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Justin Sonder, Nebenkläger im Detmolder Auschwitz-Prozess

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Von Auschwitz nach Detmold

Der Weg von Justin Sonder - wir erzählen seine Geschichte in neun Kapiteln: von der Deportation nach Auschwitz, über den Alltag im Lager, die Todesmärsche bis hin zu seiner Nebenklage im Kriegsverbrecher-Prozess in Detmold.

Die Videos, Audios und Texte bauen aufeinander auf, stehen jedoch auch einzeln für sich: Man kann sich die ganze Geschichte durch Scrollen in der Reihenfolge der Kapitel ansehen. Dafür braucht man etwa 45 Minuten. Wer nur einzelne Elemente auswählen oder die Reihenfolge selbst bestimmen will, kann dies mit der "Übersicht" in der Navigation an der rechten Seite tun.
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Deportation

Chemnitz, 27. Februar 1943: Als Justin Sonder um sechs Uhr früh das Haus verlässt, wird er von der Gestapo verhaftet. Der 17-Jährige ist Jude, seine Eltern wurden bereits im Mai 1942 abgeholt. Sie kamen zunächst nach Theresienstadt und später nach Auschwitz. Ihr Sohn musste in Chemnitz Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb leisten. Nun wird er nach Dresden gebracht und zusammen mit Männern, Frauen und Kindern in einen fensterlosen Güterwaggon gepfercht. Das Ziel der Fahrt ist unbekannt. Irgendwann hält der Zug, die Türen werden geöffnet. Es ist Nacht, Scheinwerfer erleuchten eine schneebedeckte Fläche.
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Justin Sonder über die Ankunft in Auschwitz

Die Türen des Güterwaggons werden geöffnet. Es ist Nacht. SS-Männer brüllen Kommandos. Die Deportierten müssen Name und Beruf nennen. Ein SS-Offizier schickt sie entweder nach links oder nach rechts. "17 Jahre, Monteur", sagt Justin Sonder. Er solle stehen bleiben, sagt ein SS-Offizier.

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Justin Sonder wartet in der Kälte und hat große Angst. Es ist alles geschwindelt, was er dem SS-Offizier bei der Selektion an der Rampe erzählt hat. Der 17-Jährige hat überhaupt keine Verwandten mehr in Deutschland. Alle sind tot oder deportiert. Die erwähnte Tante ist lediglich eine Bekannte. Doch der SS-Offizier forscht nicht nach. Er befiehlt: "Du schreibst jetzt deiner Tante!" Es kommt zu einer skurrilen Situation: Der Häftling muss auf dem Rücken des SS-Offiziers eine Karte schreiben. Der diktierte Inhalt: "Bin gut im Arbeitslager Monowitz angekommen."

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz besteht aus drei Hauptteilen. Im Stammlager (Auschwitz I) sind unter anderem sowjetische Kriegsgefangene und Frauen eingesperrt. Im Block 10 machen SS-Ärzte medizinische Menschenversuche. Block 11 dient als Folter- und Strafblock. Zwischen den beiden Blöcken liegt die "Schwarze Wand", an der die SS tausende Häftlinge erschießt.

Im Lager Birkenau (Auschwitz II) treffen die Deportationszüge ein. Dort befinden sich auch die Gaskammern und Krematorien. Wer die Selektion an der Rampe überlebt, wird als Zwangsarbeiter im Lager Monowitz (Auschwitz III) untergebracht. Die zumeist jüdischen Häftlinge müssen auf dem angrenzenden Werksgelände der I.G. Farben, einem Zusammenschluss deutscher Chemieunternehmen, schuften. Dort werden sie unter anderem bei der Produktion des synthetischen Kautschuks "Buna" eingesetzt. Die Bezeichnung Buna wird deshalb auch für das Lager Monowitz verwendet.






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Kartenübersicht zu den drei Hauptlagern

Auf dieser Satellitenkarte kann die Lage von Auschwitz I (Stammlager), Auschwitz II (Birkenau) und Auschwitz III (Monowitz) nachvollzogen werden.

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"Bei der Ankunft in Monowitz kamen wir in einen Duschraum", erinnert sich Justin Sonder. Die Häftlinge werden am ganzen Körper rasiert. Sie erhalten Holzpantinen und blau-weiß gestreifte Drillichkleidung. "Ohne Mantel, obwohl es noch Winter war." Jeder Häftling bekommt zudem eine Nummer, die er auf seine Kleidung nähen muss. "Ich erhielt die 105027." Auch müssen Winkel aufgenäht werden. Justin Sonder ist Jude und gilt zudem als politischer Häftling, der einen roten Winkel tragen muss. Dafür ist eine doppelte Kennzeichnung vorgesehen: "Wir hatten den roten Winkel, über den andersrum ein gelber Winkel genäht wurde, sodass das von der Form her den Judenstern ergab." Hinzu kommt eine Besonderheit des KZ Auschwitz.
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Justin Sonder über Tätowierung und Vergasung

Am ersten Tag in Auschwitz wird den Häftlingen eine Nummer tätowiert. Justin Sonder erhält die 105027. Die an der Verladerampe Aussortierten hingegen hatten noch eine Lebenserwartung von maximal 180 Minuten. Sie wurden mit dem Giftgas Zyklon B bestialisch ermordet.

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Selektionen

Am zweiten Tag im Lager Monowitz erfährt Justin Sonder, dass auch er ein Todeskandidat ist. "Nur solange wir arbeiten können, haben wir eine Chance am Leben zu bleiben", sagt ihm der kommunistische Mithäftling Max Brudner, der ebenfalls aus Chemnitz stammt. Ansonsten drohe die umgehende Vergasung. Bei den sogenannten Selektionen entscheide die SS, wer weiterleben dürfe. Nur wer dabei einen gesunden Eindruck vermittle, überstehe diese Auswahl. Dieses Wissen dürfe Sonder aber niemandem gegenüber erwähnen. "Es wäre dein Tod." Eine unheimlich belastende Situation für den 17-Jährigen.
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Justin Sonder über den Ablauf einer Selektion

Am frühen Morgen reißt ein SS-Mann die Barackentür auf und schreit: "Selektion!" Bis zu vier Stunden müssen die Häftlinge nackt warten, bis sie der Reihe nach begutachtet werden. Die Ungewissheit ist unerträglich: "Darf ich weiter Arbeitssklave sein oder lebe ich nur noch zwei Stunden?"

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Bei den Selektionen erscheinen die SS-Offiziere in Begleitung eines SS-Arztes. "Auf Kommando mussten wir nackt vorbei defilieren", sagt Justin Sonder. Kranke und ausgemergelte Häftlinge, bei denen Rippen und Beckenknochen hervortreten, bezeichnet die SS als "Muselmänner". Wenn dieser Ausdruck fällt, senkt der leitende SS-Offizier den Daumen nach unten. Der Schreiber notiert die Häftlingsnummer.

Wer nach der Selektion aufgerufen wird, muss auf die Ladefläche eines Lkw steigen und wird davongefahren. Ihnen wird gesagt, sie kämen in ein anderes Lager, wo die Arbeit leichter sei. "Die Häftlinge sind also friedlich und ahnungslos in den Tod gegangen", sagt Justin Sonder. "Nur wenn man länger drin war, sickerte durch, was Selektion wirklich bedeutete." Nach gut zwei Stunden kommt der Lkw zurück. Auf der Ladefläche liegt nur noch die abgelegte blau-weiß gestreifte Drillichkleidung. Sie kommt in die Desinfektion und wird wieder aufbereitet.

Justin Sonder schafft es, insgesamt 17 Selektionen zu überstehen. Obwohl er noch so jung ist, gilt er bald als alter Häftling. Noch gefährlicher als im Lager Monowitz, wo alle fünf bis sechs Wochen selektiert wird, ist es im Krankenrevier. Dort sind die Intervalle mit acht bis zehn Tagen deutlich kürzer. Deshalb vermeiden die erfahrenen Häftlinge, sich krank zu melden. Doch manchmal lässt es sich nicht vermeiden. Auch Justin Sonder ist zwei Mal im Krankenrevier. Eigentlich ein Todesurteil.
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Justin Sonder über seine Lungenentzündung

Durch die dünnen Holzwände im Krankenrevier hört Justin Sonder, wie ein SS-Mann sagt: "Morgen machen wir eine Selektion, das geht so gut wie alles ins Gas." Er informiert den diensttuenden Häftlingsarzt. Dieser versteckt Justin Sonders Karte. Nur zehn oder zwölf kranke Häftlinge überleben.

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Die zweite dramatische Situation im Krankenrevier erlebt Justin Sonder im September 1944. Er hat große Schmerzen, weil während der Arbeit sein Knie angeschwollen ist. Der diensthabende SS-Arzt bezeichnet es höhnisch als "Elefantenfuß" und malt mit Jod ein Hakenkreuz darauf. Justin Sonder wird anschließend von einem Häftlingsarzt operiert: Vier Mithäftlinge halten Arme und Beine, einer legt sich auf den Brustkorb, ein anderer steckt ein Stück Stoff in den Mund. "Dann wurde das Knie ohne Narkose geöffnet." Die offene Wunde wird nur mit Papier abgedeckt, Verbandsmaterial gibt es nicht. Doch Justin Sonder beschäftigt nicht die Angst vor einer Infektion, sondern etwas anderes. Er spricht den Operateur an.
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Justin Sonder über seine zweite Selektion im Krankenrevier

Nach der Knie-OP sagt Justin Sonder dem Häftlingsarzt, er wolle zurück ins Lager. Er habe Angst vor einer Selektion. Der Arzt sieht keine Gefahr. Doch am nächsten Morgen findet eine Selektion statt. Justin Sonder kommt auf die Todesliste. Der Arzt überredet die SS, ihn von der Liste zu streichen.

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Alltag im Lager

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Geweckt werden die Häftlinge im Lager Monowitz gegen fünf Uhr. "Dann folgte der Bettenbau", sagt Justin Sommer. "Die Strohsäcke und die Decken mussten auf Kante gelegt werden – solange, bis die SS damit zufrieden war." Statt eines Frühstücks gibt es nur eine Kelle Malzkaffee. Anschließend müssen sich die Häftlinge auf dem Appellplatz aufstellen. Von der Liste gestrichen werden die Toten der Nacht. Darunter sind auch jene, die sich aus Verzweiflung in den elektrischen Draht gestürzt haben oder auf dem Weg dorthin erschossen wurden.

Den Ausmarsch der Arbeitskommandos zum I.G.- Farben-Werk wird vom lagereigenen Orchester mit Marschmusik begleitet. Justin Sonder muss mit den anderen Häftlingen Zementsäcke schleppen, schwere Elektrokabel tragen, Eisenbahnwaggons anschieben oder Schachtarbeiten ausführen. "Wir mussten täglich rund elf Stunden arbeiten." Zu Mittag gibt es eine sogenannte Buna-Suppe. "Wenn man Glück hatte, waren mal ein paar Stückchen Kartoffeln drin oder etwas Kraut." Um zwölf Uhr fährt jeweils ein Lkw mit Hänger voll beladen mit erschossenen, erschlagenen und entkräfteten Häftlingen ins Lager zurück.

Am Abend beim Einmarsch ins Lager steht manchmal ein Häftling vor dem Lagertor und ruft auf Befehl der SS immer wieder: "Hurra, hurra, ich bin wieder da." Ein Zeichen dafür, dass auf dem Appellplatz noch eine Hinrichtung stattfindet. "Meistens waren es solche, die bei einem Fluchtversuch erwischt worden waren." Bevor sie gehängt werden, rufen sie ihren Mithäftlingen noch letzte Worte zu wie zum Beispiel "Nieder mit Nazi-Deutschland". Eine Hinrichtung bleibt Justin Sonder besonders im Gedächtnis.
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Justin Sonder über die Hinrichtung eines 16-Jährigen

Auf dem Appellplatz steht ein Jugendlicher mit der Schlinge um den Hals. "So etwas hatten wir Häftlinge noch nie erlebt", sagt Justin Sonder. Der 16-jährige Grieche soll ein Stück Brot gestohlen haben. Kurz vor seiner Hinrichtung sagt er ein Wort, das in fast allen Sprachen gleich ist: "Mama!"

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Seit ihrer Verhaftung im Mai 1942 hat Justin Sonder nichts mehr von seinen Eltern gehört. Er weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist. Beide stammen aus Franken und haben mit ihrem einzigen Kind in Chemnitz gewohnt. Vater Leo hat als Vertreter einer Weinfirma gearbeitet, Mutter Zita ist oft krank gewesen. Zu ihr hat Justin Sonder ein besonders enges Verhältnis. Er liebt sie über alles. Erst im Frühjahr 1943 erfährt er im Lager Monowitz, wie es seinen Eltern nach der Deportation ergangen ist. Ein Häftling bringt ihn mit seinem Vater zusammen.
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Justin Sonder über das Wiedersehen mit seinem Vater

Von einem Häftling erfährt Justin Sonder, dass sein Vater noch lebt und im Hauptlager ist: "Wir wollen euch zusammen führen." Tatsächlich erscheint der Vater im Lager Monowitz – mit einer schlechten Nachricht: "Deine Mutter hat man ermordet." Justin Sonder weint das einzige Mal im Lager.

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Durchhalten und Widerstand

Wenn beim Abendappell die Anzahl der Häftlinge nicht mit den Listen übereinstimmt, verhängt die SS eine Kollektivstrafe: "Alle Häftlinge standen manchmal zwölf bis 14 Stunden, ohne Essen", sagt Justin Sonder. "Ich bin dadurch nicht gedemütigt worden, ganz im Gegenteil, es hat mich gestärkt. Mein Wille, das zu überleben, wurde dadurch erst richtig angestachelt." Religion ist Justin Sonder beim Durchhalten keine Hilfe: "Der liebe Gott ist mir in Auschwitz abhanden gekommen." Er setzt stattdessen auf Selbstdisziplin: Trotz Hunger teilt er sein Essen ein. "Das schafften die meisten nicht." Er macht auch Pausen bei der Zwangsarbeit – und wird einmal erwischt. Die Strafe: öffentliches Auspeitschen.
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Justin Sonder über seine Auspeitschung

Wer in Auschwitz ausgepeitscht wird, muss die 25 Schläge selbst zählen. Justin Sonder schafft es, nicht vor Schmerz zu schreien. Das imponiert der SS, weil das kaum jemandem gelingt. Als Belohnung erhält er bis zum Ende seiner Haftzeit eine Kelle mehr zu essen – die er mit anderen teilt.

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"So stelle ich mir die Sklavenarbeit im alten Ägypten vor", sagt Justin Sonder beim Steineschleppen zum Mithäftling Arthur Guttentag - und fragt ihn: "Was haben die Sklaven denn dagegen gemacht?" Der junge Kommunist aus München antwortet: "Kennst du die 'Internationale'? Das ist ein Kampflied der revolutionären Arbeiterklasse." Er zitiert die Zeile: "Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun." Justin Sonder ist begeistert: "Das legte den Grundstock für mein politisches Denken und Handeln."

"Du musst was machen", sagt sich Justin Sonder. Die Gelegenheit dazu eröffnet sich im September 1944 nach seiner Knie-OP im Krankenrevier. Um ihn nicht der Gefahr einer weiteren Selektion auszusetzen, bietet ihm der behandelnde Häftlingsarzt, der selbst Gefangener ist, den Wechsel in den Quarantäne-Block an: "In den geht die SS nicht mehr rein." Denn dort liegen Patienten mit hochansteckenden Flecktyphus. Für Justin Sonder ist das Risiko, tödlich zu erkranken, geringer als selektiert zu werden. Er willigt ein - und hat Glück. Der Mithäftling Heinz Lippmann, der im Quarantäne-Block als Pfleger arbeitet, schmuggelt ihn in der Nacht aus der Infektionszone.

Der Berliner Kommunist Heinz Lippmann fragt: "Wir haben dir eine Frage zu stellen: Wie verhältst du dich am Tag X?" An dem Tag also, an dem sämtliche Häftlinge vergast, erschlagen oder erschossen werden. Euphorisch antwortet Justin Sonder: "Ich kämpfe bis zum letzten Atemzug, und drei SS-Männer müssen mitgehen in den Tod." Daraufhin macht ihm Heinz Lippmann ein Angebot: "Du wirst als einer der Jüngsten in die Widerstandsorganisation aufgenommen und bekommst zu gegebener Zeit von uns einen Auftrag. Wirst du annehmen?" Ohne Zögern sagt Justin Sonder zu. Ende September 1944 kann er mit dem verheilten Knie wieder zur Arbeit. Im Dezember 1944 teilt ihm dann ein unbekannter Häftling den Auftrag mit. Im Visier: die Produktion synthetischen Kautschuks im I.G.-Farben-Werk.
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Justin Sonder über seine Widerstandsaktion

Der Auftrag lautet: Die Granulat-Säcke, die für die Enteisung der Kautschuk-Produktion geliefert werden, sind unbrauchbar zu machen. Beim Abladen vom Lkw schlitzt Justin Sonder die Säcke mit einem Nagel auf. Die Sabotage wird von der SS nicht als solche erkannt. Sie geht von defekten Säcken aus.

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Todesmärsche

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Am 18. Januar 1945 wird Auschwitz evakuiert. Die Rote Armee rückt vor, die Front kommt näher. Etwa 55.000 Häftlinge sollen nach Westen verlegt werden. "Wir liefen und liefen", sagt Justin Sonder, der mit seinem Vater unterwegs ist. "Es war eiskalt und alles schneebedeckt." Wer nicht mehr kann, wird von der SS erschossen, erschlagen oder liegengelassen. Nach 79 Kilometer Todesmarsch erreicht die Kolonne von Justin Sonder Gleiwitz. Dort werden 7.000 Häftlinge in offene Kohle-Waggons verladen. "Gestorben sind die Menschen auf der Fahrt wie die Fliegen." Ziel ist Mauthausen in Österreich. Doch das dortige KZ ist überfüllt. Der Zug fährt weiter ins KZ Sachsenhausen in der Nähe von Berlin.

Der Transport erreicht Sachsenhausen nach ungefähr acht Tagen. Beim ersten Zählappell stellt sich heraus, dass von den 7.000 Häftlingen nur noch 3.800 am Leben sind. Nach etwa einer Woche werden sie weiter getrieben. Justin Sonder kommt mit seinem Vater zusammen ins KZ Flossenbürg in der Oberpfalz. Dort verlieren sich die beiden aus den Augen. Das Lager ist völlig überfüllt. "Die Betten waren dreistöckig, und wir mussten zu achtzehnt darin liegen", sagt Justin Sonder. "Nachts sind die Betten zusammengebrochen, die SS schlug dazwischen." Trotz der Kälte sind die Fenster der Baracken offen. "Damit wir Luft bekamen."

Von einem SS-Offizier bekommt Justin Sonder den Auftrag, neun jugendliche Häftlinge auszusuchen. Die Gruppe muss desinfizierte, noch nasse Oberbekleidung von ermordeten Frauen zum Trocknen aufhängen. "Während dieser Zeit war die SS extrem aufgeregt, es gab Schläge und Schikanen am laufenden Band." Der Kriegsverlauf sorgt bei den Bewachern für schlechte Stimmung. Auch Justin Sonder wird zusammengeschlagen. Am 16. April 1945 müssen die Häftlinge das KZ Flossenbürg verlassen. Sie marschieren zur Bahnstation Floß, wo sie sich in offene Güterwaggons drängen müssen. Zuvor erlebt Justin Sonder, wie ein Streit um ein Stück Brot eskaliert.
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Justin Sonder über einen tödlichen Brot-Streit

An der Bahnstation Floß steigen die Häftlinge in Güterwaggons ein. Derweil streiten sie zwei Gefangene um ein Stück Brot. Ein SS-Offizier nimmt es ihnen weg, teilt es und gibt jedem die Hälfte. Beide müssen sich mit dem Brot hinknien. Der SS-Mann zieht seine Pistole und erschießt die Männer.

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An der Bahnstation Floß steigen nicht nur Häftlinge in die offenen Güterwaggons, sondern auch SS-Männer als Bewacher. Offenbar sollen unter allen Umständen Fluchtversuche und möglicher Widerstand der Häftlinge unterbunden werden. Die näher kommende Front macht die SS nervös: Die Alliierten stoßen immer weiter vor. Der SS-Mann in Justin Sonders Waggon ist mit einem Bajonett ausgerüstet. Damit will er die Lage unter Kontrolle bringen und erweist sich dabei als besonders brutal. Justin Sonder versucht ihn zu stoppen.
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Justin Sonder über ein Bajonett-Gemetzel

Um Ruhe herzustellen, schlägt der SS-Mann in die Menge und verletzt dabei Häftlinge an Augen, Nase und Händen. Justin Sonder will ihn beruhigen. Er wechselt solange den Platz, bis er neben dem SS-Mann sitzt und verwickelt ihn verbotenerweise in ein Gespräch – mit Erfolg: Das Gemetzel hört auf.

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Bei einem Halt des Zuges am 20. April 1945 tauchen plötzlich zwei US-Flugzeuge auf. Die SS-Leute verstecken sich im Bahnhofsgebäude. Die Häftlinge müssen in den Waggons bleiben. Beim Luftangriff werden 133 von ihnen getötet. Die Lokomotive wird mehrmals getroffen, eine Weiterfahrt ist unmöglich. Für Justin Sonder beginnt der zweite Todesmarsch – in Richtung KZ Dachau. Seine Kolonne wird auch von jenem SS-Mann begleitet, der im Zug ein Gemetzel mit dem Bajonett angerichtet hat. Dieser lässt Justin Sonder ein Essgeschirr voller Brot tragen - eine große Versuchung. Doch Justin Sonder isst keinen Bissen. Die Strafe wäre tödlich: "Auf dem Marsch zerrte er nämlich massenhaft Häftlinge an den Straßenrand, die dann von anderen SS-Leuten erschossen wurden."
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Befreiung

Die Nacht zum 23. April 1945 verbringt Justin Sonders Marschkolonne in einer Scheune. Sie steht bei Wetterfeld, einem bayerischen Dorf zwischen Cham und Roding. Dass es für Justin Sonder ein Tag unbeschreiblicher Freude wird, weiß er noch nicht. Im Gegenteil: Als er am Morgen aufwacht, bekommt er einen gewaltigen Schrecken. Das Essgeschirr mit dem Brot des SS-Mannes ist weg. "Die anderen hatten ja mitbekommen, was ich da bei mir trug." Doch dem SS-Mann bleibt keine Zeit mehr, um ihn zu bestrafen. "Früh wurden wir kurz rausgejagt, um unsere Notdurft verrichten zu können, danach wurden wir wieder in die Scheune gesperrt." Dann passiert etwas Unerwartetes.
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Justin Sonder über seine Befreiung durch US-Truppen

Plötzlich hört Justin Sonder ein Geräusch, das er nicht kennt. Es sind US-Panzer. Ein SS-Mann spricht die Häftlinge nun als "Kameraden" an. "Das war für uns das Signal", sagt Justin Sonder. Die Häftlinge erheben sich und rennen den Amerikanern entgegen. "Urplötzlich war die Freiheit da."

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Justin Sonder bleibt bis zum 8. Mai 1945 in Wetterfeld. Dann ziehen die Amerikaner ab, und die Franzosen übernehmen das Dorf. Der ehemalige französische Mithäftling Leon Marx sagt: "Was willst du in Deutschland, im Land der Mörder? Geh mit mir nach Frankreich!" Doch Justin Sonder will zurück nach Chemnitz. "Das habe ich mit meinem Vater so ausgemacht. Ich hoffe, dass er noch lebt." Justin Sonder macht sich mit einem früheren Häftling aus Breslau auf den Weg. Unterwegs werden sie von einer US-Patrouille angehalten. Weil sie keine Papiere haben, werden sie zur Überprüfung nach Hof gebracht. Dort entschuldigt sich der leitende Offizier, als er erfährt, dass die beiden im KZ waren. Sie erhalten Passierscheine für die Heimreise. Und Justin Sonder hat noch eine Bitte.
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Justin Sonder über das zweite Wiedersehen mit seinem Vater

Im US-Hauptquartier in Hof sagt Justin Sonder, er habe Hunger. Er wird ins Rathaus und von dort in eine Gaststätte geschickt. Während des Essens entdeckt sein früherer Breslauer Mithäftling ein bekanntes Gesicht. Justin Sonder schreit auf: Es ist sein Vater. Mit ihm geht er in Richtung Chemnitz.

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Lege
nde
blau
: Deportation
rot: Evakuierung/Todesmärsche
grün: Heimweg





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Kriegsverbrecher-Prozess

Am 19. Juli 1945 erreicht Justin Sonder mit seinem Vater Chemnitz. Leo Sonder, der sechs Konzentrationslager überlebt hat, stirbt im Januar 1949. Justin Sonder hat lange Zeit an beiden Beinen offene Wunden aus der KZ-Zeit. Als er sich bei der Kriminalpolizei bewirbt, befürchtet er, wegen der Narben nicht angenommen zu werden. Doch Justin Sonder macht Karriere. Er wird Leiter der Abteilung für schwere Verbrechen. In den ersten Jahren der DDR ermittelt er auch gegen mutmaßliche Nazi-Täter. "Ich sehe es heute noch als meine Pflicht, alles zu tun, dass sich so etwas wie die barbarische Nazi-Zeit niemals wiederholen kann." Dazu gehöre auch seine Nebenklage im Detmolder Auschwitz-Prozess.
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Justin Sonder über die Bedeutung des Detmolder Prozesses

Der Wert dieses Prozesses bestehe darin, dass ohne die 6.000 SS-Leute die Morde in Auschwitz nicht möglich gewesen seien. "Wir holen uns jetzt die Mittäter", sagt Justin Sonder. "Keine Bestrafung, das ist Unsinn. Nein, die Welt soll wissen, wir ziehen auch die Mittäter zur Rechenschaft."

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Nach der Reichspogromnacht 1938 musste Justin Sonders Familie in Chemnitz in das sogenannte Judenhaus in der Zschopauer Straße ziehen. Vor dem Gebäude ist heute ein "Stolperstein" eingelassen. Justin Sonder erinnert damit an seine Mutter Zita. Bereits seit 1945 setzt er sich gegen das Vergessen ein. "Vom ersten Tag an habe ich mich im Verband der antifaschistischen Widerstandskämpfer engagiert." Beim Zusammenschluss der ost- und westdeutschen Sektionen zur "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten" (VVN-BdA) im Oktober 2002 ist er Wahlleiter. 2011 begleitet Justin Sonder am Holocaust-Gedenktag Bundespräsident Christian Wulff nach Auschwitz. Immer wieder besucht Justin Sonder auch Schulen und erzählt, was er erlebt hat – damit sich das niemals wiederholt.
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Justin Sonder über seine Prägung durch Auschwitz

"Ich lebe mit Auschwitz", sagt Justin Sonder. Die dort begangenen Verbrechen seien unvergleichlich. Auschwitz dürfe nicht verniedlicht werden. Die Nachgeborenen seien unschuldig, müssten aber Verantwortung übernehmen. Denn: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

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WDR-Prozessbeobachtung

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Übersicht
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Kapitel 1 Von Auschwitz nach Detmold

Den Holocaust überlebt

Kapitel 9 WDR-Prozessbeobachtung

Weitere Informationen zum Prozess in Detmold

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