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Protokolle: Svitlana Mazur
Redaktion: Thierry Backes, Rainer Kellers
Illustrationen: Christine Schuller, Anna Zdrahal
Fotos: privat

Medien
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So geht es ukraini­schen Kindern zum Schul­start

Nach sechseinhalb Wochen Sommerferien hat der Unterricht in NRW wieder begonnen. Rund 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler sind am Montag in das neue Schuljahr gestartet. Darunter sind laut Kultusministerkonferenz auch mehr als 32.000 ukrainische Kinder und Jugendliche, die eine allgemeinbildende Schule in NRW besuchen.

Für sie hat sich mit dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges vieles verändert. Zum Schulstart wollten wir von ihnen wissen: Wie geht es Euch?

Protokolle: Svitlana Mazur

„In meiner ersten Unter­richts­stunde habe ich rein gar nichts ver­standen“

Mark, 10, versteht kein Wort Deutsch, als er seine erste Unterrichtsstunde in einer Grundschule in Düsseldorf hat. Er ist im März 2022 mit seiner Mutter nach Düsseldorf geflohen. Heute spielt er im Fußballverein und freut sich auf das neue Schuljahr.

„Vor meinem ersten Schultag in Deutschland hatte ich große Angst. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, hier in eine Schule zu gehen. Ich konnte ja kein Deutsch und hatte nicht einmal meine Schultasche dabei.

Ich wünschte mich zurück in meine alte Schule in Kiew, zu meinen Schulkameraden in der 3. Klasse und meiner wunderbaren Lehrerin, Tatiana. Doch irgendwann wurde mir klar, dass ich hier niemanden außer meiner Mutter hatte. Keinen Vater, keinen Bruder, keine Oma. Und keine Freunde. Eine Freundin meiner Mutter, die schon lange in Deutschland lebt, meldete mich in einer Grundschule in Düsseldorf an.

Wir betraten das Klassenzimmer und die Lehrerin, Christiane, lächelte. Sie zeigte auf sich und sagte: ,Mein Name ist Christiane, wie heißt du?‘ Sie schenkte mir einen neuen Rucksack mit all dem Schulzeug; das war schön.

In der ersten Unterrichtsstunde habe ich rein gar nichts verstanden. Aber dann begann die Lehrerin, über einen Übersetzer mit mir zu kommunizieren und ich beruhigte mich ein wenig. Beim Spielen in der Pause habe ich angefangen, die anderen Kinder kennen zu lernen. Es war schwer, die Sprache zu lernen, weil ich bei Null anfangen musste.

Meine ersten Worte waren ‚Hallo‘ und ‚Danke‘. Die hatte ich sofort drauf. Beim Deutschlernen gab es viele lustige Situationen. Zum Beispiel dachte ich, ,Wildschwein‘ sei ein Schwein mit Hörnern; ich habe nur nicht verstanden, warum Schweine Hörner haben.

Langsam begann ich mich an das Leben in Deutschland zu gewöhnen. Romuald, der Deutsche, bei dem wir untergekommen waren, schenkte mir einen Ball, was mich sehr glücklich machte.

Ich habe mich in der Fußballmannschaft der SG Unterrath 1912/24 angemeldet. Dort wurde ich sehr freundlich aufgenommen und bekam schöne Trainingsklamotten. Die anderen Kinder spielen zunächst viel besser als ich. Es stellte sich aber bald heraus, dass das ein Sprachproblem war: Als ich anfing, den Trainer zu verstehen, wurde es besser. Wir haben seitdem viele Spiele gewonnen und Medaillen bekommen.

Ich kann anderen ukrainischen Kindern nur raten: Lernt Deutsch, dann macht ihr euch viele Freunde und fühlt euch in Deutschland super! Ich zumindest habe ich viele Freunde hier gefunden.

Mein bester Freund heißt Shiro, er kommt aus dem Irak. Ich habe ihn in der Schule kennengelernt. Auch deshalb freue ich mich sehr auf das neue Schuljahr. Ich werde auch weiter Fußball spielen und vielleicht ein paar Tore schießen!“

„Wenn Dasha hier in Deutsch­land leben würde, würden wir bestimmt zu­sammen zum Ballett gehen“

Varvara ist sechs Jahre alt und stammt aus Kiew. Heute geht sie in die zweite Klasse einer Grundschule in Düsseldorf-Flingern und nimmt Ballettunterricht. Nur ihre Cousine Dasha, 11, vermisst sie sehr.

„Das letzte Mal habe ich Dasha kurz vor dem Krieg gesehen. Wir haben gemalt, mit Puppen gespielt und viel gelacht. Es war sehr laut. Meine Mama sagt immer, dass das Haus lebendig wird, wenn wir uns treffen.

Als der Krieg ausbrach, wollte ich unbedingt nach Deutschland. Ich war so neugierig, wollte ein anderes Land sehen, neue Freunde finden und auf eine deutsche Schule gehen. Erst war ich traurig, weil ich noch niemanden kannte, und Dasha war auch nicht da.

In der Schule habe ich aber schnell Freunde gefunden, Mädchen und Jungs. Es gibt auch ein paar andere Kinder aus der Ukraine, das ist schön. Ich mag die Schulstunden sehr und lerne gut.

Ich nehme auch Ballettunterricht. Meine Lehrerin heißt Alexandra, sie ist sehr nett. In der Ukraine mochte ich Ballett nicht wirklich, weil ich härter trainieren musste und es mir schwer fiel. Hier ist es einfacher für mich, und ich bin glücklich, wenn ich Unterricht habe. Wenn Dasha hier leben würde, würden wir bestimmt zusammen zum Ballett gehen.

Ich vermisse sie wirklich sehr. Leider telefonieren wir nur noch selten, weil in diesem Jahr viele traurige Dinge passiert sind. Zuerst traf eine Bombe ihr Haus. Dann ist ihr Vater an einer schweren Krankheit gestorben. Manchmal weiß ich nicht, wie ich mit ihr reden soll, deshalb schreiben wir uns öfter.

Dasha hatte kürzlich Geburtstag und wir haben sie gefragt, was wir ihr schenken sollen. Sie liebt Comics und zeichnet sie sogar selbst. Malen ist ihr Hobby. Sie und ihre Mutter malen auch Bücher für kleine Kinder, die sie verkaufen, um Geld für ein neues Haus zu sammeln.

Ich träume davon, dass der Krieg bald vorbei ist. Und wenn ich dann in die Ukraine zurückkehre, werde ich Dasha eine Menge deutscher Comics mitbringen.“

„Ich hatte in den Ferien in der Ukraine dieses warme Gefühl, zu Hause zu sein“

Zakhar, 14, und seine Mutter Anja haben Kiew zu Beginn des Krieges verlassen. Für die Sommerferien sind sie zurückkehrt.

„Die Reise in die Heimat war sehr beschwerlich. Wir fuhren mit dem Bus, und weil ich groß gewachsen bin, taten mir meine Knie weh. Wir waren mehr als 30 Stunden unterwegs und mussten an der Grenze lange stehen.

Aber es hat sich gelohnt: Schon die Luft ist anders in Kiew, so heimelig. Als ich ankam, schrie meine Großmutter Natasha: ,Zakhar!‘ und umarmte mich. Der Tisch war gedeckt, es gab Kartoffeln mit Huhn aus dem Ofen – mein Lieblingsgericht. Dann besuchte ich meinen Großvater Oleg im Krankenhaus, er war sehr glücklich: ,Mein Enkel ist da!‘ Er fing an, allen zu erzählen, wie erwachsen ich geworden sei. Wir machten einen langen Spaziergang im Park und sprachen über alles Mögliche.

Meine Großeltern sind nicht mit uns geflohen, sie sind alt und gebrechlich. Ich habe sie jetzt zum dritten Mal besucht und bin drei Wochen geblieben.

Ich wollte natürlich auch meine anderen Verwandten und Freunde sehen, die in der Ukraine geblieben sind. Tymofij etwa, meinen besten Freund. Wir kennen uns seit dem Windelalter und gehen seit der ersten Klasse zusammen zur Schule. Wir spielten auch in der gleichen Basketballmannschaft – bei den ,Raubtieren‘ – und sind Meister in unserer Heimatstadt geworden.

In Düsseldorf habe ich gleich mit dem Basketballspielen angefangen. Aber das Training hat mir nicht gefallen, und so habe ich beschlossen, aufzuhören. Wenn mein Kumpel hier wäre, würde ich mit ihm spielen. Wenn wir zusammen wären, würde ich nichts anderes brauchen.

Jetzt, wo das Schuljahr wieder beginnt, habe ich gemischte Gefühle. Alle meine Mitschüler sind sehr nett und die Lehrer auch. Ich habe Freunde in Deutschland gefunden, fast alle Ukrainer. Aus den Ferien habe ich meine Gitarre mitgebracht und spiele die Musik ukrainische Künstler wie Skrjabin, Okean Elzy, TNMK. Deutsche Lieder sind nicht so mein Ding. Ich habe außerdem Süßigkeiten aus der Heimat mitgebracht, Roshen-Schokolade und -Pralinen. So erschaffe ich mir ein Stück Ukraine in Deutschland.

Mein Herz ist in der Ukraine. Natürlich würden meine Mutter und ich gerne für immer dort bleiben. Ich bin noch nicht bereit, mein altes Leben gegen ein friedliches Leben in Deutschland einzutauschen. Ich hatte in den drei Wochen keine Angst und dieses warme Gefühl, zu Hause zu sein. Ich habe immer noch das Gesicht meiner Großmutter im Kopf – ich vermisse sie sehr. Zurückzukehren ist derzeit aber keine Option, weil es immer noch sehr gefährlich in der Ukraine ist.“

„Ich glaube, ich erinnere die Soldaten an ihre Kinder“

Nastja, 11, lebt in Kiew und geht in die 6. Klasse. Seit Mai 2022 arbeitet sie als Freiwillige in der Feldküche „B-50“, die in den ersten Kriegswochen gegründet wurde, als viele Geschäfte und Apotheken geschlossen blieben. Sie ist eine von 250 Freiwilligen, die in drei Schichten täglich 7000 bis 8000 Gerichte zubereiten.

„Mein Arbeitstag beginnt nach der Schule und dauert jeden Tag fünf bis sechs Stunden. Zu meinen Aufgaben gehört das Schälen von Kartoffeln, Zwiebeln und Karotten. Ist es anstrengend? Überhaupt nicht. Als der Krieg begann, wurde mir klar, dass ich anderen helfen muss.

Wir machen einmal am Tag auch eine Pause, und die mag ich im Winter besonders. Wenn die ersten Schneeflocken fallen, spielen die Erwachsenen und ich mit Schneebällen. Bei Luftangriffen rennen wir alle in den Keller des Hauses nebenan, das ist der nächstgelegene Luftschutzkeller. Wenn der Alarm endet, gehen wir sofort wieder an die Arbeit. Denn wir kochen rund um die Uhr Essen.

Im Frühling kam meine Klasse in unsere Feldküche. Ich habe mich gefreut, meine Schulkameraden herumzuführen. Sie haben mit uns in der Küche gefrühstückt, und nachdem sie unser Essen probiert hatten, sagten sie, dass es besser schmeckt als bei McDonald's!

Ich bin eine exzellente Schülerin. Wenn ich nach der Arbeit mit meiner Mutter nach Hause komme, esse ich, ziehe mich um und setze mich hin, um meine Schulaufgaben zu machen.

Ich besuche mit meiner Mutter auch Krankenhäuser, wir bringen den Verwundeten Essen, Bilder und Süßigkeiten, die wir selbst gemacht haben. Die Soldaten lieben es, mit mir zu sprechen; ich glaube, ich erinnere sie an ihre Kinder. Sie umarmen mich und sind überrascht, dass ich so klein bin und schon arbeite. Im Gegenzug danke ich ihnen, dass sie uns beschützen, und verköstige sie. Wenn unsere Soldaten gut genährt sind, sind sie immer gut gelaunt und gewinnen jede Schlacht!

Einmal sah ich einen alten Mann im Krankenhaus. Sein Arm war schwer verletzt. Wir gaben ihm ein paar Leckereien und als wir gingen, schenkte er mir eine handgefertigte Puppe, die dunkelgrün war. Ich trug an diesem Tag eine Jacke in dieser Farbe. Er sagte: ,Danke für alles!‘ und umarmte mich. Das war der beste Lohn für mich!“

„Ich weiß, wie sich die Kinder fühlen, die gerade neu an­ge­kommen sind“

Alina, 16, kam schon 2016 aus der Ukraine und lebt in Monheim am Rhein. Im vergangenen Schuljahr half sie ukrainischen Kindern, in Deutschland anzukommen. Jetzt startet die Tochter unserer Autorin an einem neuen Gymnasium, um ihr Abitur zu machen.

„Als der Krieg ausbrach, hatten wir zum ersten Mal ukrainische Kinder bei uns in der Schule. Ich sagte ihnen, dass sie zu mir kommen könnten, wenn sie Hilfe brauchten, und wo sie mich finden konnten. So hat es begonnen.

Wo sind die Klassenzimmer? Fällt der Unterreicht aus? Wie und wo kann ich in Ruhe mit einem Lehrer sprechen? Das sind Fragen, die ich immer wieder beantwortet habe. Es gab auch Fälle, in denen Ukrainer in der Schule beleidigt wurden. Ich ging dann zu den Lehrern und erklärte ihnen die Situation. Manchmal war es schwierig, weil ich nicht einmal wusste, an wen ich mich wenden sollte. Gott sei Dank haben wir alle Probleme gelöst.

Warum ich geholfen habe? Jedenfalls nicht nur, weil die Ukraine auch meine Heimat ist. Ja, ich habe mich in Deutschland gut integriert, habe die Sprache gelernt und jetzt viele deutsche Freunde. Aber auch für mich war es am Anfang sehr schwer. Ich weiß, wie sich die Kinder fühlen, die gerade neu angekommen sind.

Als ich nach Deutschland kam, ging ich in der 3. Klasse, und in der ganzen Schule gab es keinen einzigen Ukrainer. Ich sprach nicht ein einziges Wort Deutsch. Es fühlte sich an, als würde ich auf dem Mars landen und auf einmal Marsianisch sprechen müssen.

Die Direktorin meiner Grundschule in Leverkusen, Frau Struth, hat mir sehr geholfen. Sie hat mir neue Wörter in Bildern gezeigt und mit mir gelernt. Sie und ihr Hund Lucy waren immer für mich da. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.

Ich versuche, etwas zurückzugeben. Manchmal nehme ich meinen Hund Mickey mit, wenn ich weiß, dass geflüchtete Kinder über die Ereignisse in der Ukraine oder ihre Angehörigen sprechen wollen, die zurückgeblieben sind. Das funktioniert immer.

Und einmal habe ich für einen Jungen und seine Mutter am Telefon gedolmetscht, obwohl ich sie gar nicht persönlich kannte. Es ging um ein Problem mit der Krankenversicherung. Die Frau hat sich so sehr bei mir bedankt, dass es mich zu Tränen rührte.

Jetzt beginnt ein neuer Abschnitt für mich: Ich bin in eine neue Schule gewechselt, das Koblenzer Gymnasium in Düsseldorf. Ich bin sehr froh, dass meine Noten gut sind und möchte Abitur machen. Danach will ich Architektin werden, aber ich habe mich noch nicht endgültig entschieden.“



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