Vom Eisenbahnersohn aus Essen an die Spitze der Landesregierung. Das klingt wie eine sozialdemokratische Aufstiegsgeschichte aus dem Bilderbuch. Aber noch ist Thomas Kutschaty nicht am Ziel. Wie seine Geschichte weitergeht, ob er mit seiner Partei "das Morgen" gewinnt, wie es seine Wahlkplakate verheißen, entscheidet sich am 15. Mai.
Klar ist bisher nur: Dieses Bilderbuch ist spannend, aber es enthält nicht nur schöne Seiten. Wer ist dieser Thomas Kutschaty?
Thomas Kutschaty ist seit vier Jahren Oppositionsführer im Düsseldorfer Landtag und als Spitzenkandidat der SPD der Herausforderer von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Das muss hier noch einmal gesagt werden. Denn lange ist das vielen noch nicht bekannt.
Auf die Frage, ob Kutschaty ein guter Spitzenkandidat bei der Landtagswahl 2022 wäre, antworten noch im Januar letzten Jahres 47 Prozent der Befragten mit einem Achselzucken:
Kutschaty? Kenne ich nicht.
Für jemanden, der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslands werden möchte, ist das eine herausfordernde Ausgangslage.
Regierungschefinnen und-chefs haben es in puncto Bekanntheit leichter. Entweder sind sie - wie Armin Laschet - schon einmal gewählt worden und als Chefs eines Landes täglich in den Medien präsent. Oder sie können sich - wie Hendrik Wüst - in turbulenten Zeiten als kümmernder Landesvater profilieren. Und wenn der NRW-Regierungschef dann auch noch das Glück hat, die große Bühne der Ministerpräsidentenkonferenz bespielen zu dürfen, hat ein Oppositionsführer neben ihm es doppelt schwer. Ihm bleibt nur die kleinere Bühne des Düsseldorfer Landtags.
Doch die weiß Thomas Kutschaty zu nutzen. Als NRW-Justizminister übte er sich noch in eher braver Selbstverteidigung, inzwischen aber hat er in den Angriffsmodus geschaltet. Ministerpräsident Hendrik Wüst attestierte er jüngst, er sei der "Abwickler" der Regierung Laschet und kein Erneuerer. Er warf ihm vor:
Wir hatten alle Chancen. Sie haben keine davon genutzt.
Mit seinen Attacken auf die Regierung versprühte er bisweilen den Charme eines rauflustigen Terriers. Den früheren Ministerpräsidenten Laschet nannte er einen "Leichtfuß", Gesundheitsminister Laumann gar "rotzig und arrogant".
Für diesen "ungehobelten Vorwurf " solle Kutschaty sich entschuldigen, tönte es aus der CDU-Fraktion – was übersetzt bedeutet: Als Oppositionsführer, der Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, hat er alles richtig gemacht.
Am 12. Juni 1968 wird Thomas Kutschaty in Essen geboren. Er wächst in einer Sozialwohnung mit Kohleofen in Essen-Borbeck auf, einem ziemlich unglamourösen Stadtteil im Nordwesten der Stadt. Bis heute ist Kutschaty hier verwurzelt. Er lebt gleich nebenan in Schönebeck, wo es alte Zechensiedlungen gibt und engagiert er sich im Vorstand der dortigen Bergbaukolonie.
Sein Vater, ein Eisenbahner, nimmt ihn früh mit zu Kundgebungen der SPD. Der politische Weg scheint damit vorgezeichnet.
Schulisch aber geht er ganz eigene Wege. Er wird der erste Kutschaty, der seine Schullaufbahn mit dem Abitur beendet.
Noch vor dem Abitur tritt Kutschaty 1986 in die SPD ein. Dort durchläuft er die klassischen Stationen: 1987 wird er Sprecher der Jusos im Stadtbezirk Borbeck, danach Mitglied im Juso-Unterbezirksvorstand. Seit 1987 ist er Mitglied im Vorstand des SPD-Ortsvereins, den er seit 1994 anführt. Er wird unter anderem Mitglied der Bezirksvertretung und Sachkundiger Bürger im Ausschuss für Stadtplanung und Stadtentwicklung im Rat der Stadt Essen.
Nach dem Abitur 1987 am Essener Gymnasium Borbeck bleibt Kutschaty dem Ruhrgebiet treu und nimmt 1989 ein Jurastudium an der Ruhr-Universität in Bochum auf. Sechs Jahre später legt er sein Erstes Juristisches Staatsexamen am Oberlandesgericht Düsseldorf ab. Sein anschließendes Rechtsreferendariat beim Landgericht Essen endet 1997 mit dem Zweiten Staatsexamen. Als zugelassener Rechtsanwalt eröffnet er im Jahr darauf die Anwaltskanzlei "Kutschaty & Asch" - in Essen, wo sonst.
Doch die Arbeit als Anwalt reicht Kutschaty nicht. Schnell merkt er:
Irgendwann hilft die Anwendung von Recht nicht mehr, sondern ich muss das Recht, das Gesetz verändern, um etwas anpacken zu können.
Seine Ehefrau Christina lernt Thomas Kutschaty bei den Jusos kennen. Mit ihr bekommt er eine Tochter und zwei Söhne. Während seines Rechtsreferendariats am Landgericht Essen macht er als junger Vater etwas, was damals noch recht ungewöhnlich ist: Er nimmt als einer der ersten männlichen Referendare Erziehungsurlaub, während seine Frau sich auf ihr Diplom konzentriert.
2005 zieht Thomas Kutschaty in den Düsseldorfer Landtag ein. Seinen Essener Wahlkreis gewinnt er bei den Landtagswahlen stets direkt: 2005 mit 49,8 Prozent, 2010 mit 52,2 Prozent, 2012 mit 58 Prozent und 2017 mit 45,4 Prozent.
2010 macht ihn Hannelore Kraft in ihrer rot-grünen Minderheitsregierung zum Justizminister und damit zum Nachfolger von Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU). Nach der Neuwahl 2012 wird Kutschaty erneut an die Spitze des Ministeriums berufen.
In den insgesamt sieben Jahren als NRW-Justizminister bleibt Kutschaty eher blass. Sein ruhiger, auf Ausgleich gerichteter Stil soll sich später im Machtkampf um den Fraktionsvorsitz allerdings noch auszahlen.
In Erinnerung bleibt hingegen aus seiner Zeit als Minister der desolate Zustand vieler Gefängnisse in NRW. Schon in seine erste Amtszeit bis 2012 fallen mehrere Gefängnisausbrüche. So kann etwa 2012 ein Schwerkrimineller aus der JVA Bochum fliehen, indem er ein marodes Oberlicht aushebelt. Kutschaty muss daraufhin im Landtag Baupfusch an zahlreichen Gefängnissen einräumen.
Auch danach werden die Zustände in den Gefängnissen immer wieder Thema: 2016 begeht ein Häftling in der JVA Bochum Selbstmord, im selben Jahr wird in der JVA Wuppertal-Ronsdorf ein Häftling erwürgt - wegen 40 Euro Spielschulden. Einem 22-Jährigen gelingt unterdessen eine spektakuläre Flucht aus der JVA Heinsberg.
Den SPD-Vorsitz in Essen übernimmt Kutschaty 2016 in unruhigen Zeiten. Erst wehren sich SPD-Ortsvereine im Essener Norden gegen die - wie sie finden - ungerechte Verteilung von Flüchtlingen in der Stadt. Die SPD-Spitze kann gerade noch ihren Protestmarsch unter den Motto verhindern: "Genug ist genug - Integration hat Grenzen - der Norden ist voll". An den weiteren Protesten im Essener Norden beteiligen sich auch SPD-Mitglieder, unter anderem der SPD-Ratsherr Guido Reil.
Wenig später sogt Reil für die nächsten Negativ-Schlagzeilen. Nach 26 Jahren tritt er zuerst aus der SPD aus - und dann in die AfD ein. Ausgerechnet ein ehemaliger Bergmann wechselt in der einstigen SPD-Hochburg das Lager. Aus Frust, sagt Reil. Weil er sich übergangen fühlte, sagen die Sozialdemokraten.
Kutschaty sei als Vorsitzender konfliktscheu, heißt es zu dieser Zeit in der Essener SPD - die selbst seit Jahren als Trümmerhaufen gilt. Und sie kommt unter seiner Führung nicht aus den Schlagzeilen.
2016 muss die Essener Bundestagsabgeordnete Petra Hinz einräumen, ihren Lebenslauf gefälscht zu haben. Hinz hatte unter anderem vorgegeben, Juristin zu sein. Dabei hatte sie, wie sich später herausstellte, nicht einmal das Abitur. Dass dies ausgerechnet dem Juristen Kutschaty in all den Jahren und Gesprächen mit Hinz nicht aufgefallen sein soll, können viele kaum glauben. Aber Kutschaty gerät nicht nur deswegen unter Druck: Weil er Hinz ein Ultimatum zur Aufgabe ihres Bundestagsmandats setzt, wird ihm die Missachtung der Freiheit des Mandats vorgeworfen.
Die Landtagswahl 2017 wird zum Debakel für die SPD. Thomas Kutschaty zieht zwar als direkt gewählter Abgeordneter erneut in den Landtag ein, seine Partei erleidet aber in Essen sowie im ganzen Land herbe Verluste. Erstmals gelingt der AfD der Einzug in den Landtag. In Kutschatys Wahlkreis landet die AfD mit 13,1 Prozent sogar auf dem dritten Platz, ebenso wie ihr Direktkandidat Guido Reil.
Noch am Wahlabend macht die gescheiterte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft den Platz an der Parteispitze frei. Zum neuen Landesvorsitzenden wird der ehemalige Bauminister Michael Groschek gewählt. Fraktionschef im Landtag bleibt Norbert Römer - allerdings mit der Einschränkung, dass die Fraktionsspitze nach einem Jahr neu gewählt werden soll.
Kutschaty hat dabei (noch) niemand im Blick. Nur Hannelore Kraft aus Mülheim setzt früh auf ihren Ex-Minister aus der Nachbarstadt, was damals allerdings nicht den gewünschten Effekt hat. Römer und das Partei-Establishment favorisieren Marc Herter, den Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion und Ziehsohn des langjährigen Fraktionschefs Römer. Doch Kutschaty will bei dieser "Hinterzimmerpolitik" nicht mitmachen. Er kandidiert ebenfalls für den Posten des Fraktionsvorsitzenden - und kann sich in der Fraktion knapp mit 35 zu 31 Stimmen gegen Herter durchsetzen. Anschließend kündigt er einen neuen Aufbruch an.
Damit bestätigt sich auch, dass die SPD in NRW keine Politik in den Hinterzimmern macht, das ist ein gutes Zeichen und gutes Ergebnis.
Als es 2018 aber um die Frage geht, wer neuer Parteivorsitzender in NRW werden soll, lässt der Fraktionschef Kutschaty die Gelegenheit verstreichen, nun auch dieses Amt zu übernehmen. Einziger Kandidat - und damit wenig später Landesvorsitzender - wird der unbekannte Bundestagsabgeordnete Sebastian Hartmann aus Bornheim-Sechtem.
Doch die neue Doppelspitze aus Partei- und Fraktionsvorsitzendem harmoniert nicht. Hartmann wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, klare Ansagen sind nicht seine Stärke. Wer wissen will, was die NRW-SPD will, fragt in der Zeit lieber bei Fraktionschef Kutschaty nach. Das kann nicht gutgehen - und schlägt sich dann auch in den Beliebtheitswerten nieder. Im November 2019 kommt die SPD im NRW-Trend auf nur 20 Prozent und wird sogar von den Grünen überholt.
Ende 2020 kommt es dann bei der Neuwahl des Landesvorsitzenden zum offenen Machtkampf zwischen Kutschaty und Hartmann, ein Kampf, den Hartmann nicht gewinnen kann. Seine Unterstützer sitzen weit weg in der Bundestagsfraktion in Berlin, während der Fraktionsvorsitzende Kutschaty sich seine Basis in NRW gesichert hat.
Hinzu kommt das Debakel bei der Kommunalwahl: Nachdem die NRW-SPD im Herbst 2020 mit 24,3 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis einfährt, gerät der Landesvorsitzende Hartmann zusätzlich unter Druck. Der Fraktionsvorsitzende Kutschaty profiliert sich derweil während der Corona-Pandemie mit Attacken gegen die Landesregierung.
Der eher blasse Justizminister hat sich zum angriffslustigen Fraktionsvorsitzenden entwickelt, der nun nach der ganzen Macht in der Partei greift. Kurz vor dem entscheidenden Parteitag im Frühjahr 2021 zieht Hartmann entnervt und enttäuscht seine Kandidatur für den Landesvorsitz zurück - der Weg für Kutschaty ist frei. Auf einem digitalen Parteitag wird er mit 90,5 Prozent an die Parteispitze gewählt.
Doch der neue Landesvorsitzende steht gleich vor neuen Herausforderungen. Denn ohne eine starke NRW-SPD ist die anstehende Bundestagswahl im Herbst 2021 nicht zu gewinnen. Kutschaty muss seinen Landesverband aus dem Umfragetief führen und - was die Sache nicht einfacher macht - den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz unterstützen.
Als erklärter Gegner der Großen Koalition in Berlin hatte sich Kutschaty deutlich gegen den GroKo-Vizekanzler Scholz ausgesprochen, als dieser sich an die Spitze der Bundes-SPD wählen lassen will. Doch im Bundestagswahlkampf scheint das vergessen. Kutschaty sorgt erfolgreich für den nötigen Rückenwind aus NRW. Hier wird die SPD mit 29,1 Prozent wieder stärkste Kraft, im Bund liegt sie knapp vor der CDU. Olaf Scholz wird Bundeskanzler.
Das gibt uns natürlich Schwung, es zeigt, die SPD kann Wahlen gewinnen, wir können auch in den Ländern gewinnen.
Im NRW-Landtagswahlkampf revanchiert sich Scholz, indem er Kutschaty kräftig unterstützt. Der wiederum wirbt in NRW mit seinem direkten Draht nach Berlin. Zwischen Scholz und Kutschaty scheint kein Blatt zu passen.
Kutschaty hat zudem aus dem Bundestagswahlkampf gelernt und setzt nun auch in NRW auf wenige Themen: Wohnen, klimagerechte Arbeitsplätze, Gesundheit - und Bildung.
Ich möchte natürlich auch etwas zurückgeben, wovon ich profitieren konnte, nämlich einer guten Bildungspolitik, die mir diesen Aufstieg ermöglicht hat. Dafür kämpfe ich.
Denn auch für Kutschaty ist klar: Wahlen werden in NRW besonders mit der Schulpolitik gewonnen - oder verloren. Das Wahldebakel 2017 hatte Rot-Grün auch der Schulpolitik von Sylvia Löhrmann (Grüne) zu verdanken. Nun will es der SPD-Kandidat offenbar wieder mit den Grünen versuchen. Eine Ampelkoalition in NRW gilt als nicht unwahrscheinliches Szenario. Rein rechnerisch wäre sie nach dem letzten NRW-Trend möglich, allerdings könnte es auch ganz andere Konstellationen geben.
Festlegen will Kutschaty sich nicht. Er hält sich alle Optionen offen - und setzt dafür auf einen eher ruhigen, sachlichen Ton im Wahlkampf. Er weiß: Der gerade noch attackierte Gegner könnte der Regierungspartner von morgen sein. Und zum Morgen, das wissen nun alle, hat Kutschatys Partei ein besonders inniges Verhältnis.