Wahlkampf auf Social Media heißt: Bundeskanzler Scholz spielt Kicker, Sahra Wagenknecht grüßt vom Autorücksitz und Friedrich Merz geht Burger essen. Unsere Analyse, wie unterschiedlich die Spitzenkandidaten der Parteien vor der Wahl soziale Plattformen wie Tikok, Instagram oder X nutzen.
Veröffentlichung: 17. Februar 2025
In einem Interview im Jahr 2020 sagte der damalige US-Präsident Donald Trump gegenüber dem Sender Sky News Australia: "Wenn ich nicht Social Media hätte, wäre ich vermutlich nicht hier." Und damit lag er wohl nicht ganz falsch. Um politische Inhalte und Einstellungen zu kommunizieren, sind Soziale Netzwerke wie TikTok, Instagram, X und Co. für Politikerinnen und Politiker heute nicht mehr wegzudenken - auch in Deutschland. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Laut ARD/ZDF-Medienstudie 2024 sind 60 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren mindestens einmal pro Woche auf sozialen Plattformen unterwegs.
🔗 Liveblog zur Bundestagswahl: Alle wichtigen Entwicklungen | wdr.de
Um zu sehen, wie Olaf Scholz, Friedrich Merz und die anderen Spitzenkandidaten und -kandidatinnen der Parteien um diese potentiellen Wähler buhlen, haben wir uns über fünf Tage ihre Aktivitäten auf den sozialen Plattformen angeschaut. Was macht den digitalen Wahlkampf aus und warum funktionieren bestimmte Kommunikationsstrategien besonders gut in der digitalen Welt? Ein Versuch aufzuzeigen, wie Social Media den politischen Diskurs beeinflusst, wer am meisten über wen schimpft und wer wie oft über eine "politische Wende" spricht – und warum der analoge Wahlkampf davon nicht unberührt bleibt.
Inhaltsverzeichnis
📱 Menschen informieren sich stärker über Soziale Medien
📱 Wer postet was auf welcher Plattform?
📱 Weidel setzt auf X, Reichinnek punktet auf TikTok
📱 Die Inszenierung der Uninszeniertheit
📱 Emotionen funktionieren besser als Argumente
📱 Wie Helmut Kohl Friedrich Merz helfen könnte
📱 Kritik am politischen Gegner funktioniert
Auf einen Burger mit Friedrich Merz
Der Bundestagswahlkampf 2025 ist nicht nur deswegen besonders, weil die Wahlkampfphase aufgrund der Neuwahlen ziemlich kurz ist, sondern auch, weil er im Winter stattfindet. Das macht den klassischen Straßenwahlkampf mühselig, weniger Menschen werden erreicht. Und so verlagern die Parteien und ihr Spitzenpersonal den Wahlkampf auf Facebook, TikTok, X und Co. - und ermöglichen den Wählern ungewohnte Einblicke. Sie sehen Robert Habeck an verschiedenen Küchentischen sitzen, können Christian Lindner beim Aufwachen beobachten, haben die Möglichkeit Sahra Wagenknecht auf der Rückbank eines Autos beim Politisieren zuzuhören oder mit Friedrich Merz zu McDonalds zu gehen.
Diese neuen Formate sind aber nicht nur eine Reaktion auf die winterliche Wahlkampfphase. Vielmehr spiegeln sie die zunehmende Bedeutung von Social Media wider – und das nicht nur in Bezug auf den digitalen Wahlkampf, sondern auch, wie Politik heute generell kommuniziert wird.
Die Zahl der Menschen wird geringer, die sich über traditionelle Kanäle wie Fernsehen, Zeitungen oder Zeitschriften informieren, wie die Forschungsergebnisse aus dem Digital News Report 2024 des Reuters Institute zeigen. Das Forschungsinstitut, das zur britischen Oxford University gehört, stellt jedes Jahr gemeinsam mit seinen Kooperationpartnern einen globalen Überblick zusammen, der beschreibt, wer in den jeweiligen Staaten Nachrichten konsumiert und über welche Kanäle.
Demnach blieb zwar der Konsum von Nachrichten online in den letzten elf Jahren stabil, doch hat sich der Ort, an dem die Menschen ihre News beziehen, deutlich verschoben. Die Statistik zeigt, dass Social Media zunehmend die klassischen Nachrichtenportale verdrängt. Laut dem Digital News Report hat sich in den vergangenen elf Jahren der Anteil derjenigen nahezu verdoppelt, die ihre Informationen über Social Media beziehen: 2013 waren es noch 18 Prozent, 2024 sind es bereits 34 Prozent.
Mit der Verlagerung auf die Social-Media-Plattformen verändert sich auch die Art und Weise der Kommunikation. Hier können die Parteien und ihre Kandidaten und Kandidatinnen direkt mit den potentiellen Wählern kommunizieren und interagieren. Die Themen setzen sie selbst. Sie bestimmen, welche Fragen sie beantworten und in welchem Format. Vor allem aber entscheiden sie selbst, wie oft sie sich über Facebook, TikTok, Instagram und andere Plattformen äußern wollen.
⬆️ zurück
Um ein Bild davon zu bekommen, wie die unterschiedlichen Parteien während des Bundestagswahlkampfs über ihre digitalen Kanäle kommunizieren, haben wir die Accounts der acht Spitzenkandidaten von SPD, CDU, FDP, Grünen, AfD, der Linken und BSW an fünf Tagen (13., 14., 22., 23. und 31. Januar 2025) analysiert, also der sieben Parteien, die aktuell im Bundestag vertreten sind. Wir werteten dafür aus, wie viele Posts sie auf Facebook, Instagram, TikTok, X und Youtube veröffentlichten, also fünf der sechs sozialen Plattformen, die in Deutschland am stärksten genutzt werden, um Nachrichten zu konsumieren. Da keiner der Spitzenkandidaten einen Account bei WhatsApp hat, wurde dieser Kanal nicht analysiert.
Wie viele Likes bekamen die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten dort, wie oft wurden ihre Posts geteilt und wie viele Kommentare sammelten sich darunter an? Zudem schauten wir, wie oft Olaf Scholz (SPD), Friedrich Merz (CDU), Christian Lindner (FDP), Robert Habeck (Grüne), Alice Weidel (AfD), Heidi Reichinnek und Jan van Aken (beide die Linke) sowie Sahra Wagenknecht (BSW) in ihren Posts die anderen Parteien erwähnten.
Olaf Scholz am Bratwurststand
Während der inhaltlichen Analyse stellte sich heraus, dass einige der Kandidaten in ihren Posts immer wieder von einem "Wechsel" oder einer "Wende" sprachen. Das passierte so häufig, dass wir auch diesen Aspekt in unsere Auswertung aufnahmen.
Die Daten zeigen, dass es klare Unterschiede zwischen den Parteien gibt, was die Nutzung sozialer Medien im Wahlkampf angeht. Das betrifft einerseits die Frequenz, Länge und Reichweite ihrer Postings. Aber auch die Inhalte und Art und Weise, wie diese vermittelt werden.
Klar ist, dass die Kandidaten ihre Kommunikation an das angestrebte Amt anpassen. Während Friedrich Merz, Olaf Scholz und Robert Habeck tendenziell staatsmännisch auftreten, setzen Heidi Reichinnek, Sahra Wagenknecht, Alice Weidel und auch Christian Lindner – der sich von seinen bisherigen Koalitionspartnern abgrenzen will – stärker auf die Rhetorik der Opposition. Gleichwohl konnte man in den fünf Tagen auch Gemeinsamkeiten feststellen: So versuchen alle Parteien ihre Kandidaten in nahbaren Momenten zu zeigen und Einblicke hinter die Kulissen des Wahlkampfes zu vermitteln. Vor allem griffen sie dafür auf Videos zurück.
Selfie mit Sahra Wagenknecht
Alle Spitzenkandidaten und -kandidatinnen veröffentlichen auch Text-Posts und Fotos, die wichtigste Rolle spielen aber bei allen Videos. Die meisten veröffentlichte in den fünf untersuchten Tagen der Grünen-Kandidat Robert Habeck - insgesamt 47. Dicht gefolgt von Friedrich Merz (CDU) mit 46. Erst auf dem dritten Platz folgt Alice Weidel mit 25 Video-Postings. Die Videos sind in der Regel dynamisch geschnitten und greifen oft auf zweitverwerteten Content aus Talkshows, Interviews oder Wahlkampfreden zurück. Dabei werden gezielt die vorteilhaftesten Szenen ausgewählt – sei es ein prägnanter Argumentationsstrang, ein humorvoller Moment oder eine Sequenz, in der die Kandidaten besonders nahbar wirken.
Auffällig ist die Dominanz der AfD auf X (ehemals Twitter). Auch Instagram spielt eine zentrale Rolle, insbesondere für die Grünen und die FDP. Während Facebook und TikTok moderat genutzt werden, spielt YouTube kaum eine Rolle. Die Union zeigt insgesamt die höchste Posting-Frequenz über alle Netzwerke hinweg, während das BSW vor allem auf X und TikTok setzt.
Youtube wird hingegen von keiner der Parteien ausgiebig bespielt. Das hat verschiedene Gründe. Einer liegt darin, dass es zeitintensiver ist, ein 30-minütiges Video zu produzieren als ein 30 Sekunden-Häppchen aus einer Bundestagsrede auf X hochzuladen. Ein anderer Grund könnte aber auch sein, dass die Reaktionen der User auf Youtube deutlich geringer sind, als auf den anderen Plattformen, auch weil sich Inhalte nicht über die Plattform selbst teilen lassen, wie beispielsweise auf Instagram oder X.
⬆️ zurück
Anhand der Analyse wird deutlich, dass die AfD vor allem über den Kurznachrichtendienst X kommuniziert. Mit insgesamt 32 Posts an den fünf Untersuchungstagen veröffentlichte Alice Weidel nicht nur mehr als die anderen Spitzenkandidaten und -kandidatinnen, sie setzte auch fast doppelt so viele Botschaften ab wie der zweitplatzierte Christian Lindner mit 18 Posts.
Trotzdem liegt die AfD nur auf dem zweiten Platz, wenn man die Zahl der Posts über alle Plattformen hinweg betrachtet. Dort führen die Accounts von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, über die insgesamt 61 Posts innerhalb von fünf Tagen abgesetzt wurden.
Auffällig ist, dass es Alice Weidel im Vergleich zu Friedrich Merz schafft, mit ihren Posts ein Vielfaches an Likes auf den Plattformen zu sammeln. Im gesamten Untersuchungszeitraum ist die AfD die einzige Partei, die über eine Million Likes kommt - auf mehr als 1,3 Millionen, um genau zu sein. Der Spitzenkandidat von CDU/CSU bekommt in der gleichen Zeit nicht ganz 200.000 Likes - obwohl er zwei Posts mehr absetzt als Weidel.
Ganz anders Heidi Reichinnek von der Linken, die weder bei Facebook noch bei Youtube einen Account besitzt. Bei Instagram, TikTok und X sammelt sie jedoch mit 17 Posts im Untersuchungszeitraum die zweitmeisten Likes ein: mehr als 827.000. Dafür ist vor allem ihr Erfolg auf TikTok entscheidend, wo sie im Durchschnitt 95.000 Likes pro Post bekommt.
Dabei ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg von Weidel und Reichinnek die große Zahl an Menschen, die ihnen auf TikTok und Instagram folgen. Auf X hat Alice Weidel mit mehr als einer Million Follower auch die größte Gefolgschaft aller Spitzenkandidaten.
Dass das aber nicht automatisch dafür sorgt, dass die Postings auf den Plattformen geliked, geteilt und kommentiert werden, zeigen die Accounts von Olaf Scholz (SPD) und Christian Lindner (FDP). Obwohl Lindner fast 800.000 Accounts auf X folgen, bekommt er dort für seine Posts im Durchschnitt nur etwa 3.500 Likes. Ein noch schlechteres Verhältnis herrscht auf dem Account des aktuellen Bundeskanzlers. Trotz 640.000 Followern bekamen Olaf Scholz’ Posts im Schnitt nur rund 600 Likes.
Von welchen weiteren Faktoren hängt der Erfolg auf Social Media also noch ab? Um das genauer zu betrachten, haben wir mit einem Politik- und Kommunikationswissenschaftler sowie einem Linguisten über unsere Ergebnisse gesprochen. Und auch darüber, was uns bei der Analyse aufgefallen ist, auch wenn man es nicht in Zahlen messen konnte.
⬆️ zurück
Einer der Faktoren könnte laut dem Kommunikationswissenschaftler Simon Lübke von der LMU München sein, in welcher Form sich die Spitzenkandidaten und -kandidaten an die User wenden. "Natürlich nutzt quasi jeder Politiker die Plattform, die am besten auf ihn zugeschnitten ist oder wählt das Format aus, bei dem er am besten rüberkommt", erklärt Lübke, der unter anderem die Wirksamkeit von politischer Kommunikation im digitalen Raum untersucht und welche Rolle dabei "Authentizität" spielt. Also wie echt, glaubwürdig und unverfälscht die Politikerinnen und Politiker rüberkommen. Oft geht es laut Lübke darum, Nähe zu vermitteln und um das Gefühl, die Kandidaten möglichst uninszeniert zu erleben. Lübke spricht in diesem Zusammenhang von der "Inszenierung der Uninszeniertheit".
Bestes Beispiel aus dem Wahlkampf sind die aufwendig produzierten Küchentischgespräche von Robert Habeck, für die sich normale Bürger bewerben konnten. Der Spitzenkandidat der Grünen kam dann zu ihnen, um sich am Küchentisch über die Themen auszutauschen, die sie beschäftigten - natürlich in Begleitung eines Kamerateams, das das Material danach unter anderem für Youtube aufbereitete.
Aufwachen mit Christian Lindner
Christian Lindner setzte hingegen auf sogenannte Wake-up-Calls, in denen er schon am am frühen Morgen seinen Tagesablauf mit den Usern teilte. So filmt er sich beispielsweise am Morgen des 22. Januar selbst und erklärt in die Kamera, dass er später noch nach Melsungen, Göttingen und Königsstein im Taunus komme. Im Anschluss geht es darum, wie eine mögliche Wirtschaftswende nach Meinung der FDP finanziert werden könne.
Auch Olaf Scholz versucht Nähe über seine Social Media Accounts zu vermitteln. Zusammenschnitte diverser Videos, die bei Terminen des Bundeskanzlers aufgenommen wurden, zeigen ihn an der Wurstbude, im Stahlwerk bei ThyssenKrupp und auf dem Pausenhof einer Berliner Schule, wie er mit den Kindern dort Tischkicker spielt.
Die Bilder, die bei dem von Sat1 organisierten Termin entstanden, nutzt auch sein Kontrahent von der CDU Friedrich Merz, um Nähe zu signalisieren. Auch er postet die Aufnahmen am Kickertisch auf seinen Accounts. Genau wie ein Video, bei dem man den Kanzlerkandidaten beobachten kann, wie er bei McDonalds einen Burger verspeist.
⬆️ zurück
Die Gründe für die gezielte Auswahl der Formate und Settings auf Social Media hängen für den Sprachwissenschaftler Henning Lobin ganz eng mit den Gefühlen zusammen, die die Kandiaten und Kandidatinnen durch ihre Postings auslösen wollen. "Es ist ein Irrglaube, Menschen nur mit Fakten und Argumenten überzeugen zu können", sagt der wissenschaftliche Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache. "Deshalb versuchen Politiker vor allem Emotionen bei den Zuschauerinnen und Usern zu wecken." Dies gehe am besten durch Bilder, wie sie die Kandidaten und Kandidatinnen auf Instagram, TikTok, Facebook und Co. posten würden. Gerade in der Politik müssten diese aber oft durch Sprache gezeichnet werden.
"Wenn wir ins Parlament schauen, sind da durchaus Emotionen zu sehen, die aber alle sprachlich geäußert werden", sagt Lobin. "Prügeln tut sich da im deutschen Parlament zum Glück bislang niemand. Wir sehen keinerlei Visualisierung, wir sehen keine Bilder. Wir hören nur Sprache." Da Politik zumeist sehr kompliziert sei, spiele gerade bei abstrakten Themen die Sprache eine ganz zentrale Rolle. Aus diesem Grund beschäftigen Parteien auch Experten oder ganze Agenturen, die einer drögen, formalen Politik oder beispielsweise Gesetzen einen gewissen anschaulichen Namen geben sollen: das "Starke-Familien-Gesetz" oder das "Gute-Kita-Gesetz" von der SPD seien dafür Beispiele.
Je griffiger der Name oder Ausdruck, desto besser lassen sich laut Lobin damit Emotionen erzeugen oder auch lenken. Verantwortlich sind laut dem Sprachwissenschaftler dafür Prozesse, die greifen, wenn bestimmte Begriffe fallen. So könnten gewisse sprachliche Formen ganz gezielt Schlussfolgerungen bei den Zuhörern auslösen. Als Beispiel nennt Lobin den Begriff "Migrationsflut", der das Gefühl der Gefahr auslösen könne, weil viele Menschen den Begriff Flut bedrohlich bewerten. Diese sogenannten Fahnenwörter funktionierten vor allem, wenn sie negative Emotionen auslösten. "Im politischen Bereich ist dies insbesondere mit dem Gefühl der Wut möglich", sagt Lobin.
Lobin verweist in diesem Zusammenhang auf einen linguistischen Prozess, den man als "Entrenchment-Prozess" bezeichnet. Dabei gilt: Je häufiger bestimmte Begriffe verwendet werden, desto stärker prägen sie sich in die Sprachstrukturen des Gehirns ein. Wörter, die zuvor nur in bestimmten Kreisen genutzt wurden, werden durch ihre ständige Wiederholung allmählich zum festen Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Ein Beispiel dafür ist das Wort "Remigration" – ein Begriff, der laut Lobin vor fünf Jahren noch weitgehend auf Fachkreise und rechtsextreme Milieus beschränkt war. Durch seine zunehmende Präsenz in politischen Debatten ist er heute vielen Menschen geläufig und wird nicht nur verstanden, sondern auch aktiv genutzt.
Robert Habeck ist Ehrlichkeit wichtig
Um die Wirkung solcher Signalwörter weiß nicht nur die AfD. Auch in den Posts der anderen Spitzenkandidaten und -kandidatinnen tauchen bestimmte Formulierungen häufiger auf. So spricht Sahra Wagenknecht (BSW) in mindestens acht Posts während des Untersuchungszeitraums von der "Ellenbogengesellschaft", die vor allem die AfD anstrebe. Der Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck betont in mehreren seiner geposteten Videos, wie wichtig "Vertrauen" sei, und dass Politiker ihr "Wort halten".
Gerade in der Migrationsdebatte hat das laut Lobin aber noch weitere Folgen. "Die relativ deutliche Zuspitzung der sprachlichen Umschreibung geht damit einher, dass jetzt tatsächlich auch über Grenzschließungen, Zurückweisungen und all diese Dinge gesprochen wird, die noch vor drei Jahren so eigentlich nicht diskutiert wurden."
⬆️ zurück
Ein Begriff, den in diesem Wahlkampf gleich mehrere Parteien häufig nutzen, ist der der "Wende" oder des "Wechsels". Während der fünf Tage, in denen wir die Accounts der Spitzenkandidaten analysierten, fiel er insgesamt 67 Mal. Genutzt wurde er allerdings nur von drei Spitzenkandidaten: Alice Weidel (27 Mal), Friedrich Merz (22 Mal) und Christian Lindner (18 Mal). Alle anderen Parteien, also auch jene aus der Opposition, erwähnen die Begriffe im Untersuchungszeitraum kein einziges Mal.
Laut Sprachwissenschaftler Lobin ist dabei das Ziel von CDU, AfD und FDP, zu zeigen, wie wichtig eine Veränderung in Deutschland sei. Damit solle der Zuhörer zur Schlussfolgerung kommen, dass eine solche Wende oder solch ein Wechsel nur mit Wahl der entsprechenden Partei möglich sei.
Im Fall der CDU weist der Linguist Henning Lobin allerdings noch auf eine Besonderheit hin. In ihrem Fall habe der Begriff der "Wende" in der deutschen politischen Kultur eine zusätzliche positive Bedeutung. "1982 hat Helmut Kohl nach 13 Jahren einer Regierung unter sozialdemokratischer Anführerschaft die 'geistig-moralische Wende' ausgerufen", erklärt er. Mit Erfolg - damals erzielte die CDU unter Kohl das zweitbeste Wahlergebnis ihrer Geschichte mit 48,8 Prozent, nur übertroffen vom historischen Erfolg Adenauers 1957. Für die These spricht auch, dass in der Bayern-Agenda der CSU für den aktuellen Wahlkampf ebenfalls von einer "geistig-moralischen Wende" die Rede ist.
Eine solche geschichtliche Komponente haben die beiden Begriffe im Fall der FDP zwar nicht. Sie versucht aber offenbar durch den regelmäßigen Gebrauch eine möglichst große Distanz zu ihren ehemaligen Koalitionspartner SPD und Grünen zu schaffen. Schließlich war Christian Lindner bis vor gut drei Monaten selbst noch Mitglied der Regierung, die seiner Meinung nach jetzt abgelöst werden sollte.
⬆️ zurück
Dieser Effekt lässt sich aber auch mit ganz anderen Mitteln erreichen, zum Beispiel durch direkte Angriffe auf die politischen Gegner. So bekam Heidi Reichinnek von der Linken mehr als 200.000 Likes für ein gut einminütiges Video, das sie am 31. Januar - also während unseres Untersuchungszeitraums - auf TikTok veröffentlichte. Darin ist der Ausschnitt aus einer Rede im Bundestag zu sehen, in der sie Friedrich Merz und die Union scharf dafür kritisiert, einen Antrag mit den Stimmen der AfD in den Bundestag eingebracht zu haben.
Heidi Reichinnek geht die CDU an
Dass Parteien sich gegenseitig kritisieren, gehört zur politischen Auseinandersetzung dazu. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch ein klarer Trend abgezeichnet: Mit der Intensivierung des digitalen Wahlkampfs hat auch das sogenannte "Negative Campaigning" – also das gezielte Abwerten und Diffamieren politischer Gegner – zugenommen.
Begründen lässt sich das auch damit, dass aufgeladene und dramatisierte Inhalte besonders gut auf sozialen Plattformen performen, da sie vom Algorithmus präferiert werden, wie beispielsweise eine Studie der Cornell University aus dem Jahr 2023 zeigt. Beiträge, die negative Emotionen wecken oder direkte Angriffe auf Gegner enthalten, erzeugen nachweislich mehr Interaktionen. Dieser Trend ist kein Zufall: Parteien setzen bewusst auf polarisierende Botschaften, um ihre Reichweite in sozialen Netzwerken zu steigern und mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
Dabei ist interessant zu sehen, welche Kandidatinnen und Kandidaten wie häufig über welche Parteien sprechen. So stimmte die AfD zwar am 31. Januar im Bundestag dem Gesetzentwurf der Union zu, trotzdem äußert sich die Spitzenkandidatin der Partei Alice Weidel auf X, Facebook und Co. aber über keine andere Partei so häufig auf negative Weise wie über CDU und CSU.
In den insgesamt 59 Posts, die wir an fünf Tagen im Januar von Alice Weidel ausgewertet haben, spricht sie ganze 99 Mal abwertend über die Union. Unter anderem veröffentlichte sie am 13. Januar ein zehnminütiges Interview vom Parteitag der AfD. Darin erwähnt sie die CDU gleich zehn Mal und ihren Spitzenkandidaten Friedrich Merz zweimal mit Namen.
Gruppenselfie mit Alice Weidel
Interessant ist auch, dass Olaf Scholz seine Kanäle in den fünf Tagen kaum nutzt, um Kritik an seinen politischen Kontrahenten zu äußern, nur 15 Mal kritisiert er sie. Ganz anders Sahra Wagenknecht. Sie äußert sich ausgiebig über alle anderen Parteien. Während des Untersuchungszeitraums spricht sie in 43 Postings insgesamt 204 Mal über ihre politischen Mitbewerber - in erster Linie über SPD, Grüne, AfD und Union. Dafür nutzt sie meist Ausschnitte aus Interviews, Talkrunden oder Bundestagsreden, die dann auf Facebook, X und Instagram veröffentlicht werden.
Die Kritik bleibt von den anderen Parteien jedoch weitgehend unerwidert. Während des Untersuchungszeitraums von fünf Tagen äußern sich lediglich Robert Habeck (ein Mal) und Alice Weidel (zwei Mal) über das BSW.
Trotz der Zunahme an Diffamierungen und polarisierendem Rhetorik - gerade auf Social Media - hat der Sprachwissenschaftler Henning Lobin Hoffnung und betont, dass in Deutschland noch keine amerikanischen Verhältnisse herrschten: "Die Disruption in der Kommunikation haben wir in Deutschland, so meine ich, noch nicht. In meinen Augen haben wir da noch niemanden, der komplett ignoriert, dass es so eine Art Wahrheitsgebot in der Kommunikation gibt."
⬆️ zurück
Ganz gleich, welche Formate die Spitzenkandidaten und -Kandidatinnen nutzen, welche Taktik sie bei ihren Postings verfolgen und auf welche Inhalte sie auf Social Media setzen: Der Erfolg, den sie damit haben, hängt in großen Teilen davon ab, wen sie damit erreichen, sagt der Kommunikationswissenschaftler Simon Lübke. Zeige man zwei Personen ein und dasselbe Posting, so könne es sein, dass sie aufgrund unterschiedlicher Voreinstellungen zu komplett unterschiedlichen Beurteilungen des Gesehenen kämen.
Dazu komme, dass wir einigen Parteien Kompetenzen für bestimmte Bereiche der Politik zusprechen, wie zum Beispiel Wirtschaft, Klimaschutz oder Migration. In der Politikwissenschaft nennt man das "Issue-Ownership". Einer Partei wird zugetraut, ein "Problem" am besten lösen zu können.
So erklärten im ARD-Deutschlandtrend vom Dezember 2024 beispielsweise 28 Prozent der Befragten, dass sie der SPD zutrauen, das Problem der sozialen Ungerechtigkeit in Deutschland zu lösen. Keine andere Partei kam auf einen so hohen Wert. In Wirtschaftsfragen und beim Thema Außenpolitik lag das Vertrauen mit 37 und 34 Prozent vor allem bei der Union. Und auch beim Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik erreichte die Union den besten Wert mit 25 Prozent - noch vor der AfD (17 Prozent).
In der Regel wissen Parteien, wo ihnen eine "Issue-Ownership" zugesprochen wird und wo nicht. Das Ziel im Wahlkampf ist es also, die Themen groß zu machen, bei denen ihnen zugetraut wird, Lösungen liefern zu können. Lübke betont, wie wichtig dieses Vorgehen im Wahlkampf ist: "Es macht eben einen riesigen Unterschied, ob das wichtigste Thema Klimawandel oder Migration ist, weil wir aufgrund unserer Erfahrung und unserer Mediennutzung bestimmte Parteien mit bestimmten Themen assoziieren."
⬆️ zurück
Das beherrschende Thema des aktuellen Wahlkampfs ist Migration. Das zeigt auch der ARD-DeutschlandTrend vom Januar 2025, in dem 37 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland Migration und Asyl als eines der zwei wichtigsten Probleme angaben, die die Politik lösen muss. Gemeinsam mit der Wirtschaft (34 Prozent) dominiert es die öffentliche Debatte. Und auch in den fünf Tagen, in denen wir die Accounts der Spitzenkandidaten - und Kandidatinnen beobachteten, griffen vor allem Friedrich Merz und Alice Weidel diese Themen häufig auf.
Dass ihnen das im Wahlkampf einen Vorteil brachte, lässt sich laut dem Kommunikationswissenschaftler Simon Lübke nicht eindeutig sagen. Dafür seien die Umfragewerte während des Wahlkampfs hinweg zu stabil gewesen. Die einzige Ausnahme stelle gegebenenfalls die Partei "Die Linke" dar, die es schaffte, ihre Umfragewerte in den letzten sechs Wochen nahezu zu verdoppeln.
Ob das am Ende dazu führe, dass die Partei am 23. Februar auch mehr Stimmen bekomme, sei dennoch schwierig vorherzusagen, sagt der Politikwissenschaftler Simon Lübke. Genau wie bei allen anderen Parteien.
⬆️ zurück
Text | Jörn Kießler |
Idee, Recherche und Auswertung | Quentin Pehlke |
Redaktion | Philipp Blanke, Raimund Groß, Till Hafermann |
Grafiken | Jörn Kießler und Till Hafermann |
Veröffentlichung | 17. Februar 2025 |