinen mehr. Ihre Kindheit ist geprägt von Hartz IV, Alkohol, Gewalt, Missbrauch, Mobbing und Resignation. Sarina Kniep kämpft für ein Leben ohne Geldsorgen und Angst.

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In der Hauptschule werden Sarina Knieps Noten schlechter. Sie wird gemobbt, bedroht und bleibt dem Unterricht öfter fern. Ihr Elternhaus bietet keinen Schutz. Sarina Kniep wird körperlich missbraucht.

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Mit therapeutischer Hilfe und der Unterstützung ihrer Großeltern will Sarina Kniep ihre Kindheit und Jugend hinter sich lassen.

Nach der Hauptschule holt sie zunächst den Realschulabschluss nach, am Dortmunder Westfalen-Kolleg macht sie derzeit das Abitur. Sie möchte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin machen, um Medizin studieren zu können. Doch den sozialen Anforderungen im Umgang mit Angehörigen fühlt sie sich im Arbeitsleben mental nicht gewachsen. Sarina Kniep möchte deshalb in die Rechtsmedizin. Auch, um dabei zu helfen, Fälle von häuslicher Gewalt aufzuklären.

Für ihre eigene Kindheit schämt sie sich noch immer.

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Wai Long Van: "Ich wollte nicht als behinderte Person gelten"

Für meinen Vater war es ultra wichtig, dass wir in der Schule fleißig sind und immer aufpassen, weil in Deutschland die Bildung kostenlos ist. In Kambodscha musste er im Alltag helfen. Bis heute nehme ich mir das zu Herzen und denke, dass man immer anwesend sein muss und aufpassen sollte.

Wai Long Vans Weg zu Abitur und Studium wird zigfach durchkreuzt. Wai Long Van wächst in Wuppertal auf. Seine Eltern fliehen vor den Roten Khmer aus Kambodscha. In Deutschland trennen sie sich.

Als Kind leidet er unter einer Sozialphobie, wird aufgrund seiner asiatischen Wurzeln gehänselt, mit zehn Jahren erkrankt er an einer Optikusatrophie, einer Erkrankung des Sehnervs, die zur schrittweisen Erblindung führt.

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Ich habe gravierend gemerkt, dass man zweifach diskriminiert wurde. Aufgrund der Behinderung und aufgrund des Migrationshintergrundes. Statt, dass mein Potenzial erkannt wurde.
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In seiner Jugend wird es nicht leichter. Mit 14 Jahren muss Wai Long Van auf Rat einer Lehrerin sein Elternhaus verlassen und zieht in ein Kinderheim. Seine Noten verbessern sich zunächst.

"Das war eine prägende Zeit. Ich habe gelernt, mit meiner Seele umzugehen und Dinge gemacht, die ich mir nie zugetraut hätte, wie Theater spielen zum Beispiel", erzählt Wai Long Van. Dann grätscht die Pubertät rein, Wai Long Van ringt mit seiner Sexualität: "Ich finde es schade, dass im Unterricht Homosexualität überhaupt nicht erwähnt wurde."

Heute studiert Wai Long Van Deutsch und Pädagogik. Er will es eines Tages anders machen und Schülerinnen und Schülern, wie er einer war, gerecht werden.

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Als angehender Lehrer sieht er Inklusion trotzdem gemischt. "Ich weiß, wie viel zusätzliche Arbeit es meinen Lehrerinnen im Abi gemacht hat, mich mitzunehmen", sagt Wai-Long. "So engagiert waren nicht alle."

Inklusion im Blickpunkt

Ob ein Aufstieg gelingt oder nicht, hängt in Deutschland auch von der Frage ab, wie und wo Schülerinnen und Schüler aufgefangen werden. Bis 2009 war es in Deutschland gängige Praxis, dass Kinder mit Behinderungen oder besonderen Förderbedarf auf Sonder- oder Förderschulen gehen - oft noch während der Grundschulzeit.

Dann trat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Kraft, die besagt, dass Kinder nicht länger von allgemeinen Schulen ausgeschlossen werden dürfen. Im Ergebnis wurde eine der größten Schulreformen des vergangenen Jahrhunderts angestoßen - die inklusive Schule. Bei der Umsetzung hakt es.

Studien zeigen, dass die Ungleichheit schon bei der Wahrscheinlichkeit anfängt, überhaupt erst einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf zugewiesen zu bekommen. Die variiert je nach Wohnort stark. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt außerdem, dass allen voran in Gymnasial- und Realschulklassen bislang wenige Kinder mit Beeinträchtigung oder besonderem Förderschwerpunkt sitzen.

Lehrerinnen und Lehrer klagen über Überlastung, Leistungsträger sorgen sich um die Exzellenz. Und einige Länder rechnen sogar mit einem rückläufigen Trend, weg von der Inklusion. Darunter auch Nordrhein-Westfalen. Während die Zahl der Schüler mit besonderem Förderbedarf steigt, ist also offen, ob sich Deutschland weiterhin der vereinbarten Zielsetzung der UN-Konvention verpflichtet.

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Dominic Karamarko: Londoner Investmentbanker aus Gelsenkirchen

Dieser Spagat zwischen Bodenständigkeit, Gelsenkirchen, ärmste Stadt Deutschlands, und Cambridge University, Investmentbanking, und was nicht alles – das ist die Ironie meines Lebens.

Dominic Karamarko wächst in Gelsenkirchen auf. Seine Mutter ist alleinerziehend, das Geld ist knapp. "Dieser Mangel an Geld ist irgendwo immer ein Schmerz", sagt Dominic Karamarko. Also sucht er nach Wegen, es eines Tages besser zu haben. Die Noten stimmen, nach der Grundschule wechselt Dominic Karamarko aufs Gymnasium und studiert später an einer amerikanischen Elite-Uni.

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Wenn jemand scharf darauf ist, den American Dream zu leben, würde ich immer sagen: machst du in Deutschland. Das fängt schon bei den Studiengebühren an und hört bei den Sozialleistungen auf.

Inzwischen arbeitet Dominic Karamarko in London als Investmentbanker. Er ist dabei, wenn Unternehmen verkauft werden. Aufstieg durch Bildung, sagt Dominic Karamarko, sei zwar nirgendwo auf der Welt gerecht möglich, "weil es immer einen Vorteil gibt, wenn man reicher ist", dennoch sei Deutschland dafür das beste Land. "In Deutschland kann man es größtenteils aus eigener Kraft schaffen, wenn man wirklich, wirklich will."

Seine persönliche Erfolgsformel ist aber eine andere:

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Nach Gelsenkirchen kehrt Dominic Karamarko regelmäßig zurück. Vor allem, wenn Schalke spielt. Der Ruhrpottler bleibt.

Sabrina Schmitt: Glück geht auch ohne Aufstieg

Sabrina Schmitt wächst in der Nähe von München auf. Ihre Mutter arbeitet als Einzelhandelskauffrau, ihr Vater in einer Spedition. Berufliche Entfaltung hat in ihrer Familie keine große Rolle gespielt, erzählt Sabrina Schmitt. Trotz guter Noten bekommt sie nach der Grundschule eine Empfehlung für die Hauptschule. Ihre Mutter setzt sich durch und drängt aufs Gymnasium.

Die Schullaufbahn verläuft ruckelig, Sabrina Schmitt fühlt sich verloren und kommt mit der akademischen Welt nicht zurecht. Eine Welt, die sie von zu Hause nicht kennt. Die Noten werden schlechter, die achte Klasse wiederholt sie, nach der 11. Klasse wechselt Sabrina Schmitt an eine Fachoberschule.

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Sabrina Schmitt sucht nach Wegen, sich von ihrer Herkunft und von ihren Eltern abzugrenzen - etwa durch eine betont komplizierte Sprache, sie benutzt Fremdwörter und lange Schachtelsätze, um möglichst "akademisch" zu klingen. "Damit habe ich sehr viel Zeit verbracht, zu perfektionieren, dass mir niemand anmerkt, wo ich herkomme."

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Heute arbeitet Sabrina Schmitt als Hochschullehrerin. Im akademischen Kontext fällt ihr immer wieder auf, dass sie auch weiterhin heraussticht. Mit ihrer Sprache, mit ihren Gesten, mit ihrem Auftreten. Erfahrungen, die Sabrina Schmitt das Konzept "Bildungsaufstieg" heute kritisch sehen lassen. Für ihre nicht-akademischen Wurzeln möchte sie sich nicht mehr schämen müssen. Im Gegenteil.

Die Leiter raufzugehen, heißt am Ende nicht, dass man glücklicher ist. Es heißt vielleicht, dass man mehr Teilhabe-Chancen hat in der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist aber keine Garantie dafür, dass man glücklicher ist oder zufriedener oder sich mehr selbst verwirklichen kann. Also garantiert nicht.
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Es bereichert mich ungemein, mit meiner Mutter über RTL II-Sendungen zu sprechen. Das ist einfach geiler! Also, sorry! Und das ist ein valides Gespräch!

Kultur unterstützt beim Aufstieg

Ob ein Aufstieg gelingt oder nicht, hängt in Deutschland vom Zugang zu Kultur, Netzwerken und Beratung ab. Der IQB-Bildungstrend 2021 zeigt nicht nur, dass sich die Ungleichheiten zwischen 2011 und 2021 noch weiter verstärkt haben. Grundschulkinder aus weniger privilegierten Familien konnten weniger gut Lesen, Zuhören, Rechnen und Schreiben. Sondern auch, dass es beim Lesen weniger auf Geld als auf den Zugang zu Kultur ankommt. Etwa davon, wie viele Bücher eine Familie besitzt.

Untersuchungen zu dem NRW-Programm Talentscouting haben gezeigt, dass durch die gezielte Unterstützung bei der Wahl des Bildungswegs sich mehr Nicht-Akademikerkinder für ein Studium und mehr Akademikerkinder für eine Berufsausbildung entschieden haben.

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Richard Dietrich: Vom Sonderschüler zum Pädagogen

Richard Dietrich wächst in Greven auf. Seine Mutter kommt 1990 schwanger als Spätaussiedlerin aus Kasachstan ins Münsterland, wo bereits Verwandte leben. Der Start in der neuen Heimat ist für die Familie problematisch. "Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, miese Wohngegend", erzählt Richard Dietrich. Seine Familie sticht im konservativ-katholisch geprägten Münsterland heraus.

Das Familienbild war: Vater, Mutter, Kind. Die Väter sollten dicke Jobs haben und dicke Autos fahren, und die Mütter sollten halbtags Hausfrauen sein und sich um die Kids kümmern. Und wer diesem Familienbild und diesem Einkommensbild nicht entsprochen hat, der war halt nicht im Mittelpunkt dieser Gesellschaft, sondern auf der Schattenseite.

Als Kind wollte Richard Dietrich "Star" werden, Rockstar oder so. Doch seine Schullaufbahn beginnt wie die seiner Cousins in der Sonderschule. Ein Stigma, das ihn bis heute begleitet.

Die Alpträume sind die gewesen, marginalisiert zu sein. Dieser Begriff dreigliedriges Schulsystem, wo ich gar nicht drin bin. Wenn du gesagt hast, ich gehe auf die Sonderschule, das ist ein Stigma, also, wer geht denn auf die Sonderschule, irgendwelche Kriminellen, Zurückgebliebene? So hat die Gesellschaft gedacht, also das war schrecklich! Ich musste lügen, auf welche Schule ich gehe.

Richard Dietrich beschreibt seine ehemaligen Lehrerinnen und Lehrer als "Reformpädagogen in Birkenstocks", die flache Hierarchien versprechen und anti-autoritär erziehen wollen. Aber:

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Noch während der Grundschulzeit wechselt Richard Dietrich auf Drängen seiner Mutter zwar in die Regelschule und landet anschließend doch auf einer Hauptschule. Dort hat er eine Lehrerin, die an ihn glaubt, ihm Mut macht, das Abitur zu machen. Um aufs Gymnasium wechseln zu können, muss Richard Dietrich zwei IQ-Tests machen. Bei der Caritas und beim Schulpsychologischen Dienst.

Die Ergebnisse bescheinigen Richard Dietrich, hochbegabt zu sein, wie er erzählt. Trotzdem ist seine Versetzung jedes Jahr gefährdet. Rechtschreibung ist ein Problem. Aber auch die neue Rolle als Gymnasiast.

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Nach dem Abi weiß Richard Dietrich nicht, wohin mit sich. Ihm fehlen Vorbilder, aber auch ganz einfache Dinge, wie: Wie geht eigentlich Bürokratie? Immer wieder hat er das Gefühl, er passt nicht rein. Er beginnt ein Studium, beantragt BAföG. Doch auch mit dem System Hochschule ist er zunächst überfordert. Er erreicht nicht genügend Leistungspunkte, bekommt keine Förderung mehr, kann seine Miete nicht bezahlen und lebt einige Jahre ohne festen Wohnsitz.

Richard Dietrich geht auf Demos und besetzt Häuser. Heute studiert er wieder - Sozialpädagogik. Nebenbei arbeitet er bereits in der Erwachsenenbildung und sagt:

Früher waren ganz viele Räume für mich zu. Da durfte ich nicht rein, da konnte ich nicht hin - da habe ich mich nicht wohlgefühlt. Und heute gibt es ganz viele Räume. Ich hab die zurückerobert, ich hab meine Menschenwürde zurück. Da würde ich sagen, bin ich angekommen. Ich kann mich genauso gut in krassen Street-Gegenden aufhalten, genau so, wie ich mir heftige Kunst angucke, ohne mich da unwohl zu fühlen, ohne mich schlecht zu fühlen, ohne zu glauben: Hey, ich gehöre da nicht hin. Doch, ich gehöre hier hin! Es gibt Rechte. Uns allen gehört diese Welt. Und dieses Bewusstsein, und da bin ich auch stolz drauf, und das würde ich auch gerne weitertransportieren: Dass wir uns nicht schämen müssen und dass wir uns unser Leben zurückholen sollen!

Aycan Bogazliyan: "Als Gastarbeiter-Enkelin weiß ich, was Leistung bringt"

Meinen Eltern war es superwichtig, dass ich aufs Gymnasium komme. Das war die einzige Option, der vorgeschriebene Weg. Und das wollte ich auch, natürlich.

Aycan Bogazliyan wächst in der Dortmunder Nordstadt auf. Ihr Großvater kam in den 70er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. "Ich bin damit groß geworden, dass Bildung sehr wichtig ist, um mehr Teilhabe zu erlangen und sich gegenüber Rassismus zu behaupten", sagt die 25-Jährige.

Nach der Grundschule geht Aycan Bogazliyan aufs Gymnasium mit entsprechender Empfehlung. Aycan Bogazliyan sagt über sich, dass sie ehrgeizig und strebsam ist. Sie beginnt ein Medizinstudium, steht kurz davor, Ärztin zu werden. Ein Karriereweg, der für Aycan Bogazliyan stets mit Erwartungen verbunden ist.

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Aycan Bogazliyan möchte junge Menschen bestärken, nichts unversucht zu lassen. "Ich finde, dass sich junge Menschen aktiv Impulse und Vorbilder suchen sollten", sagt Aycan Bogazliyan. Ihren Antrieb hat sie auch durch zwei Stipendien bekommen.

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Stipendien und Bafög: Finanz-Spritzen für Schule und Studium

Ob ein Aufstieg gelingt oder nicht, hängt in Deutschland von der wirtschaftlichen Situation der eigenen Eltern ab. Rund jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet. Besonders häufig betroffen sind Kinder aus Familien mit drei und mehr Kindern sowie Kinder von Alleinerziehenden. Für Ausgleich sorgen Stipendien und Bafög.

Für Schülerinnen und Studierende, deren Eltern keine Möglichkeit haben, sie ausreichend zu unterstützen, gibt es einige Initiativen und Stellen, wo sie sich Hilfe und Beratung suchen können. Übrigens: Stipendien und Fördergelder gibt es nicht nur für Überflieger.

💡 Alle Infos zum Antrag auf Bafög gibt es hier.

💡 Der Bundesverband Deutscher Stiftungen listet hier zahlreiche Fördermöglichkeiten via Stipendienprogramme auf.

💡 Für alle, die als Erste in der Familie studieren: ArbeiterKind.de

💡 Hier geht's zum NRW-Zentrum für Talentförderung

💡 Infos zur Aktion "Schule ohne Rassismus"

Lisa Graf: Eine Lehrerin kritisiert das Schulsystem

Lisa Graf wächst in Mannheim auf. Über Aufsteigerinnen und Absteiger dieser Gesellschaft hat sie ein Buch geschrieben. Aus ihrer eigenen Biografie und Berufserfahrung heraus kritisiert die Lehrerin das deutsche Schulsystem scharf.

Wir pressen unsere Kinder und Jugendlichen in eine vor Jahrzehnten gefertigte Schablone und verschließen die Augen vor der Tatsache, dass wir dadurch Talente, Potenziale und Zukünfte zerstören.

In ihrem Buch "Abgehängt" beschreibt Lisa Graf ihren eigenen Bildungsweg. Als Kind verliert sie ihren Vater. Die Mutter, alleine mit drei Kindern, ertränkt ihr Verantwortungsbewusstsein zunächst im Alkohol. Während in ihrem Elternhaus Trauer und Wut einziehen, werden ihre Zeugnisse immer schlechter.

Am Ende der Grundschule bekommt Lisa Graf eine Empfehlung für die Realschule und fragt sich heute: "Was hätte in der Schule anders laufen müssen, damit aus der wissbegierigen Erstklässlerin nicht ein frustriertes, zurückgelassenes und wütendes Mädchen geworden wäre, das unter seinen Möglichkeiten blieb?"

Lisa Graf holt das Abitur nach, geht zur Uni, wird Lehrerin. Sie unterrichtet zunächst an einem Gymnasium, wechselt dann an eine sogenannte Brennpunktschule und stellt erhebliche Unterschiede fest. Ihre Erfahrungen beschreibt sie in ihrem Buch. "Ich würde unser Bildungssystem in Anbetracht der völligen Ignoranz gegenüber der Realität von Hauptschüler:innen als ehrenlos bezeichnen."

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Lisa Graf kritisiert in ihrem Buch: "Man könnte meinen, inzwischen habe sich etwas geändert und die Schulen hätten erkannt, dass zu viele Kinder in diesen Strukturen abgehängt werden." Gerade um die Kinder begleiten zu können, die es am nötigsten hätten, fehle es den Schulen an Infrastruktur und Personal.

Das Bildungssystem habe sich in den vergangenen zwanzig Jahren in seinen Grundzügen nicht verändert. Schule sei nach wie vor zu hürdenreich gestaltet. "Die Schule fängt im Grunde nur die Kinder auf, die eh schon von zu Hause hineingetragen werden."

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Lisa Graf kritisiert in ihrem Buch den Klassismus. Ein Name, der in diesem Zusammenhang stets fällt, ist der Soziologe Pierre Bourdieu, der den Begriff Habitus geprägt hat. Der Habitus beschreibt alles, was einem Menschen innerlich wie äußerlich anheftet und ihn von einer Gruppe unterscheidet oder einer anderen zugehörig macht. Klamotten, Sprache, Wortwahl, Frisur, Mimik, Gestik und so weiter. Bourdieu spricht dabei auch von den "feinen Unterschieden". Lisa Graf schreibt, diese Unterschiede bestimmen noch immer darüber, wer es in Deutschland nach oben schafft – und wer nicht.

Was wir aus den neun Biografien lernen können

Aus Gelsenkirchen, der ärmsten Stadt Deutschlands, nach London ins Investmentbanking? Dominic Karamarko hat das geschafft. Ohne Gymnasialempfehlung Anwalt oder Professorin werden? Marvin Aideyan und Derya Gür-Şeker haben das geschafft.

Diese neun Biografien zeigen, dass es in Teilen wahr ist. Wer es will, hartnäckig bleibt und Unterstützer hat, kann es schaffen. Aufstieg durch Bildung und Leistung kann gelingen, ja. Haben alle dafür die gleichen Chancen? Eindeutig nein.

Diese Biografien zeigen auf, wo es hakt. Gewisse Dinge braucht es im Leben, um klarzukommen. Geld, Netzwerke, Bücher und das Selbstwertgefühl, mithalten zu können. Wer aufsteigen will, muss sich gegen Widerstände auflehnen, Gelerntes und Erlebtes reflektieren, ohne den Glauben an sich selbst zu verlieren.

Die Sozialwissenschaftlerin Maja Bogojević beschäftigt sich mit Maßnahmen gegen Diskriminierung und hat Module entwickelt, die Schulen, Lehrer und Leiterinnen für Klassismus sensibilisieren sollen. "Diese meritokratische Idee einer Gesellschaft ist total gefährlich für Schüler:innen, aber auch für Erwachsene, weil sie sich dann selbst die Schuld daran geben, dass sie etwas nicht geschafft haben", sagt Maja Bogojević.

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Mehr als zwanzig Jahre nach dem Pisa-Schock steht Deutschland noch immer vor der Frage, wie mehr Chancengleichheit erreicht werden kann.



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