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WDR

Autorin: Sabine Schmitt
Redaktion:
Thierry Backes, Till Hafermann
Design: Anna Zdrahal
Recherche: Tolga Sert
Videos: Sabine Schmitt
Fotos: privat

Medien
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Wie geht es euch mit der Stichwahl in der Türkei?















Bleibt Recep Tayyip Erdoğan Präsident in der Türkei? Er geht als Favorit in die Stichwahl am Sonntag. In der ersten Runde kam er auf 49,4 Prozent der Stimmen – und blieb damit nicht weit hinter der erforderlichen absoluten Mehrheit zurück. Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu erhielt knapp 45 Prozent.

Welche Bedeutung die Wahl für die knapp 500.000 Menschen mit türkischem Pass in NRW hat, lässt sich an den langen Schlangen vor den Wahllokalen ablesen. Bis Mittwoch konnten Türkinnen und Türken, die in Deutschland leben, für ihren Kandidaten abstimmen.

In Gesprächen mit Freundinnen, Verwandten oder Kollegen geht es aber nicht nur um die Frage, wer gewinnt, sondern um Grundsätzliches: Ist es ok, wenn türkeistämmige Menschen aus Deutschland das Wahlergebnis beeinflussen? Wie fair sind die Wahlen? Und wie groß ist die Motivation, jetzt noch mal an die Urne zu gehen?

Wir haben schon vor dem ersten Wahlgang mit Menschen über die Wahl gesprochen - und jetzt noch mal nachgefragt. Hier sind ihre Antworten:



Protokolle: Sabine Schmitt

„Viele Menschen, die für die Opposition gestimmt haben, sind frustriert“

Begüm, 26, ist in Düsseldorf geboren und arbeitet im Marketing. Sie hat die doppelte Staatsbürgerschaft und reist regelmäßig in die Türkei, um Familie und Freunde zu besuchen. Sie hofft auf eine politische Veränderung – auch für ihre eigene Zukunft.

„Ich hoffe nach wie vor, dass ein politischer Wechsel ansteht. Dass die Opposition an die Macht kommt und sich an der Situation in der Türkei etwas ändert. Nach den Ergebnissen der ersten Wahlrunde habe ich aber das Gefühl, dass viele Menschen, die für die Opposition gestimmt haben, frustriert sind. Meine Sorge ist, dass sie jetzt sagen: ,Ich gehe nicht mehr wählen.‘

Ich kann diese Menschen verstehen, weil wir politisch seit mehr als 20 Jahren immer wieder Enttäuschungen erleben. Aber ich hoffe, dass sie trotzdem wählen gehen. Wir sollten jetzt dranbleiben!

Menschen, die früher blind an den Staat geglaubt haben, haben bei dem Erdbeben gemerkt, dass der Staat in der Not nicht hilft.

In Deutschland gibt es Dinge, die wir als selbstverständlich empfinden: Meinungsfreiheit. Pressefreiheit. Eine stabile wirtschaftliche Situation. Moderate Mieten und Lebensmittelpreise. Ein Staat, der den Menschen hilft. Wenn ich aber in die Türkei schaue, dann sehe ich: Es ist gar nicht selbstverständlich.

Es gibt in der Türkei viele Probleme. Die Inflation ist sehr hoch. Die Mieten explodieren. Menschen, die sich regierungskritisch äußern, werden festgenommen. Erdoğan hat das Rechtssystem nach seinem Willen umgebaut. Viele Prozesse laufen nicht fair ab. Die ganze Situation in der Türkei macht mich traurig.

Viele meiner Bekannte in der Türkei spielen mit dem Gedanken auszuwandern. Das sind ganz erfolgreiche Menschen.

Dazu kam jetzt noch das Erdbeben. Das war für viele ein Einschnitt. Menschen, die früher blind an den Staat geglaubt haben, haben auf einmal gemerkt, dass der Staat in der Not nicht hilft. Selbst dann, wenn es um Leben und Tod geht. Das fängt bei der Erdbeben-Vorsorge an und zieht sich durch bis zum Wiederaufbau und der Verteilung von Spendengeldern.

Nach dem Erdbeben ist viel Geld in die Türkei geflossen. Unzählige Menschen haben gespendet. Auch meine Familie hat versucht, aus Deutschland etwas zu tun.

Ein großer Teil des Geldes ist aber gar nicht bei den Erdbebenopfern angekommen. Die Menschen leben immer noch in Zelten und unter prekären Bedingungen. Wie kann es sein, dass ein Staat nicht in der Lage ist, die Infrastruktur in mehr als zehn zerstörten Städten wiederherzustellen oder den verzweifelten Menschen zumindest zu helfen?

Ich möchte in Zukunft gerne in der Türkei leben. Diese Pläne kann ich aktuell nicht so einfach umsetzen.

Viele Menschen sind von der Regierung Erdoğan enttäuscht und haben existenzielle Probleme. Bei dieser Wahl geht es um die Zukunft der Türkei — und ein Stück weit auch um meine persönliche Zukunft.

Ich bin bis zu drei Monaten pro Jahr in der Türkei, aber ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft und möchte in Zukunft gerne dort leben. Ich hatte sogar schon konkrete Pläne. Jedoch kann ich diese Pläne aktuell nicht so einfach umsetzen.

Dass ich in die Türkei auswandern möchte, heißt übrigens nicht, dass ich mich in Deutschland nicht wohl fühle. Ich bin sehr dankbar, dass ich transkulturell aufwachsen konnte, also in einer Welt, in der sich Kulturen vermischen. Ich liebe beide Länder, beide Kulturen, beide Sprachen.“

„Ich habe oft das Gefühl, mich recht­fertigen zu müssen“

Kubilay, 42, lebt in Bochum, er hat BWL studiert und arbeitet als Eventmanager. Er ist deutscher Staatsbürger, fühlt sich aber weder als Deutscher noch als Türke, sondern als Europäer. Bei Diskussionen über die Wahl in der Türkei wünscht er sich mehr Offenheit und weniger Schwarz-Weiß.

„Was für eine Zitterpartie! Vor der ersten Wahlrunde sind viele davon ausgegangen, das Kılıçdaroğlu mit deutlicher Mehrheit gewinnt. Er blieb aber hinter den Erwartungen zurück.

Am Wahlabend saß ich stundenlang vor dem Fernseher und habe mitgefiebert. Ich freue mich für die Demokratie in der Türkei, über die hohe Wahlbeteiligung, auch in Deutschland. So viele Deutsch-Türken sind zig Kilometer gefahren, haben so viel Zeit und Geduld aufgebracht, um wählen zu gehen. Die Wahl des Jahrhunderts, sagen viele.

Mich persönlich freut es, dass es zu einer Stichwahl kommt. Hätte einer der beiden Kandidaten mit einer hauchdünnen Mehrheit gewonnen, hätte man Wahlbetrug vermutet oder gar den Gewinner anzweifeln können. So aber müssen beide noch mal ran — und wir bekommen einen klaren und eindeutigen Sieger.

Wenn es um die Türkei geht, haben viele Menschen schon eine vorgefertigte Meinung.

Grundsätzlich merke ich, dass die Wahl in der Türkei auch in Deutschland ein großes Thema ist – nicht nur für diejenigen, die wählen dürfen. Viele Deutsche haben das Bedürfnis, darüber zu sprechen oder zu diskutieren. Das führt bei mir zu einer gewissen Anspannung, jederzeit und überall. Das ist ein unangenehmes Gefühl.

Das Problem ist, dass viele Leute ihre Fragen zur Wahl und zur Türkei nicht neutral stellen. Sie konfrontieren mich mit rhetorischen Fragen. Sie sagen zum Beispiel: ,Erdoğan ist doch ein Schurke, den kann man doch nicht wählen, oder?‘

Auf mich wirkt das so: Wenn es um die Türkei geht, haben viele Menschen schon eine vorgefertigte Meinung und erwarten von mir eine bestimmte Antwort. Ich habe dann oft das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen oder in eine Ecke gedrängt zu werden. Viele Fragen kann man meiner Meinung nach auch gar nicht mit Ja oder Nein beantworten. Dafür ist das Thema einfach zu komplex. Es entstehen dann oft Diskussionen, bei denen man nicht gewinnen, sondern eigentlich nur verlieren kann.

Bei der Bundestagswahl fragt man doch auch nicht: ,Wen hast du gewählt?‘

Früher war ich da sehr gutmütig und habe versucht, auf viele Fragen eine Antwort zu geben. Später habe ich gemerkt, dass das schwierig ist. Deshalb bin ich heute sehr zurückhaltend. Manchmal wünsche ich mir auch einfach etwas mehr Diskretion.

Zum Beispiel werde ich gefragt: ,Kubilay, wen wählst du: Erdoğan oder Kılıçdaroğlu?‘ Aber das geht niemanden etwas an. Bei der Bundestagswahl fragt man doch auch nicht: ,Wen hast du gewählt?‘ Da gibt es eine viel größere Hemmschwelle. Es wird stärker respektiert, dass eine politische Wahl etwas Persönliches, etwas Geheimes ist.

Vielleicht könnten wir zumindest versuchen, das Thema Türkei mit etwas mehr Distanz zu diskutieren. Mit noch mehr gegenseitigem Respekt, in einem möglichst vorurteilsfreien Austausch. Wir könnten zum Beispiel sachlicher über die wirtschaftliche Situation in der Türkei sprechen, ohne das Problem an den Namen von Politikern aufzuhängen. Auf dieser Ebene spreche ich gerne.

Ich fühle mich als Europäer. Das habe ich schon gesagt, als ich noch zur Schule gegangen bin.

Ich bin im engen Kontakt mit Verwandten, Cousinen und Cousins in der Türkei und kann da Einiges berichten. Zum Beispiel, dass die einen die Lage angespannt sehen, wegen der hohen Inflation. Die anderen dagegen sagen: Lieber eine hohe Inflation als eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Inflation gibt es im Übrigen schon seit Jahrzehnten und nicht erst seit der Ära Erdoğan – man kann das also nicht nur Schwarz oder Weiß sehen.

Wie ich meine persönliche Identität beschreiben würde? Ich fühle mich als Europäer. Das habe ich schon gesagt, als ich noch zur Schule gegangen bin und Abitur gemacht habe. Das war für mich auch ein Weg zu sagen, dass ich mich nicht als Deutscher fühle – obwohl ich hier geboren wurde und deutscher Staatsbürger bin. Türke bin ich übrigens auch nicht.

Meine Denkweise ist europäisch, auch weil ich als Student Erasmus-Stipendiat in Istanbul war. Das habe ich verinnerlicht, und heute lebe ich diesen, sagen wir, europäischen way of life. Aus dieser Perspektive blicke ich auch auf das, was in der Türkei passiert, inklusive Wahl.“



„Ich habe nicht gewählt“

Murat, 48, ist in Köln geboren und aufgewachsen. Er versteht sich als „Weltbürger mit lasischen Wurzeln“. Die Lasen sind eine Minderheit in der Türkei, die es kaum noch gibt. Murat findet, dass keiner der beiden Präsidentschaftskanditaten den Menschen eine echte Perspektive bietet.

„Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass es in der ersten Runde so knapp ausgeht. Man merkt die Enttäuschung auf beiden Seiten. Auch die Unsicherheit ist noch spürbar, wenn es um die Frage geht, wie es weitergehen soll. Ich bin gespannt.

Was ich mir aber schwierig vorstelle: Wenn Kılıçdaroğlu die Stichwahl gewinnt, muss er mit einem Parlament arbeiten, in dem sein Wahlbündnis keine Merhheit hat. Wie möchte er dann Gesetze oder Anträge durchsetzen? Das Privileg des Präsidenten, Entscheidungen am Parlament vorbei zu treffen, ist ja nicht absolut. (Anm. d. Red.: Seit der Einführung des umstrittenen Präsidialsystems unter Erdoğan hat das Parlament nur noch begrenzte Macht.)

Und dann muss Kılıçdaroğlu auch noch an seine Supporter denken. Denen hat er ja vor den Wahlen auch etwas versprochen.

Das einzig Positive ist für mich die hohe Wahlbeteiligung.

Die großen Spannungen würden nicht veschwinden, wenn die Opposition an die Macht käme.

Ich hege weiter die Hoffnung, dass eine politische Änderung etwas Positives bewirken könnte. Ich befürchte aber, dass die großen Spannungen nicht verschwinden würden, wenn die Opposition an die Macht käme. Es könnte sogar noch schlimmer werden, das sagt mein Gefühl.

Aktuell ist vor allem die hohe Inflation ein Problem. Viele, auch regierungsnahe Menschen, glauben nicht, dass sich die wirtschaftliche Situation bessert. Es werden auch keine Maßnahmen ergriffen, um das Thema in den Griff zu bekommen. Es wäre aber wichtig, dass man den Menschen eine Perspektive bietet – und das sehe ich nicht. Weder bei der aktuellen Regierung noch bei der Opposition.

Deshalb habe ich nicht gewählt und werde es auch nicht tun. So sehr ich mir eine politische Veränderung wünschen würde, ich sehe sie bei keinem der Präsidentschaftskandidaten. Es ist niemand dabei, den ich hundertprozentig unterstützen kann.

Wieso soll ich nicht über die Zukunft der Türkei mitbestimmen können?

Ich respektiere aber jeden, der zur Wahl geht. Und ich möchte jeden in Deutschland dazu aufrufen, der sich positionieren möchte. Wir haben das Wahlrecht. Nutzt die Chance, egal, ob ihr pro Erdoğan oder pro Opposition seid.

Ich befürworte grundsätzlich, dass im Ausland lebende Türken die Möglichkeit haben, sich an dieser Wahl zu beteiligen. Auch wenn ich in Deutschland geboren wurde, sind meine Wurzeln in der Türkei. Meine Eltern sind in die Türkei zurückgekehrt; ich habe neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft und könnte mir vorstellen, später auch mal in der Türkei zu leben. Wieso soll ich nicht über die Zukunft der Türkei mitbestimmen können?

In der Vergangenheit haben viele in Deutschland lebende Türken Erdoğan gewählt. Ich glaube, das Wahlrecht der in Deutschland lebenden Türken wäre nicht so ein großes Thema, wenn es andersherum wäre, also wenn die Türken in Deutschland der Opposition viel mehr Stimmen bringen würden.

Da ist die Opposition aber mit Schuld daran. Wenn sie merkt, dass Erdoğan beziehungsweise die AKP aus dem Ausland viel mehr Unterstützung bekommen, dann muss sie eben auch Wahlkampf im Ausland betreiben.“

„Es hat mich überrascht, dass das Ver­trauen in den Präsi­denten noch so groß ist“

Aslı, 34, arbeitet als Texterin für Webseiten und Apps und lebt in Köln. Sie glaubt, dass die Wahl in der Türkei diesmal wirklich eine Schicksalswahl ist, dass ihr Ausgang aber schon feststeht.

„Ich glaube nicht, dass die Stichwahl zu einem anderen Ergebnis führen wird. Der dritte Kandidat, Sinan Oğan aus der MHP, wird in vielen Kreisen als Königsmacher gehandelt. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er sich eher auf die Seite von Erdoğan stellen wird und denke, dass das Ergebnis relativ klar wird. (Anm. der Red.: Oğan hat seine Wähler am Montag tatsächlich aufgerufen, im zweiten Wahlgang für Erdoğan zu stimmen.)

Ich habe am Abend des ersten Wahlgangs eine große Ernüchterung gefühlt. Ich hatte mir schon gedacht, dass es so kommen könnte, wollte es aber nicht wahrhaben. Ich hatte ja tatsächlich die Hoffnung, dass es einen Wandel geben würde, dass die Menschen vielleicht umdenken.

Es hat mich überrascht, dass das Vertrauen in die aktuelle Regierung und den Präsidenten nach wie vor so groß ist. Und, dass fünf, sechs Oppositionsparteien es nicht schaffen, einen Politikwechsel herbeizuführen. Das ist sehr ernüchternd.

Es gibt eine regelrechte Lagerbildung – in der Türkei, aber auch hier in den türkischen Communitys.

Was mich auch sehr gewundert hat, war das Ergebnis in den Erdbebengebieten. Dort war so viel diskutiert worden über Hilfsleistungen, die nicht erfolgt sind, und Korruptionsfälle. Das hat scheinbar aber nicht dazu geführt, dass die AKP mehr an Boden verloren hat.

Es wurde von unterschiedlichen und unabhängigen Stellen gesagt, dass die Wahl im Vergleich zu den vorherigen tatsächlich sehr human, sehr richtig und sehr sauber abgelaufen sei. Aber ob es dann tatsächlich so ist, das weiß man natürlich nicht.

Diese Wahl wird oft als Schicksalswahl dargestellt. Die Zukunft der Türkei stehe auf dem Spiel, heißt es überall. Dass es um viel gehe, wurde zwar bei vorherigen Wahlen immer wieder gesagt. Aber diesmal habe ich das Gefühl, dass es stimmt.

Ich merke auch, dass die Politik die Gesellschaft immer mehr polarisiert. Es gibt eine regelrechte Lagerbildung – in der Türkei, aber auch hier in den türkischen Communitys. Bei vielen politischen Diskussionen verschärft sich der Ton, selbst unter Freunden. Es scheint, als schwinde der gemeinsame Konsens immer mehr.

Ich finde es gut, dass ich beide Staatsbürgerschaften habe.

Ob ich es angemessen finde, dass Menschen, die nicht in der Türkei leben, wählen sollten? Ich selbst finde das schwierig zu beantworten. Einerseits denke ich: Dadurch, dass ich im Ausland lebe, habe ich einen verzerrten Blick auf die Lebensrealitäten in der Türkei. Ich frage mich: Kann ich mich überhaupt ausreichend in die Menschen in der Türkei hineinversetzen und zu ihrem Wohl und zum Wohle des Landes eine gute Wahl treffen?

Andererseits fände ich es auch problematisch, auf das Wahlrecht zu verzichten, nur weil ich im Ausland lebe. Das wäre auch schwierig umzusetzen. Man kann ja keine Staatsbürgerschaft erster und zweiter Klasse einführen. Wo setzt man da die Grenze?

In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Egal ob Sprache oder Kultur, ich bin halt nicht das Eine oder das Andere. Gerade deswegen finde ich es gut, dass ich beide Staatsbürgerschaften habe und mitbestimmen darf. Das ist nichts, was ich gerne hergeben würde.“

„Deutschland ist für mich eine zweite Heimat geworden“

Nadir, 33, lebt seit 2012 in Deutschland. Er kam, um einen Master in Sportwissenschaften in Köln zu machen. Heute arbeitet als Sportlehrer und Fußballtrainer. Nadir identifiziert sich mit Deutschland und mit der Türkei – und hofft auf die doppelte Staatsbürgerschaft.

„Ich habe meine Stimme zur Stichwahl schon im Generalkonsulat abgeggeben. Da waren viele Menschen, und das zeigt, wie wichtig diese Wahl ist.

Ich vermute, dass beide Lager nicht damit gerechnet haben, dass es so knapp ausgeht. Jetzt geht es also noch mal um alles.

Was in der Türkei passiert, liegt mir generell sehr am Herzen. Meine Lebensgeschichte ist anders als die vieler anderer Deutsch-Türken. Ich bin in der Türkei aufgewachsen und habe in Istanbul meinen ersten Hochschulabschluss gemacht.

Türkei bedeutet für mich Heimat. Ich habe viele Kontakte in der Türkei: Meine ganze Familie lebt weiterhin dort und ich habe beruflich mit türkischen Vereinen, Sportlern und Medien zu tun.

Deutschland ist für mich aber eine zweite Heimat geworden. Schon bevor ich nach Deutschland kam, habe ich mich für die deutsche Kultur und Sprache interessiert. Mein Opa und mein Vater waren beide als Gastarbeiter in Deutschland. Das hat es mir sehr leicht gemacht, Anschluss zu finden.

Ich erfülle alle Kriterien für die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber ich möchte meinen türkischen Pass nicht abgeben.

Ich fühle mich in Deutschland sehr gut integriert. Ich bin gut in der deutschen Gesellschaft angekommen, habe viele deutsche Freunde und viel mit deutschen Familien zu tun.

Ich erfülle schon seit Jahren alle Kriterien für die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber ich möchte meinen türkischen Pass nicht abgeben. Ich warte darauf, dass es politisch in die Wege geleitet wird, dass Türken eine doppelte Staatsbürgerschaft bekommen. Das soll ja bald durch ein neues Gesetz möglich werden.

Ich würde mir außerdem wünschen, dass die deutsche Gesellschaft bereit ist, Menschen mehr wertzuschätzen, die sich mit aller Kraft integrieren möchten.

Manche Freunde fragen mich jetzt vor der Wahl: ,Findest du es richtig, dass Türken in Deutschland einen so großen Einfluss auf die Wahlen in der Türkei haben dürfen?‘ Für mich ist es eine Frage der Identität: Wenn du den türkischen Pass hast, spielt es keine Rolle, wo du lebst.

Wer nicht wählen möchte, muss ja nicht zur Wahl gehen.

Jeder hat ein Verhältnis zu seiner Heimat – manche familiär, manche finanziell, etwa in Form von Immobilien. Die Verknüpfungen sind komplex – der einfachste Weg ist, dass alle wählen dürfen, die den türkischen Pass haben.

Wer nicht wählen möchte, muss ja nicht zur Wahl gehen. Mir persönlich war es wichtig, zu wählen, weil ich die Zukunft meines Landes mitgestalten möchte. Die Wahl ist für mich eine Möglichkeit, mich zu beteiligen und dazuzugehören.

Bei dieser Wahl finde ich wirtschaftliche Aspekte besonders wichtig. Inflation ist ein großes Problem. Ich wünsche mir, dass die finanzielle Lage sich in der Türkei verbessert. Wer gewinnt, muss sich darum kümmern!“