Der 46-jährige Hendrik Wüst ist seit einem halben Jahr Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Und das will der CDU-Politiker auch bleiben. Ob das klappt, entscheiden am 15. Mai die Wählerinnen und Wähler in NRW. Wer ist Hendrik Wüst? Wofür steht er?
Den Weg in die Staatskanzlei haben viele glückliche Umstände geebnet. Aber in den Schoß gefallen ist Wüst das Amt nicht. Er war kein Laschet-Kronprinz und hatte genug Widersacher in der eigenen Partei.
Mit seinem Amtseid am 27. Oktober 2021 vollendet Hendrik Wüst die Wahl zum Ministerpräsidenten. Die knappe Mehrheit der CDU-FDP-Koalition steht, es gibt sogar drei Stimmen aus der Opposition dazu. Die Wahl "berührt" ihn:
Es dauert lange, bis in der CDU die Entscheidung für Wüst feststeht. Bis die Vorbehalte - zu konservativ, zu provinziell, politisches Leichtgewicht - der Zustimmung weichen. Erst nach der verlorenen Bundestagswahl ist die Laschet-Nachfolge in Düsseldorf entschieden.
Die Zeit bis dahin nutzt Hendrik Wüst für geschicktes Netzwerken - er baut seinen Rückhalt in Partei und Fraktion aus.
Während Markus Söder (CSU) im Bundestagswahlkampf auf offener Polit-Bühne gegen den gemeinsamen Unions-Kanzlerkandidaten Laschet stichelt und stänkert, findet der Machtkampf in Düsseldorf diskreter statt.
Dreh- und Angelpunkt aller Machtoptionen in NRW ist Artikel 52 der NRW-Landesverfassung: „Der Landtag wählt aus seiner Mitte den Ministerpräsidenten.“ Hendrik Wüst hat das zwingend notwendige Abgeordneten-Mandat. Seit 2005 holt er in seinem Wahlkreis Borken I, einer konservativen Hochburg, das Direktmandat.
Ohne Mandat ist hingegen Wüsts Konkurrenz: NRW-Innenminister Herbert Reul, ein Laschet-Vertrauter, und Multiministerin Ina Scharrenbach (Heimat, Kommunales, Bauen, Gleichstellung). Ihnen werden Ambitionen auf eines der Spitzenämter in der Staatskanzlei und der NRW-CDU-Parteizentrale nachgesagt. Mit viel Energie werden mitunter abenteuerliche Interims-Lösungen ersonnen, immer wieder die Spielräume der NRW-Verfassung ausgelotet.
Die historische Wahlniederlage der Union und das Laschet-Söder-Debakel spielen schließlich Wüst in die Hände und schließen die Reihen hinter ihm: Er wird NRW-CDU-Vorsitzender und Ministerpräsident.
Die wichtigste Personalentscheidung des frisch gewählten Ministerpräsidenten ist wohl nicht die Berufung von Ina Brandes (CDU) zur neuen Verkehrsministerin. Sondern die Kontinuität in der Machtzentrale: Er übernimmt Nathanael Liminski, Laschets Staatskanzlei-Chef.
Nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Überzeugung und wohl auch aus Zuneigung. Die beiden können gut miteinander, stehen sich politisch nahe. Schon als Minister pflegte Wüst seine Kontakte zu Liminski.
Das gute Verhältnis der beiden wird für alle in der Partei sichtbar, als Wüst auf dem Listenparteitag der CDU für den Corona-infizierten Liminski das Wort ergreift. Seine stellvertretende Bewerbungsrede ist von so viel Wertschätzung, Lob und Anerkennung getragen, dass die Delegierten Liminski auf den gewünschten Platz 12 der Liste wählen.
Dass Wüst ausgerechnet den als „Wunderkind“ und „Überflieger“ beschriebenen Liminski an seiner Seite hat, ist ein weiterer Glücksfall für den Christdemokraten.
Und Fortuna schenkt dem jungen Ministerpräsidenten gleich noch die ganz große bundespolitische Bühne: Er ist Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), dem zentralen Schaltorgan für die Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Dort kann er fortan in steter Regelmäßigkeit die wichtigsten Entscheidungen für alle im Land verkünden. Zunächst an der Seite von Angela Merkel (CDU), dann neben Olaf Scholz (SPD).
Der MPK-Vorsitz, der turnusmäßig zwischen den Ländern rotiert, katapultiert den jungen Ministerpräsidenten in die Umlaufbahn bundesweiter Bekanntheit. Er garantiert ihm Interviews in allen wichtigen Nachrichtensendungen der Republik zur besten Sendezeit.
Und wieder so ein glücklicher Umstand: Wüst profitiert davon, dass Bund und Länder aus den ruppigen Corona-Marathon-Sitzungen gelernt haben. Es werden kaum noch Indiskretionen aus der Runde durchgestochen. Lediglich eine Lästerei von Bundeskanzler Scholz findet den Weg in die Öffentlichkeit: "Amateur im Ministerpräsidenten-Kostüm" soll er Wüst genannt haben.
Hendrik Josef Wüst wird am 19. Juli 1975 in Rhede geboren, hier wächst er mit zwei älteren Schwestern auf. Der Vater arbeitet in der Textil-Industrie. Seine Mutter ist gelernte Metzgerin und arbeitet in der Fleischerei seiner Großeltern. Sie stirbt jung an Krebs, Hendrik verliert seine Mutter als er 19 ist.
Wüst pflegt die Traditionen des Ortes, ist Mitglied im Schützenverein und in der Kreisjägerschaft Borken. Sein Abitur macht er knapp hinter der Stadtgrenze in Bocholt, für sein Jura-Studium bleibt er der Region treu und geht nach Münster. Das Referendariat absolviert er in Münster, Coesfeld und Brüssel.
Sein Haus baut Wüst 2012 in Rhede. Erst danach lernt er in einer Düsseldorfer Kneipe seine Frau Katharina kennen, „sie kommt auch von hier, totaler Zufall“, freut sich Wüst. 2021 kommt Tochter Philippa zur Welt.
Die Karriere des Politikers Wüst beginnt im Alter von 15 Jahren, da gründet er mit Freunden einen Stadtverband der Jungen Union in Rhede. Später wird er Stadtverordneter im Rat der Stadt und Ortsvorsitzender der CDU. Als er 25 ist, wählt ihn die Junge Union in NRW zum Landesvorsitzenden. Zwei Jahre später ist er bereits Beisitzer im Bundesvorstand der CDU. Dort trifft er regelmäßig das CDU-Spitzenpersonal: Ministerpräsidenten und die Bundesvorsitzende Merkel.
Der Jungpolitiker Wüst profiliert sich mit provokanten Thesen. 2004 wird eine seiner Ideen zur Bild-Schlagzeile, es geht um "Ekel-Jobs" für Arbeitslose. Wüst schlägt in der Zeitung vor:
"Warum sollen Arbeitslose nicht Spielplätze sauber halten, die häufig mit Hundekot, Glasscherben und Drogenspritzen verschmutzt sind?"
Zur Landtagswahl 2005 tritt er dann erstmals erfolgreich als Direktkandidat im Wahlkreis Borken I an. Und zieht als damals jüngster Abgeordneter in den Landtag ein.
Aber Wüst hat sich nie auf seine Karriere als Berufspolitiker verlassen. Sein Jura-Studium schließt er 2003 mit dem zweiten Staatsexamen ab. Bereits ein Jahr zuvor beginnt er eine Tätigkeit für die Lobbyagentur Eutop. Seine Tätigkeit dort dauert bis 2005.
2006 wird Wüst zum Generalsekretär des größten CDU-Landesverbands gewählt. Sein Vorgänger Hans-Joachim Reck hatte genervt aufgegeben, von Mobbing und Kleinkriegen in Rüttgers Staatskanzlei war die Rede. Der 30-Jährige übernimmt also den Job als Parteimanager in schwierigem Fahrwasser.
In den kommenden Jahren erarbeitet er sich einen kantigen Ruf, wie damalige Presse-Schlaglichter zeigen:
„schneidiger Law-and-Order-Politiker“ (SZ)
„hart gesottener Wadenbeißer“ (FAZ)
„Rüttgers‘ Mann fürs Grobe" (Zeit)
Diese Zuschreibungen liegen an seinem Auftreten und an polarisierenden Kampagnen, die oft mit Frontalangriffen gegen die SPD und deren Hoffnungsträgerin Hannelore Kraft einhergehen.
Wüst erfindet zum Beispiel „Kraftilanti“ – das Kunstwort soll einen Wortbruch der hessischen SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti auf Hannelore Kraft übertragen. Ypsilanti hatte vor der Landtagswahl 2008 ein Bündnis mit der Linken ausgeschlossen, nach der knapp gewonnenen Wahl aber dennoch angestrebt und war damit gescheitert.
Zu den missglückten Kampagnen gesellen sich persönliche Versäumnisse von Hendrik Wüst: Vom Landtag bezieht er unrechtmäßige Zuschüsse zu seiner privaten Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung. Er gesteht den Fehler ein und zahlt das Geld zurück.
Den Rücktritt und den größten Knick in seiner Karriere leitet eine Affäre ein, die unter dem Schlagwort „Rent-a-Rüttgers“ bekannt wird: Nur wenige Monate vor der Landtagswahl 2010 steht die Landesregierung unter dem Verdacht der Käuflichkeit.
Die Partei hatte Unternehmen angeworben, sich auf ihrem Landesparteitag zu präsentieren. Gespräche mit Rüttgers konnten für einen Aufpreis hinzugebucht werden. Bereits auf dem Parteitag 2008 hatte die NRW-CDU für ihren Landesparteitag „Partnerpakete“ mit Rüttgers-Talk angepriesen.
Wüst bietet Rüttgers im Februar 2010 seinen Rücktritt als Generalsekretär an. Dessen Abwahl kann er aber nicht verhindern. Allen Negativ-Kampagnen zum Trotz wird Hannelore Kraft Ministerpräsidentin.
Trotz der Rent-a-Rüttgers-Affäre wird Wüst 2010 in seinem Wahlkreis wieder direkt in den Landtag gewählt. Und übernimmt dort die Funktion als wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion.
Wichtiger jedoch für den Einfluss in der Partei ist, dass er 2013 zum Landesvorsitzenden der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) in NRW gewählt wird - eine durchaus machtvolle Unterorganisation der Partei.
Neben seinem Landtagsmandat - das eigentlich eine Vollzeitbeschäftigung ist - hat Wüst in den kommenden Jahren bis 2017 zeitweise mehrere Geschäftsführer-Jobs als Medienlobbyist inne: Beim Zeitungsverlegerverband NRW, beim Verband der Betriebsgesellschaften NRW, bei der Pressefunk GmbH und Co KG und bei der dein.fm Holding GmbH und Co KG.
In dieser Zeit der Mehrfachtätigkeiten legt sich Wüst ein neues, smartes Image zu, das er auch heute noch pflegt. Kein Vergleich zum mitunter nassforschen General, der als arrogant wahrgenommen wurde.
Der neue Hendrik Wüst ist von ausgesuchter Freundlichkeit, aufmerksam, zuvorkommend. Er lächelt sehr viel, hört geduldig zu. Aber was denkt Hendrik Wüst dabei? In seinem Gesicht ist es nicht abzulesen.
Dass Armin Laschet nach seinem Wahlerfolg 2017 Hendrik Wüst in die Regierung beruft, ist ein Versuch, die Konkurrenz in die Kabinettsdisziplin einzubinden.
Wüst bekommt ein um Zuständigkeiten gerupftes Verkehrsministerium. In den vergangenen Jahrzehnten gehörten zum Ministerium in unterschiedlichen Konstellationen die Bereiche Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung, Energie, Wirtschaft oder auch Mittelstand. Ausschließlich Verkehr - das gab es nur in den ersten Nachkriegsjahren.
Und Laschet belastet den Verkehrsminister mit der Bürde eines vollmundigen Wahlversprechens: die Staus auf den Autobahnen in NRW massiv zu reduzieren.
Diese Erwartungen stutzt Hendrik Wüst im Westblick-Interview im Juli 2017 erst mal auf Realmaß:
Doch Wüst deutet die Last der großen Aufgabe in eine Chance um. Im Podcast „Wirtschaft aktuell“ sagt er am 22.02.2021:
„Nachdem 30 Jahre in den Osten investiert werden musste, war der Westen wieder dran. Das war allen klar, auch vorher schon, darum haben Bund und Land ausgiebig Geld zur Verfügung gestellt, auf Jahre, auch in die Zukunft, durchfinanziert.“
Ehrlicherweise erwähnt er, dass sein Vorgänger Michael Groschek (SPD) „sehr erfolgreich dafür gesorgt hat, dass Nordrhein-Westfalen, der Westen in Summe, wieder dran war“. Wüst erzählt, für ihn sei klar gewesen:
„Der Tiefpunkt war erreicht, die Talsohle war durchschritten, jetzt geht es wieder aufwärts und dann kannst du Minister werden, weil jeder weiß, hier ist Schrott, hier ist Ärger, damit hat der Wüst nix zu tun, das hat der nicht verursacht, aber er ist der, der es fertig machen muss. Das gibt noch genug Ärger und Kritik, aber deshalb hab ich das eigentlich gerne angenommen, Mobilität in NRW besser, sicherer und auch ganz wichtig, sauberer zu machen.“
Zu den wichtigsten Bauprojekten des Landes zählt der Neubau der Leverkusener Rheinbrücke auf einer der zentralen Verkehrsachsen im Land. Als sich Probleme mit minderwertigem Stahl aus China abzeichnen, zieht Wüst im April 2020 die Reißleine und kündigt dem Generalunternehmer Porr. Der weist die Vorwürfe zurück.
Ein heikles Unterfangen: Der juristische Unterbau der Kündigung muss ähnlich stabil sein wie der Stahl der neuen Brücke. Hier kann Wüst seine Krisen-Manager-Qualitäten unter Beweis stellen: Der Neubau wird komplett neu ausgeschrieben.
Hat Hendrik Wüst seinen Job als Verkehrsminister gut gemacht? Der WDR und Infratest Dimap haben im NRW Trend 2017 und 2022 jeweils vor der Landtagswahl gefragt, welche Partei im Bereich Verkehr die Aufgaben am besten löst. Das Ergebnis ist für die CDU mehr als ernüchternd: Sie landet nur noch auf Platz zwei hinter den Grünen und büßt 14 Prozentpunkte ein.
Welche Hobbys hat der Ministerpräsident? Über die Jagd redet Wüst heute ungern, sie ist wohl zu polarisierend. 2007 bekannte er noch freimütig in der "taz":
„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass das Beute machen bei der Jagd keinen Spaß macht – auch wenn ich selbst keinen opulenten Trophäenschrank habe.“
Lieber redet Wüst heute immer wieder über das Radfahren. So auch im WDR-Film "Der Weg an die Macht: Hendrik Wüst oder Thomas Kutschaty?"
Der Wahlwerbespot der CDU setzt ganz auf den Radfahrer Wüst: Helm auf, Sportbike geschnappt, ab in den Wald, mit Speed aus der Kurve. Wassergraben? Kein Problem, Wüst schultert sein Rad, springt fix drüber. Der Spot bietet die maximale Ausbeute bei dem Versuch, das positive Image des Radfahrens auf den Spitzenkandidaten zu übertragen.
Ein Radaktivist ist Wüst aber dennoch nicht. Auch wenn er als Verkehrsminister in NRW das erste "Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz" in einem bundesdeutschen Flächenland verantwortet.
Zurück geht das Gesetz auf die Volksinitiative "Aufbruch Fahrrad". Ihre Kernforderung: die Steigerung des Radverkehrs in NRW von aktuell rund 11 Prozent auf 25 Prozent bis zum Jahr 2025. Am Ende eines dreijährigen Gesetzgebungsprozesses stellt die Iniative ernüchtert fest, dass sich keine einzige ihrer Forderungen im Gesetz wiederfindet.
Es enthält stattdessen zahlreiche "Hätte-Könnte-Sollte"-Bestimmungen. Politik kann konkret gestalten. Oder sie kann vage Gestaltungsspielräume eröffnen. Wüsts Fahrradgesetz macht letzteres.
Hendrik Wüst schafft es, in nur drei Sätzen eine Entscheidung zugleich zu verteidigen und auf den Prüfstand zu stellen. So zum Beispiel in einem ARD-Interview zur Corona-Politik im November 2021. Es geht um das bevorstehende Bundesliga-Derby zwischen Köln und Mönchengladbach vor 50.000 Zuschauenden - trotz hoher Infektionszahlen. Wüst sagt:
"Wir haben in dieser Woche beschlossen, dass überall im Freizeitbereich 2G gilt, auch in einem Stadion, an der frischen Luft. Ich glaube, das ist bei der Lage in Nordrhein-Westfalen eine angemessene Entscheidung. Aber richtig ist, dass wir immer wieder auf den Prüfstand stellen müssen, was die angemessenen Reaktionen sind in der Pandemie."
Und nach dem Spiel, dessen Bilder einer jubelnden Menschenmenge deutschlandweit für Aufsehen sorgen, sagt Wüst:
„Solche Bilder wie in Köln darf es nicht wieder geben."
Immer wieder umschifft Hendrik Wüst in Interviews die raue See konkreter Festlegungen und steuert lieber in das ruhige Gewässer des Sowohl-als-auch.
Damit verkörpert Wüst einen modernen Politiker-Typus, der anschlussfähig bleiben will. Wer heute regieren will, muss mit allen demokratischen Parteien koalitionsfähig sein. Das gilt auch in NRW, wo es gut sein könnte, dass künftig nur ein Dreier-Bündnis eine mehrheitsfähige Regierung bilden kann.
Aber es ist ein schmaler Grat zwischen Anschlussfähigkeit und Beliebigkeit. Es stellt sich die Frage: Wofür steht Hendrik Wüst eigentlich?
Als junger Politiker ist Hendrik Wüst stramm konservativ. Im Jahr 2000 gibt er, gerade frisch gewählt zum JU-Landesvorsitzenden, der Wochenzeitung "Junge Freiheit" ein Interview. Das Blatt gilt schon damals als Sprachrohr der "neuen Rechten".
Das Interview fällt in die Zeit, als über eine "deutsche Leitkultur" diskutiert wurde. Darin sagt Hendrik Wüst, es müsse im bürgerlichen Lager „wieder in Mode kommen, sich zu Deutschland zu bekennen“. Und das macht Wüst dann auch und sagt, er sei stolz, Deutscher zu sein.
„Ich glaube, würden sich bürgerliche Politiker viel deutlicher zum Deutsch-sein und zur Nation bekennen, würde man viele Parolen, wie etwa die Aussage: ‚Ich bin stolz ein Deutscher zu sein‘, nicht Leuten überlassen, die dann im Nachsatz gleich chauvinistische Dinge hinterherbringen. Das wäre auch ein Schutz vor Radikalismus.“
Sieben Jahre später, 2007, da ist er gerade ein Jahr im Amt des NRW-CDU-Generalsekretärs, ist Wüst Mitverfasser des Konzeptpapiers „Moderner bürgerlicher Konservatismus – Warum die Union wieder an ihre Wurzeln denken muss“. Die Autoren gelten in der Union als "junge Wilde". Neben Wüst sind es Markus Söder (damals CSU-Generalsekretär), Philipp Mißfelder (JU-Vorsitzender) und Stefan Mappus (später Ministerpräsident von Baden-Württemberg).
Sie bekennen sich zur deutschen Leitkultur, zitieren Franz-Josef Strauß und Ludwig Erhard. Sie nennen sich "konservativ im Herzen – progressiv im Geist“, sie beklagen „in Deutschland gibt es zuwenig Kinder“, sie wollen ungeborenes Leben schützen und Akzeptanz für Eltern, die ihre Kinder nicht betreuen lassen. Die Schöpfung soll bewahrt werden, die Atomenergie auch. Sie propagieren den schlanken Staat, den Abbau von Bürokratie, ein einfaches Steuersystem sowie Eigenvorsorge und Selbstverantwortung der Menschen.
Als Wüst 2017 Verkehrsminister wird, sagt er im WDR-Westblick zum Konzeptpapier:
Welche Haltung Wüst zur Integration hat, ist nicht leicht zu fassen, wenn man sich einige seiner Äußerungen binnen weniger Wochen anschaut.
Am 18. Februar 2022 erscheint ein Gastbeitrag des Ministerpräsidenten in der auflagenstärksten türkischen Tageszeitung "Hürriyet". Anlass ist die Feier von 60 Jahren Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland. Wüst wendet sich direkt an die Zugewanderten:
"Danke, dass sie damals zu uns gekommen sind und am Wiederaufbau und Erfolg unserer Volkswirtschaft mitgearbeitet haben. Und, viel wichtiger: danke, dass sie geblieben sind!"
Am 20. April kritisiert Wüst plötzlich eine Entscheidung der Stadt Köln, die bereits ein halbes Jahr alt ist: Muslimischen Gemeinden wird auf Antrag und unter Auflagen der Muezzin-Ruf erlaubt. Diese Entscheidung würde "ohne Not und Anlass" den gesellschaftlichen Frieden zwischen den Bevölkerungsgruppen gefährden:
"Denn die Ankündigung der Stadt kommt ja quasi einem Aufruf an alle Moscheegemeinden gleich, Anträge auf Einführung des Muezzin-Rufs zu stellen. Ich habe die Sorge, dass damit möglicherweise mehr Streit in die Gesellschaft getragen als der Integration gedient wird."
Damit fängt sich Wüst viel Kritik ein - darunter ist auch der Vorwurf des Rechtspopulismus. Und nur fünf Tage später dann die Kehrtwende in einem Interview mit der NZZ:
"Ein Muezzin-Ruf kann ein Beitrag zur Integration sein."
Wollte Hendrik Wüst austesten, wie weit er gehen kann?
Die Ausweitung der Mallorca-Affäre um NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser bringt die Union Anfang April im Wahlkampf in Bedrängnis. Wüst ist gerade als Vorsitzender der Ministerpräsidenten-Konferenz in Berlin, da explodiert der Affären-Kessel, der schon seit Wochen brodelte.
NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser hatte im Juli 2021, kurz nach der Flutkatastrophe, die allein in NRW 49 Menschenleben forderte, ihren Mallorca-Urlaub fortgesetzt. Zunächst sprach sie von vier Tagen, um ihre minderjährige Tochter nach Hause zu begleiten. Am Ende kommt raus, es waren neun Tage. Heinen-Esser begründete die Differenz mit einem "Bürofehler" bei Angabe der Reisedaten.
Am 7. April enthüllt der "Kölner Stadt-Anzeiger", dass Heinen-Esser in dieser Zeit auf Mallorca mit weiteren Kabinetts-Mitgliedern den Geburtstag ihres Ehemanns feierte.
Am Mittag tritt Heinen-Esser vor die Presse - und lehnt einen Rücktritt ab. Binnen weniger Stunden ändert sie ihre Meinung und tritt am Abend doch zurück. Dazwischen: ein Telefonat mit Hendrik Wüst, das wohl die Meinungsbildung bei Heinen-Esser befördert hat.
Schnell stellt sich die Frage, die auch Reporterin Rebecca Kirkland dem Ministerpräsidenten im WDR-Film "Der Weg an die Macht: Hendrik Wüst oder Thomas Kutschaty?" stellt: Wann wusste er von der Feier auf Mallorca?
Diese ausweichende Antwort Wüsts auf die viel gestellte Frage gibt es in vielen Variationen. Ruhe kommt damit nicht in die Mallorca-Affäre.
Sie weitet sich sogar aus und zieht die SPD mit rein. Weil ein studentischer Mitarbeiter der SPD-Abgeordneten Sarah Philipp eine Instagram-Freundschaftsanfrage an die Tochter von Heinen-Esser stellte, spricht die Union von einer "Ausspäh-Affäre". Der Wahlkampf wird zur Schlammschlacht.
"Machen, worauf es ankommt" - unter diesem Motto wirbt Wüst im Wahlkampf für sich. Aber worauf kommt es ihm an? Wofür steht er inhaltlich? Hat sich sein einst streng konservatives Weltbild geändert?
Festhalten können wir, dass Wüst wandlungsfähig ist. Anpassungsfähig. Auch durchsetzungsfähig in Partei und Fraktion.
Sollte ihm bei der Landtagswahl am 15. Mai ein Wahlsieg gelingen, dann wird er als im Amt bestätigter Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslands gewiss zum neuen starken Mann in der CDU werden – neben Friedrich Merz. Vielleicht sogar irgendwann vor ihm.
Sollte er verlieren, wäre es nicht die erste schwere politische Niederlage in seinem Leben. Im WDR-Film "Der Weg an die Macht: Hendrik Wüst oder Thomas Kutschaty?" antwortet Wüst auf die Frage, ob sein eigener Rücktritt als Generalsekretär 2010 aus ihm einen besseren Politiker gemacht habe:
NRW beschließt erstes Fahrradgesetz: Verbände dennoch enttäuscht
Hendrik Wüst, der neue Landesvorsitzende der Jungen Union in Nordrhein-Westfalen, über Erneuerung in der Union - Interview mit der "Jungen Freiheit"
Lobbycontrol über die Agentur Eutop
Podcast "Wirtschaft aktuell" mit Hendrik Wüst
Konzeptpapier: "Moderner bürgerlicher Konservatismus" (2007) [PDF]
"Ich riskiere schlechte Überschriften" - Interview in der taz vom 05.05.2007
NRW-Umweltministerin Heinen-Esser tritt zurück
"Mallorca-Gate": CDU wirft SPD "Ausspäh"-Versuch vor
Mallorca-Affäre: Wüst muss von ungenauen Angaben seiner Umweltministerin gewusst haben