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WDR

Fotorechte: WDR, dpa
Videos: WDR/Justine Rosenkranz
Text: Katja Goebel
Grafik: Dominik Adem Orlati
Redaktion: Dayala Lang und Raimund Groß

Medien
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Zehn Jahre Germanwings-Absturz

Weiterleben nach der Katastrophe

Wie Angehörige mit Tod und Trauer umgehen



















Vor zehn Jahren – am 24. März 2015 – zerschellt eine Germanwings-Maschine an einem Bergmassiv der französischen Alpen. Mutwillig zum Absturz gebracht durch den Co-Piloten. Alle Menschen an Bord sterben. Für Stefanie Assmann und Klaus Radner ist seitdem nichts mehr, wie es mal war. Beide haben bei dem Unglück Angehörige verloren – und versuchen, sich zurück ins Leben zu kämpfen.

Text und Konzept
Katja Goebel
Recherche, Videos
Justine Rosenkranz
Veröffentlicht
24. März 2025

Die WDR-Reporterin und Filmemacherin Justine Rosenkranz hat die beiden zehn Jahre lang immer wieder mit der Kamera begleitet. Und auch für den WDR-Podcast „Zehn Jahre ohne euch“ haben Stefanie und Klaus ihr erzählt, wie sie versuchen, diese Katastrophe zu verarbeiten, wie sie mit dem Schock, der Trauer, der Wut und dem Leben danach umgehen – diesem Leben mit einer riesigen Lücke.

In diesem Text:

Wrackteil an der Absturzstelle in den französischen Alpen

Der Schock

Am 24. März 2015 erreicht die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung am späten Vormittag eine beunruhigende Meldung. Ein deutsches Flugzeug sei auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf vom Radar verschwunden. Wenig später die schreckliche Gewissheit. Die Germanwings-Maschine vom Typ A320 ist in den französischen Alpen abgestürzt. Mit ihr 144 Passagiere, vier Crewmitglieder und zwei Piloten. Ein Schock.

Linda Bergjürgen wurde nur 15 Jahre alt

Noch am Morgen hatte Stefanie Assmann eine WhatsApp-Nachricht ihrer Tochter Linda bekommen. Die 15-Jährige aus Haltern am See war eine Woche in Spanien bei einem Schüleraustausch. Sie ist mit ihren Mitschülern und Lehrerinnen auf dem Weg zum Flughafen, als sie ihrer Mutter noch einmal schreibt. „Wir sind im Zug. Ich zeig dir nachher Fotos.“

Es wird die letzte Nachricht der 15-jährigen Linda an ihre Mutter sein. Diese schickt noch weitere Nachrichten an ihre Tochter - doch Linda empfängt sie offensichtlich nicht mehr. Wenige Stunden später kommt Stefanies Mann Willi Bergjürgen in den Raum und sagt, dass das Flugzeug abgestürzt ist.

Ich war gleich unter so einer Glocke. Eingehüllt irgendwie in Irgendwas… ich konnte nicht mehr klar denken.

Stefanie Assmann

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Stefanie schreit in den ersten Tagen danach nicht, kein einziges Mal. Sie funktioniert und es fühlt sich falsch an. Sie kann nicht verstehen, dass ihre Welt nicht stehen bleibt. Die Realität sickert nur tröpfchenweise durch.

Eigentlich müsste doch jetzt alles vorbei sein. Das Kind ist tot.

Stefanie Assmann

Klaus Radner ist an dem Morgen des 24. März auf dem Weg zum Flughafen Düsseldorf. Er will seine Tochter, seinen Enkelsohn und den Partner seiner Tochter abholen, die er mit dem Flieger aus Barcelona erwartet. Plötzlich ist in den Radionachrichten die Rede von einem Flugzeugabsturz. Ein Flugzeug – von Barcelona auf dem Weg nach Düsseldorf. Klaus Radner bekommt weiche Knie, rennt wenig später ins Flughafengebäude, fragt sich durch, wird schließlich in einen Raum gebracht, in dem schon andere Angehörige stehen.

Da kam ein Mann auf mich zu und sagt, er ist von der deutschen Notfallseelsorge und er würde mich betreuen wollen.

Klaus Radner

Klaus Radners Tochter Maria mit Enkelkind Felix

Radner hat bei dem Absturz drei Menschen verloren – seine Tochter Maria, sein Enkelkind Felix und Sascha, den Lebensgefährten seiner Tochter. Maria war Opernsängerin, sie hatte in Barcelona einen großen Auftritt – ihr Partner kam sie mit ihrem 18 Monate alten Sohn in Spanien besuchen. Gemeinsam sind die drei am Morgen der Katastrophe in das Flugzeug gestiegen.

Als klar wird, dass keiner den Absturz überlebt hat, ist für den Düsseldorfer Unternehmer Klaus Radner schlagartig alles anders.

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Gedenken an die Opfer

Die Trauer

Fernsehbilder zeigen die Absturzstelle in der Nähe der französischen Gemeinde Le Vernet. Zu sehen ist ein steiles, stark zerklüftetes Gebirgsmassiv, das übersät ist von Trümmerteilen. Das Flugzeug ist dort mit circa 700 Stundenkilometern aufgeschlagen.

An einem Bergmassiv zerbrach die Germanwings-Maschine

Klaus Radner ist am Boden zerstört, fassungslos. Er kann nicht mehr essen, nicht reden, nicht schlafen. Er nimmt Beruhigungsmittel, sucht Rat beim Hausarzt und einem Psychiater. Er ist lange Zeit nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Nach einer Weile spürt er, wie Freunde und Geschäftspartner immer weniger Verständnis für seine Trauer zeigen.

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Und noch etwas beschäftigt Klaus: „Wir können glücklich sein, dass von den Angehörigen jeder die Nerven behalten hat. Ich glaube einige waren soweit, dass sie – einschließlich mir – nicht unbedingt hätten weiterleben wollen.“

Wie, wenn Ihnen das Herz rausgerissen wird – immer wieder.

Klaus Radner

Stefanie und ihr Mann Willi

Zweieinhalb Monate nach dem Absturz werden die sterblichen Überreste der Absturzopfer nach Deutschland gebracht. Stefanie und ihr Mann versuchen, das Fehlen der Tochter irgendwie zu ertragen.

Mit Linda saßen noch 16 weitere Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrerinnen aus Haltern am See in der Unglücksmaschine. Fünf Familien haben sich entschieden, ihre Kinder nebeneinander zu beerdigen.

Stefanie schreibt ihrer Tochter Gedichte auf Grableuchten

Stefanie hat viel Besuch von Freunden, tauscht sich mit anderen Angehörigen aus. Ihr Sohn Christian Bergjürgen besucht eine Trauergruppe, um den Tod der Schwester aufzuarbeiten. Die Mutter schreibt ihre Gedanken auf Grabkerzen. Es sind Gedichte oder Liedtexte. Alles, was sie ihrer Tochter Linda sagen möchte.

Auf Lindas Grab liegt ein ganz besonderer Grabstein. Die Familie hat ihn vom Strand in Schweden mitgebracht. Linda hat diesen Ort in Skandinavien geliebt. Der Friedhof ist für Stefanie Assmann immer wieder auch ein Ort der Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist.

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Auch im Haus der Familie ist Linda allgegenwärtig. Ihr Zimmer ist noch Jahre nach dem Unglück unverändert. Selbst ein Schlafanzug liegt lange Zeit noch im bezogenen Bett und die Schulsachen liegen in dem Zimmer verteilt – so wie Linda es damals verlassen hat.

Sie wolle aber aus dem Zimmer kein Museum machen, sagt Stefanie.

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Stefanie und Klaus suchen sich beide psychologische Hilfe. Mit dem Verlust des eigenen Kindes gehen sie unterschiedlich um. Während Stefanie keine Fernsehnachrichten über das Geschehen sehen will, lässt Klaus keinen Bericht aus. Er will von Anfang an genau wissen, wie diese Katastrophe passieren konnte.

Die Aufarbeitung dauert viele Jahre

Die Wut

Der Absturz ohne Überlebende wird bald ein Fall für die Kriminalpolizei, beschäftigt Anwälte und Gerichte. Denn noch etwas Ungeheuerliches wird öffentlich: Der Co-Pilot, ein offensichtlich psychisch kranker Mann mit Suizidgedanken, wie sich später herausstellt, hat das Flugzeug absichtlich gegen den Berg gesteuert. Zuvor hat er den anderen Piloten, den Flugkapitän, aus dem Cockpit ausgeschlossen und die Maschine dann bewusst zum Absturz gebracht.

Erst ist Klaus Radner fassungslos. Doch bald danach spürt er auch noch ein anderes starkes Gefühl: Wut. Für ihn ist der Co-Pilot ein Mörder.

„Wenn meine Angehörigen von einem Menschen ermordet werden, möchte man doch wissen: Was ist der Auslöser? Warum kann es so weit kommen? Ich muss doch wissen warum. Sonst kann ich nichts tun.“

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Klaus Radner fühlt sich mit seinen Fragen im Stich gelassen, hat kein Vertrauen mehr. Er trägt Informationen zusammen und engagiert mehrere Anwälte.

Vom ersten Tag an will ich, dass hier jemand die Verantwortung übernimmt.

Klaus Radner

Das Verfahren wird von der Staatsanwaltschaft schließlich eingestellt, weil der Täter tot ist. Für Radner ist der Co-Pilot aber nicht der einzige Schuldige. Er stellt Strafanzeige – zum Beispiel gegen die Ärzte des Co-Piloten. Doch die Verfahren laufen später ins Leere.

Als Stefanie Assmann nach dem Absturz erfährt, dass der Co-Pilot die Maschine absichtlich zum Absturz gebracht hat, schiebt sie die daraus folgenden Gedanken schnell weg. „Für uns ist das Schlimmste, dass unsere Tochter tot ist.” Ob er den Absturz verursacht habe oder die Maschine ins Trudeln geraten sei – für sie fast nebensächlich.

Lindas Mutter wird nicht wütend. Sie fängt auch nicht an, zu dem Co-Piloten zu recherchieren. „Ich möchte dem nicht so viel Aufmerksamkeit geben.“ Sie beschäftigt vor allem eines: Die Trauer um ihr Kind.

Manchmal wünschte ich mir tatsächlich auch eine Wut, weil ich glaube, Wut ist einfacher auszuhalten als Traurigkeit.

Stefanie Assmann

Lindas Zimmer bleibt lange unverändert

Stefanie erzählt auch, dass der Schmerz zwar nicht weniger werde, sich aber verändere. An Situationen, die anfangs nicht auszuhalten waren, gewöhne sie sich langsam – zum Beispiel morgens vor der Schule ihren Sohn allein auf den Treppenstufen des Hauses sitzen zu sehen – ohne Linda daneben.

Gedenkstätte in Frankreich am Fuß der Alpen

Das Leben danach

Bei Klaus Radner haben die Strafanzeigen, der Kampf vor Gerichten und die Trauer um seinen Enkel Felix, seine Tochter Maria und deren Partner Sascha tiefe Spuren hinterlassen.

„Ich muss jeden Tag mit mir kämpfen, die Dinge auszuhalten, das Leid, das man meinen Kindern angetan hat, zu ertragen.“

Doch auch seine Trauer verändert sich mit der Zeit.

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Radner probiert über die Jahre verschiedene Dinge aus, um seine Trauer zu bewältigen. Er tauscht sich mit Freunden aus, die auch ein Kind verloren haben. Er beschäftigt sich mit Religionen. Macht eine Therapie, reist an die Absturzstelle, schreibt sogar einen Roman, angelehnt an den Absturz. Und er richtet eine Gedenkstätte im Garten ein – mit einem nachgebildeten Notenschlüssel aus Schmiedeeisen.

Dankbar ist er für die Zeit mit seiner Tochter. „Ohne sie wäre das Leben nur halb so schön gewesen.“

Klaus Radner hat eine eigene Gedenkstätte im Garten

Für Stefanie gehört der Schmerz immer zu ihrem Leben dazu – auch Jahre nach dem Absturz. Aber es haben sich auch Dinge geändert. „Ich habe schon das Gefühl, dass mich das ein Stück weit stärker gemacht hat. Und… das auszuhalten kostet schon Kraft, aber wir schaffen das.“

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Mindestens einmal im Jahr versucht sie, nach Frankreich zu reisen, um nah an der Absturzstelle zu sein. Dort gibt es eine Aussichtsplattform. Eigentlich ein wunderschöner Ort, aber mit schrecklicher Geschichte:

Es ist so friedlich und so still hier.

Stefanie Assmann

Hält zusammen: Lindas Familie

Nach all den Jahren ist bei Stefanie etwas passiert. Lange Zeit hatte sie das Gefühl vermisst, ihrer Tochter irgendwie nahe sein zu können. Dann ist ihr Linda mehrmals in einem Traum begegnet, was ihr sehr geholfen hat. Und Stefanie zu der Idee gebracht hat, dass ihre Erfahrungen für andere wertvoll sein könnten. Sie macht eine Fortbildung zur ehrenamtlichen Trauerbegleiterin. „Um eben das, was passiert ist, in meinen neuen Alltag mit einzubinden. Das tut mir ganz gut.“

Stefanie sagt, dass bei ihr langsam Ruhe einkehrt. Nach all den aufwühlenden Jahren nach dem Tod ihrer Tochter Linda.

Dieses Jahr, am 24. März 2025, jährt sich der Germanwings-Absturz zum zehnten Mal. Er ist bis heute die größte Katastrophe in der Geschichte der bundesdeutschen Luftfahrt.

Stefanie Assmann und Klaus Radner werden an diesem Tag wieder in der französischen Gemeinde Le Vernet in der Nähe des Absturzortes sein. So wie vermutlich auch am 11., 12. und 13. Jahrestag. Der wievielte Jahrestag es ist, ist für sie eigentlich gar nicht so wichtig, sagen sie.



Mehr zum Hören, Lesen und Schauen

WDR-Podcast zum Absturz

Im WDR-Podcast „Der Germanwings-Absturz: Zehn Jahre ohne euch“ erzählen Klaus Radner und Stefanie Assmann ihre Geschichte noch ausführlicher.

Film der WDR Lokalzeit über zwei hinterbliebene Geschwister

Im WDR-Film vom 24.3.2025 sprechen wir mit Christian und Anna, die beide ihre Schwestern beim Absturz verloren haben. Wie waren die Tage und Wochen nach dem Unglück? Und wie hat sich ihre Trauer in den zehn Jahren verändert?



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