150 Kilogramm Sprengstoff gegen 17.000 Tonnen Stahl und Beton: Am Sonntag wird die für den Verkehr seit 2021 gesperrte Rahmedetalbrücke gesprengt. So soll das Bauwerk fallen.
Von Jörn Kießler
Wenn Michael Schneider am Sonntag um Punkt 12 Uhr auf die beiden Knöpfe des Sprengcomputers drückt, passiert erst einmal: nichts. Drei bis fünf Sekunden lang. So lange braucht der Rechner, um zu prüfen, ob alle Zünder korrekt mit den 2.035 Sprengladungen verbunden sind, die die Rahmedetalbrücke zu Fall bringen sollen. Erst dann knallt es und 17.000 Tonnen Stahl und Beton krachen in sich zusammen.
Michael Schneider, 62, ist Sprengmeister. Er hat Brücken und Kühltürme in ganz Deutschland zum Einsturz gebracht, 2007 sogar die ehemalige Olympia-Sprungschanze in Garmisch-Partenkirchen. Jetzt ist eine weitere Autobahnbrücke auf der A45 dran.
Alles Routine, also? Schneider sagt, er sei vor jeder Sprengung nervös. Doch diesmal sei etwas anders: „Man muss immer bedenken, dass diese Baustelle eine unglaubliche politische Brisanz hat“, sagt er. „Gott sei Dank hat man es nicht ständig im Hinterkopf, dass man so im Fokus steht.“
Die Brücke, die auf der A45 bei Lüdenscheid über die winzige Rahmede führt, ist aktuell die wohl bekannteste Autobahnbrücke Deutschlands. Sie ist seit dem 2. Dezember 2021 für den Verkehr komplett gesperrt. Bei einer Untersuchung waren Verformungen, Risse und Korrosionsschäden entdeckt worden.
Die Sperrung ist eine Katastrophe für Anwohner, die Stadt Lüdenscheid und die ganze Wirtschaftsregion. Seit eineinhalb Jahren quälen sich täglich Tausende Pendler und Lastwagen über eine Umleitungsstrecke, die an einer Stelle sogar in Sichtweite der Brücke durch das Tal verläuft, während sie in der Politik über die Frage streiten, wer das Desaster zu verantworten hat: die alte rot-grüne Landesregierung oder die spätere schwarz-gelbe.
Und dann ist da noch die Sprengung selbst. In der Rahmedetalbrücke sind alleine 9.000 Tonnen Stahl verbaut. Zum Vergleich: Der Eiffelturm besteht aus 10.100 Tonnen Stahl. An ihrer höchsten Stelle liegt die Fahrbahn 70 Meter über der Talsohle. Und nur wenige Meter neben den längsten Stahlbetonpfeilern der Brücke stehen Gebäude.
„Die Brücke darf keinen Millimeter nach rechts oder nach links fallen“, sagt Sprengmeister Schneider, sie müsse präzise in sich zusammensacken. „Kein Millimeter“, das heißt konkret: Schneider hat einen Spielraum von 1,50 Meter auf beiden Seiten. Nur, wenn er sich in diesem Rahmen bewegt, kommt keines der Wohnhäuser oder Firmengebäude zu Schaden.
Schneiders hochgestecktes Ziel: „dass bei der Sprengung keine Scheibe zu Bruch geht“.
Wenn Pfeiler und Fahrbahn senkrecht nach unten fallen, sprechen Fachleute von einer sogenannten Kollapssprengung. Um das hinzubekommen, haben Michael Schneider und sein Team an jedem der zehn Stützpfeiler der Rahmedetalbrücke zwei sogenannte Sprengmäuler angebracht – eines am Fuß des Pfeilers, ein zweites an der Mitte des Pfeilers.
Die Bohrlöcher am Fuß der Brücke werden dabei so gesetzt, dass die Explosion der einzelnen Sprengladungen den gesamten Pfeiler in Richtung Hang kippen lässt. Die Sprengladungen in der Mitte der Pfeiler wirken in die entgegengesetzte Richtung und lassen den oberen Teil des Pfeilers in Richtung Tal kippen.
Läuft alles nach Plan, knickt der Pfeiler genau in der Mitte zusammen. Die obere Hälfte fällt genau auf die untere Hälfte. Und die 453 Meter lange Fahrbahn obendrauf.
Die folgende Animation zeigt, wie die Brücke genau fallen soll:
Das Team von Sprengmeister Schneider bohrte mehr als 2.000 Löcher in die Pfeiler der Rahmedetalbrücke, um 150 Kilogramm Sprengstoff zu verlegen – in Einheiten zwischen 50 und 210 Gramm. Um sie miteinander zu verbinden, wurde ein Kilometer Zündkabel verwendet.
Die Bohrlöcher mussten die Arbeiter übrigens gleich wieder verschließen, damit keine Fledermäuse oder Vögel darin nisten.
Um die Gebäude im Tal vor der Druckwelle der Explosion zu schützen, hat das Sprengteam Überseecontainer aufgebaut und mit Erde oder Wasserbehältern gefüllt – als Schutzwall. Auch gegen den Schutt, der den Hang hinunterrutschen könnte.
Um das steile Gelände unter den Brückenenden abzuflachen, rollen schon Wochen vor der Sprengung Kipplaster die Hänge hinauf und laden tonnenweise Erde ab. Bagger verteilen insgesamt 100.000 Kubikmeter Material und formen daraus ein dickes Fallbett, in das die Brücke nach der Sprengung stürzen soll.
Für Sprengmeister Schneider kommt erschwerend hinzu, dass beim Bau vor mehr als 54 Jahren weniger Stahl in den Brückenpfeilern verwendet wurde als angenommen. In der Regel werden Brücken im Vorfeld einer Sprengung „geleichtert“, wie es bei der Autobahn GmbH heißt, die seit 2021 für alle Autobahnen in Deutschland verantwortlich ist. Dabei werde so viel Material wie möglich abgetragen, um die Sprengung zu erleichtern.
An der Rahmedetalbrücke war das jedoch nicht möglich. Die Brücke wird also mit ihrem vollen Gewicht ins Tal krachen.
Bevor es am Sonntag ernst wird, muss Schneider erst sichergehen, dass sich niemand mehr in unmittelbarer Nähe der Brücke aufhält, dafür kommt unter anderem eine Drohne mit Wärmebildkamera zum Einsatz. Ab 9 Uhr gibt es ein absolutes Betretungsverbot in einem Radius von etwa 100 Metern um jeden Pfeiler.
Dann wird zunächst eine sogenannte Vergrämungssprengung ausgelöst. Sie soll dafür sorgen, dass alle Tiere – in erster Linie Vögel – verscheucht werden. 30 Sekunden später drückt Sprengmeister Schneider gleichzeitig auf die beiden Auslöser an seinem Sprengcomputer. Sind alle Sprengpatronen korrekt angeschlossen, ist das Ende der alten Rahmedetalbrücke wenig später besiegelt.
Für das Abbruchunternehmen beginnt dann das große Aufräumen. Bis zum 10. Juni soll die Altenaer Straße, die unter der Rahmedetalbrücke hindurch führt, soweit von den Überresten der Brücke befreit sein, dass dort wieder Autos fahren können.
Michael Schneider hat seinen Job dann schon erledigt. Ausruhen wird er sich aller Voraussicht nach aber nicht. Auf der A45 warten noch mehrere Brücken auf ihre Sprengung.
💡 Einst galt die A45 als die „Königin der Autobahnen“. Heute ist sie vor allem eins: kaputt.