Von Auschwitz nach Detmold
Von Auschwitz nach DetmoldDen Holocaust überlebt
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Deportation
Endstation AuschwitzTransport ins Ungewisse
Justin Sonder über die Ankunft in Auschwitz
Die Türen des Güterwaggons werden geöffnet. Es ist Nacht. SS-Männer brüllen Kommandos. Die Deportierten müssen Name und Beruf nennen. Ein SS-Offizier schickt sie entweder nach links oder nach rechts. "17 Jahre, Monteur", sagt Justin Sonder. Er solle stehen bleiben, sagt ein SS-Offizier.
Auschwitz III Arbeitslager Monowitz
Auschwitz III Arbeitslager Monowitz
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz besteht aus drei Hauptteilen. Im Stammlager (Auschwitz I) sind unter anderem sowjetische Kriegsgefangene und Frauen eingesperrt. Im Block 10 machen SS-Ärzte medizinische Menschenversuche. Block 11 dient als Folter- und Strafblock. Zwischen den beiden Blöcken liegt die "Schwarze Wand", an der die SS tausende Häftlinge erschießt.
Im Lager Birkenau (Auschwitz II) treffen die Deportationszüge ein. Dort befinden sich auch die Gaskammern und Krematorien. Wer die Selektion an der Rampe überlebt, wird als Zwangsarbeiter im Lager Monowitz (Auschwitz III) untergebracht. Die zumeist jüdischen Häftlinge müssen auf dem angrenzenden Werksgelände der I.G. Farben, einem Zusammenschluss deutscher Chemieunternehmen, schuften. Dort werden sie unter anderem bei der Produktion des synthetischen Kautschuks "Buna" eingesetzt. Die Bezeichnung Buna wird deshalb auch für das Lager Monowitz verwendet.
Kartenübersicht zu den drei Hauptlagern
Auf dieser Satellitenkarte kann die Lage von Auschwitz I (Stammlager), Auschwitz II (Birkenau) und Auschwitz III (Monowitz) nachvollzogen werden.
Das KZ Auschwitz - damals und heute
IdentitätsverlustHaare ab, Drillich an
Justin Sonder über Tätowierung und Vergasung
Am ersten Tag in Auschwitz wird den Häftlingen eine Nummer tätowiert. Justin Sonder erhält die 105027. Die an der Verladerampe Aussortierten hingegen hatten noch eine Lebenserwartung von maximal 180 Minuten. Sie wurden mit dem Giftgas Zyklon B bestialisch ermordet.
Selektionen
Systematische VernichtungArbeitsfähig oder ins Gas?
Justin Sonder über den Ablauf einer Selektion
Am frühen Morgen reißt ein SS-Mann die Barackentür auf und schreit: "Selektion!" Bis zu vier Stunden müssen die Häftlinge nackt warten, bis sie der Reihe nach begutachtet werden. Die Ungewissheit ist unerträglich: "Darf ich weiter Arbeitssklave sein oder lebe ich nur noch zwei Stunden?"
17 Selektionen überlebt
17 Selektionen überlebt
Wer nach der Selektion aufgerufen wird, muss auf die Ladefläche eines Lkw steigen und wird davongefahren. Ihnen wird gesagt, sie kämen in ein anderes Lager, wo die Arbeit leichter sei. "Die Häftlinge sind also friedlich und ahnungslos in den Tod gegangen", sagt Justin Sonder. "Nur wenn man länger drin war, sickerte durch, was Selektion wirklich bedeutete." Nach gut zwei Stunden kommt der Lkw zurück. Auf der Ladefläche liegt nur noch die abgelegte blau-weiß gestreifte Drillichkleidung. Sie kommt in die Desinfektion und wird wieder aufbereitet.
Justin Sonder schafft es, insgesamt 17 Selektionen zu überstehen. Obwohl er noch so jung ist, gilt er bald als alter Häftling. Noch gefährlicher als im Lager Monowitz, wo alle fünf bis sechs Wochen selektiert wird, ist es im Krankenrevier. Dort sind die Intervalle mit acht bis zehn Tagen deutlich kürzer. Deshalb vermeiden die erfahrenen Häftlinge, sich krank zu melden. Doch manchmal lässt es sich nicht vermeiden. Auch Justin Sonder ist zwei Mal im Krankenrevier. Eigentlich ein Todesurteil.
Justin Sonder über seine Lungenentzündung
Durch die dünnen Holzwände im Krankenrevier hört Justin Sonder, wie ein SS-Mann sagt: "Morgen machen wir eine Selektion, das geht so gut wie alles ins Gas." Er informiert den diensttuenden Häftlingsarzt. Dieser versteckt Justin Sonders Karte. Nur zehn oder zwölf kranke Häftlinge überleben.
Knie-OperationOhne Narkose
Justin Sonder über seine zweite Selektion im Krankenrevier
Nach der Knie-OP sagt Justin Sonder dem Häftlingsarzt, er wolle zurück ins Lager. Er habe Angst vor einer Selektion. Der Arzt sieht keine Gefahr. Doch am nächsten Morgen findet eine Selektion statt. Justin Sonder kommt auf die Todesliste. Der Arzt überredet die SS, ihn von der Liste zu streichen.
Alltag im Lager
Sklavenarbeit im I.G.-Farben-Werk
Sklavenarbeit im I.G.-Farben-Werk
Den Ausmarsch der Arbeitskommandos zum I.G.- Farben-Werk wird vom lagereigenen Orchester mit Marschmusik begleitet. Justin Sonder muss mit den anderen Häftlingen Zementsäcke schleppen, schwere Elektrokabel tragen, Eisenbahnwaggons anschieben oder Schachtarbeiten ausführen. "Wir mussten täglich rund elf Stunden arbeiten." Zu Mittag gibt es eine sogenannte Buna-Suppe. "Wenn man Glück hatte, waren mal ein paar Stückchen Kartoffeln drin oder etwas Kraut." Um zwölf Uhr fährt jeweils ein Lkw mit Hänger voll beladen mit erschossenen, erschlagenen und entkräfteten Häftlingen ins Lager zurück.
Am Abend beim Einmarsch ins Lager steht manchmal ein Häftling vor dem Lagertor und ruft auf Befehl der SS immer wieder: "Hurra, hurra, ich bin wieder da." Ein Zeichen dafür, dass auf dem Appellplatz noch eine Hinrichtung stattfindet. "Meistens waren es solche, die bei einem Fluchtversuch erwischt worden waren." Bevor sie gehängt werden, rufen sie ihren Mithäftlingen noch letzte Worte zu wie zum Beispiel "Nieder mit Nazi-Deutschland". Eine Hinrichtung bleibt Justin Sonder besonders im Gedächtnis.
Justin Sonder über die Hinrichtung eines 16-Jährigen
Auf dem Appellplatz steht ein Jugendlicher mit der Schlinge um den Hals. "So etwas hatten wir Häftlinge noch nie erlebt", sagt Justin Sonder. Der 16-jährige Grieche soll ein Stück Brot gestohlen haben. Kurz vor seiner Hinrichtung sagt er ein Wort, das in fast allen Sprachen gleich ist: "Mama!"
Schicksal der ElternZwiespältige Neuigkeiten
Justin Sonder über das Wiedersehen mit seinem Vater
Von einem Häftling erfährt Justin Sonder, dass sein Vater noch lebt und im Hauptlager ist: "Wir wollen euch zusammen führen." Tatsächlich erscheint der Vater im Lager Monowitz – mit einer schlechten Nachricht: "Deine Mutter hat man ermordet." Justin Sonder weint das einzige Mal im Lager.
Durchhalten und Widerstand
ÜberlebenswilleStrafen als Ansporn
Justin Sonder über seine Auspeitschung
Wer in Auschwitz ausgepeitscht wird, muss die 25 Schläge selbst zählen. Justin Sonder schafft es, nicht vor Schmerz zu schreien. Das imponiert der SS, weil das kaum jemandem gelingt. Als Belohnung erhält er bis zum Ende seiner Haftzeit eine Kelle mehr zu essen – die er mit anderen teilt.
Politisierung In den Widerstand aufgenommen
Politisierung In den Widerstand aufgenommen
"Du musst was machen", sagt sich Justin Sonder. Die Gelegenheit dazu eröffnet sich im September 1944 nach seiner Knie-OP im Krankenrevier. Um ihn nicht der Gefahr einer weiteren Selektion auszusetzen, bietet ihm der behandelnde Häftlingsarzt, der selbst Gefangener ist, den Wechsel in den Quarantäne-Block an: "In den geht die SS nicht mehr rein." Denn dort liegen Patienten mit hochansteckenden Flecktyphus. Für Justin Sonder ist das Risiko, tödlich zu erkranken, geringer als selektiert zu werden. Er willigt ein - und hat Glück. Der Mithäftling Heinz Lippmann, der im Quarantäne-Block als Pfleger arbeitet, schmuggelt ihn in der Nacht aus der Infektionszone.
Der Berliner Kommunist Heinz Lippmann fragt: "Wir haben dir eine Frage zu stellen: Wie verhältst du dich am Tag X?" An dem Tag also, an dem sämtliche Häftlinge vergast, erschlagen oder erschossen werden. Euphorisch antwortet Justin Sonder: "Ich kämpfe bis zum letzten Atemzug, und drei SS-Männer müssen mitgehen in den Tod." Daraufhin macht ihm Heinz Lippmann ein Angebot: "Du wirst als einer der Jüngsten in die Widerstandsorganisation aufgenommen und bekommst zu gegebener Zeit von uns einen Auftrag. Wirst du annehmen?" Ohne Zögern sagt Justin Sonder zu. Ende September 1944 kann er mit dem verheilten Knie wieder zur Arbeit. Im Dezember 1944 teilt ihm dann ein unbekannter Häftling den Auftrag mit. Im Visier: die Produktion synthetischen Kautschuks im I.G.-Farben-Werk.
Justin Sonder über seine Widerstandsaktion
Der Auftrag lautet: Die Granulat-Säcke, die für die Enteisung der Kautschuk-Produktion geliefert werden, sind unbrauchbar zu machen. Beim Abladen vom Lkw schlitzt Justin Sonder die Säcke mit einem Nagel auf. Die Sabotage wird von der SS nicht als solche erkannt. Sie geht von defekten Säcken aus.
Todesmärsche
Auschwitz wird geräumt In offenen Kohlewaggons
Auschwitz wird geräumt In offenen Kohlewaggons
Der Transport erreicht Sachsenhausen nach ungefähr acht Tagen. Beim ersten Zählappell stellt sich heraus, dass von den 7.000 Häftlingen nur noch 3.800 am Leben sind. Nach etwa einer Woche werden sie weiter getrieben. Justin Sonder kommt mit seinem Vater zusammen ins KZ Flossenbürg in der Oberpfalz. Dort verlieren sich die beiden aus den Augen. Das Lager ist völlig überfüllt. "Die Betten waren dreistöckig, und wir mussten zu achtzehnt darin liegen", sagt Justin Sonder. "Nachts sind die Betten zusammengebrochen, die SS schlug dazwischen." Trotz der Kälte sind die Fenster der Baracken offen. "Damit wir Luft bekamen."
Von einem SS-Offizier bekommt Justin Sonder den Auftrag, neun jugendliche Häftlinge auszusuchen. Die Gruppe muss desinfizierte, noch nasse Oberbekleidung von ermordeten Frauen zum Trocknen aufhängen. "Während dieser Zeit war die SS extrem aufgeregt, es gab Schläge und Schikanen am laufenden Band." Der Kriegsverlauf sorgt bei den Bewachern für schlechte Stimmung. Auch Justin Sonder wird zusammengeschlagen. Am 16. April 1945 müssen die Häftlinge das KZ Flossenbürg verlassen. Sie marschieren zur Bahnstation Floß, wo sie sich in offene Güterwaggons drängen müssen. Zuvor erlebt Justin Sonder, wie ein Streit um ein Stück Brot eskaliert.
Justin Sonder über einen tödlichen Brot-Streit
An der Bahnstation Floß steigen die Häftlinge in Güterwaggons ein. Derweil streiten sie zwei Gefangene um ein Stück Brot. Ein SS-Offizier nimmt es ihnen weg, teilt es und gibt jedem die Hälfte. Beide müssen sich mit dem Brot hinknien. Der SS-Mann zieht seine Pistole und erschießt die Männer.
Panik bei der SSKontrolle um jeden Preis
Justin Sonder über ein Bajonett-Gemetzel
Um Ruhe herzustellen, schlägt der SS-Mann in die Menge und verletzt dabei Häftlinge an Augen, Nase und Händen. Justin Sonder will ihn beruhigen. Er wechselt solange den Platz, bis er neben dem SS-Mann sitzt und verwickelt ihn verbotenerweise in ein Gespräch – mit Erfolg: Das Gemetzel hört auf.
Zweiter TodesmarschIn Richtung Dachau
Befreiung
US-Truppen rücken vorFrontlinie erreicht
Justin Sonder über seine Befreiung durch US-Truppen
Plötzlich hört Justin Sonder ein Geräusch, das er nicht kennt. Es sind US-Panzer. Ein SS-Mann spricht die Häftlinge nun als "Kameraden" an. "Das war für uns das Signal", sagt Justin Sonder. Die Häftlinge erheben sich und rennen den Amerikanern entgegen. "Urplötzlich war die Freiheit da."
US-PassierscheinEndlich nach Hause
Justin Sonder über das zweite Wiedersehen mit seinem Vater
Im US-Hauptquartier in Hof sagt Justin Sonder, er habe Hunger. Er wird ins Rathaus und von dort in eine Gaststätte geschickt. Während des Essens entdeckt sein früherer Breslauer Mithäftling ein bekanntes Gesicht. Justin Sonder schreit auf: Es ist sein Vater. Mit ihm geht er in Richtung Chemnitz.
Februar 1943 bis Juli 1945Justin Sonders Route
Legende
blau: Deportation
rot: Evakuierung/Todesmärsche
grün: Heimweg
Kriegsverbrecher-Prozess
Verfahren in DetmoldJustin Sonder, Nebenkläger
Justin Sonder über die Bedeutung des Detmolder Prozesses
Der Wert dieses Prozesses bestehe darin, dass ohne die 6.000 SS-Leute die Morde in Auschwitz nicht möglich gewesen seien. "Wir holen uns jetzt die Mittäter", sagt Justin Sonder. "Keine Bestrafung, das ist Unsinn. Nein, die Welt soll wissen, wir ziehen auch die Mittäter zur Rechenschaft."
Erinnerung und MahnungNie wieder
Justin Sonder über seine Prägung durch Auschwitz
"Ich lebe mit Auschwitz", sagt Justin Sonder. Die dort begangenen Verbrechen seien unvergleichlich. Auschwitz dürfe nicht verniedlicht werden. Die Nachgeborenen seien unschuldig, müssten aber Verantwortung übernehmen. Denn: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."