Wie Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte mit rechtsextremen Inhalten im Gruppenchat umgehen sollten
Von Mitja Harrer
Senem Roos sagt, das Problem sei "plötzlich" dagewesen. "Menschen dachten, sie sind witzig und schreiben das N-Wort in die Gruppe oder schicken antisemitische oder diskriminierende Sticker." Senem ist eine 17 Jahre alte Schülerin mit türkischen Wurzeln aus Bergisch Gladbach - und sie beschreibt etwas, das in vielen Klassen-Chats längst zum Alltag gehört: Kinder und Jugendliche teilen dort höchstproblematische Inhalte.
Das Thema beschäftigt mittlerweile viele Schulen in NRW. In einer nicht repräsentativen WDR-Umfrage gaben fast zwei Drittel der 688 teilnehmenden Schulleiterinnen und Schulleiter an, dass an ihren Schulen rechtsextreme, rassistische oder antisemitische Inhalte in Chats aufgefallen seien.
Bei der großen Mehrzahl (352 Schulen) handelt es sich den Angaben zufolge um einen oder wenige Einzelfälle. 89 Schulen beschäftigt das Thema mehrmals im Schuljahr. An neun Schulen ist das ein andauerndes Problem.
Wir klären in diesem Artikel:
In Chatgruppen verbreiteten sich menschenverachtende Botschaften vor allem in Form von Memes und Stickern, sagt Patrick Fels von der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Köln. Er berät Schulen, wenn Probleme mit Diskriminierung und Rassismus in Chatgruppen auftauchen.
Als Memes werden im Internet vor allem Bilder bezeichnet, die häufig Szenen aus Filmen, Serien oder Situationen des Alltagslebens zeigen und mit Sprüchen versehen sind. Dabei geht es meistens darum, eine Situation mit Humor, Sarkasmus oder Satire zu kommentieren.
In der Regel ist das ziemlich harmlos:
Rechtsextreme und rassistische Memes folgen einem ähnlichen Muster, bedienen sich aber an Klischees und Vorurteilen. Häufig werden historische Bilder verwendet, zum Beispiel aus der Zeit des Nationalsozialismus. Aber auch andere Motive werden rassistisch aufgeladen.
So wird etwa das Foto einer überreifen Banane mit dem Text versehen, dass Menschen wie Bananen seien und keiner die Schwarzen möge. Ein Meme zeigt Adolf Hitler, wie er bei einer Rede die Hand hebt, darunter der Text: "High Five". Ein weiteres Motiv zeigt den Kopf von Anne Frank, der auf einen Pizzakarton mit dem Produktnamen "Die Ofenfrische" montiert wurde.
Beliebt sind auch digitale Sticker. Das sind kleine Bilder, die als Set in Messenger-Apps wie Whatsapp installiert und dann schnell in Chats eingefügt werden können. Solche Sticker kann man auch selbst erstellen und mit anderen teilen.
Auf vielen Seiten, die Sticker zum Download anbieten, findet man problemlos Sticker, die den Holocaust verharmlosen, das Dritte Reich verherrlichen oder rassistisch sind. Die Sticker zeigen Figuren aus bekannten Memes in SS-Uniform, den SS-Totenkopf oder antisemitische Karikaturen, wie sie auch im Dritten Reich von den Nazis verbreitet wurden.
Neben eindeutigen Bildern werden in rechtsextremen Kreisen auch Emojis eingesetzt, um Botschaften zu senden, die vor allem für Eingeweihte verständlich sind. So werden zum Beispiel zwei Blitze als SS-Runen gelesen. In Klassenchats spielen solche Codes aber keine Rolle, sagt Patrick Fels von der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus.
Es geht doch nur um ein paar harmlose Scherze! So argumentieren Menschen oft, die rechtsextreme Inhalte verschicken. Für Menschen aber, die von Diskriminierung betroffen sind, sieht die Lage ganz anders aus. Wenn man sein ganzes Leben lang diskriminiert werde, könnten rassistische Memes in einer Chatgruppe "sehr triggernd sein", sagt die Deutsch-Türkin Senem Roos, die im Vorstand der Landesschüler*innenvertretung NRW sitzt und sich mit Thema beschäftigt. "Das kann sehr viel auch wieder aufreißen."
Und in der Tat: Dass sich das Erleben von rassistischen Äußerungen auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Migrationserfahrung besonders auswirkt, zeigen mehrere Studien, die hier [PDF] zusammengefasst wurden.
Auch Patrick Fels von der mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus sagt: In den meisten Gruppenchats von Schulklassen könne man davon ausgehen, dass Jugendliche mitlesen, die solche Inhalte als extrem verletzend empfinden - "selbst wenn es nicht direkt an sie gerichtet war."
Neben der Tatsache, dass durch solche vermeintlichen Witze also Menschen persönlich verletzt werden, gibt es noch einen zweiten Grund, warum solche Inhalte problematisch sind: Durch häufiges Teilen und die vermeintlich scherzhafte Verarbeitung "normalisieren" sich rassistische und diskriminierende Aussagen, sagt Fels. Sie werden salonfähig. "Deswegen denke ich: Bei menschenverachtenden Inhalten muss immer gehandelt und widersprochen werden."
Einen ähnlichen Effekt hätten auch scherzhafte Darstellungen von Hitler oder anderen Nazi-Größen: Selbst, wenn die Memes nicht direkt rechtsextreme Aussagen wiedergeben, stellen sie Hitler als harmlos dar, als witzig.
In der Regel könne man davon ausgehen, dass die Schülerinnen und Schüler, die rechtsextreme Inhalte verbreiten, nicht automatisch auch ein rechtsextremes Weltbild haben, sagt Patrick Fels. Diesen Eindruck teilen auch die Schulleiterinnen und Schulleiter, die an der nicht repräsentativen WDR-Umfrage teilgenommen haben: Sie gehen in den meisten Fällen davon aus, dass die Kinder und Jugendlichen Grenzen austesten und Aufmerksamkeit erregen wollen und es ihnen am historischen Verständnis fehle. Eine Prägung durch ein rechtsextremes Weltbild wird nur selten angenommen.
Memes wie das Bild von Anne Frank auf dem Pizzakarton oder das Bild von Adolf Hitler mit rauchenden Schornsteinen im Hintergrund und dem Text "Umso größer der Jude, desto wärmer die Bude" sind verstörend und geschmacklos. Sie verharmlosen den Holocaust, den Massenmord durch Hitlers Nationalsozialisten an sechs Millionen Juden. Aber sind sie auch verboten? Die Antwort lautet: Es kommt darauf an.
Grundsätzlich gilt: Ab dem 14. Lebensjahr können Kinder für das Verbreiten von strafbaren Inhalten strafrechtlich belangt, sprich: angezeigt und verurteilt werden. Welche Inhalte in welchem Fall strafbar sind, regelt das Strafgesetzbuch in § 86 und § 86a [dejure.org].
Bei manchen Symbolen wie dem Hakenkreuz ist das einigermaßen eindeutig: Die Verwendung ist strafbar, wenn sie nicht im Rahmen von Bildung, Kunst, Wissenschaft oder Berichterstattung stattfindet. Andere Symbole, zum Beispiel bestimmte Runen, dürfen nur nicht im Kontext von verbotenen Organisationen verwendet werden.
Bilder, die Adolf Hitler zeigen, können im Einzelfall strafbar sein, nämlich dann, wenn "er ikonenhaft dargestellt wird, wenn auf dem Bild weitere verfassungswidrige Symbole zu sehen sind, etwa die Hakenkreuz-Armbinde oder der Hitlergruß, oder wenn das Bild entsprechend kommentiert wird", schreibt die Bayerische Landeszentrale für Politische Bildung [PDF].
Gerade bei Memes wie dem von Anne Frank auf dem Pizzakarton ist die rechtliche Lage aber nicht so eindeutig und abhängig vom konkreten Fall und dessen Kontext. Das Bild könne von einem Gericht wenn, dann als volksverhetzend gewertet werden, sagt Fels; zu einem Verfahren komme es aber selten, weil davon nicht unmittelbar eine Gefährdung potenzieller Opfer ausgeht. Anzeigen würden oft fallen gelassen, sagt Fels.
Kommt es tatsächlich zu einem strafrechtlichen Verfahren, ist die Bandbreite der möglichen Folgen groß: Sieht ein Gericht die Schuld als "gering" an, kann es ganz auf eine Bestrafung verzichten oder erzieherische Maßnahmen nach dem Jugendstrafrecht verhängen. Kommt das Gericht aber zu dem Schluss, dass es sich um ein Verbrechen handelt und nicht um ein bloßes Vergehen, dann ist mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe vorgesehen. Dies passiert allerdings selten.
Viele Eltern können sich nur schwer vorstellen, dass rassistische Memes und Sticker in den Gruppen-Chats ihrer Kinder geteilt werden. Was können sie tun, wenn es doch passiert? Wie können auch die Kinder und Jugendlichen selbst handeln? Das empfehlen Experten:
Verbündete suchen und widersprechen. Wer als Schülerin oder Schüler selbst Teil der Gruppe ist, sollte reagieren. Ja, es erfordert Mut und kostet Überwindung, in einer Gruppe als erster Mensch zu widersprechen. Da kann es helfen, sich vorher mit anderen abzusprechen, um mit dem Widerspruch nicht alleine zu sein, sagt Senem Roos von der Landesschüler*innenvertretung NRW: "Verbündete können in solchen Fällen echt einen Unterschied machen". So könnte das Signal, dass bestimmte Inhalte nicht willkommen sind, auch deutlicher werden.
Auch Patrick Fels von der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus findet es wichtig, sich mit anderen abzusprechen, etwa mit einer Klassensprecherin, einem Vertrauenslehrer, der Klassenlehrerin oder Eltern.
Den Kampf gegen Diskriminierung ständig zu führen, das kann anstrengend sein, weiß Roos aus eigener Erfahrung: "Da sind teilweise auch sehr extreme Diskussionen entstanden, die teilweise auch sehr respektlos gelaufen sind", sagt sie. Es sei daher auch wichtig, auf die eigenen Kraftreserven zu achten.
Lehrkräfte: Dialog suchen und aufklären. Wie genau die Reaktion von Lehrenden aussehen kann, wenn sie von rechtsextremen Inhalten in Chats erfahren, hängt sehr stark vom Einzelfall ab, sagt Patrick Fels. Passiert so etwas zum ersten Mal oder fällt der Schüler oder die Schülerin häufiger damit auf? Welche Bilder, Memes oder Sticker wurden geteilt und versendet? Gibt es Diskriminierung auch außerhalb des Chats?
Wichtig sei, dass ein Vorfall nicht in Vergessenheit gerate. Man müsse den Schülerinnen und Schülern vermitteln, was an den Inhalten problematisch sei und dass sich das nicht wiederholen dürfe, sagt Fels. Führe man lösungsorientierte Gespräche, könne man darauf bauen, "dass Lerneffekte einsetzen". Lehrkräfte sollten sich in der Situation immer an die Seite der Betroffenen stellen und sie unterstützen, dabei aber "auch die Unbeteiligten im Blick haben".
An den Schulen, die an der WDR-Umfrage teilgenommen haben, wird das auch überwiegend so gelebt: Der Großteil der Schulen setzt auf Einzelgespräche mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit Eltern und ganzen Schulklassen.
Anzeige - ja oder nein? Mehr als ein Viertel der Schulleiterinnen und Schulleiter haben in der WDR-Umfrage angegeben, rechtsextreme Inhalte bei der Polizei angezeigt zu haben. Patrick Fels von der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus erlebt das auch immer wieder. Eine Anzeige als ersten Schritt hält er allerdings für kontraproduktiv. Die Empfehlung der Mobilen Beratungsstelle: lieber pädagogisch und nicht sofort juristisch reagieren.
Übrigens: Lehrkräfte und Eltern sich gesetzlich nicht verpflichtet, die Verbreitung von verbotenen Bildern oder Symbolen anzuzeigen.
Eltern: vertrauensvolle Gespräche statt Spionage. Patrick Fels rät Eltern, bei Kindern immer wieder nachzufragen, wie die Stimmung in den jeweiligen Klassen-Chats sei. Ist der Umgang im Chat fair? Sind Inhalte schon mal verletzend? Dabei gehe es um ein vertrauensvolles Gespräch und nicht darum, dem Kind hinterher zu spionieren. Hilfe und Unterstützung sollte dabei vor allem lösungsorientiert und nicht verurteilend sein.
Generell gilt: Aufklärung hilft. Eltern können ihren Kindern bekannte Symbole wie das Hakenkreuz oder die SS-Runen zeigen; wenn diese später in Gruppen-Chats auftauchen, können die Kinder sich an ihre Eltern oder andere Vertrauenspersonen wenden.
Bekommt ein Kind rechtswidrige Inhalte zugesandt, sollten Eltern das Gespräch mit den Eltern des Kindes suchen, das die Inhalte verschickt hat. So könne gemeinsam ein konstruktiver Umgang mit dem Problem gefunden werden, sagt Fels.
Wer verunsichert ist, kann mit Screenshots Hilfe bei der Polizei suchen oder sich an entsprechende Beratungsstellen wenden. Weitere Informationen gibt es auf den Seiten internet-beschwerdestelle.de oder jugendschutz.net.
Medienkompetenz stärken. Eine der wichtigsten Präventivmaßnahmen gegen rechtsextreme Inhalte sei Medienkompetenz, sagt Patrick Fels. Dabei gehe es darum, ganz grundsätzlich zu verstehen, was soziale Medien sind, wie sie funktionieren und welche Gefahren sie bergen.
Lehrkräfte und Eltern könnten schon frühzeitig - und unabhängig von konkreten Vorfällen - Kinder für einen respektvollen Umgang im digitalen Umfeld sensibilisieren und aufklären, warum manche Inhalte problematisch sind und Rassismus normalisieren können.
Einen guten Umgang miteinander finden. Jugendliche können sich auch untereinander darüber verständigen, wie sie miteinander umgehen und sprechen wollen. Sie können als Gruppe festlegen, dass Chats keine Räume sind, in denen anders kommuniziert wird als im "richtigen" Leben.
Klare Abläufe und Anlaufstellen schaffen. Von Schulen wünscht sich Senem Ross, dass Opfer von Diskriminierung besser aufgefangen werden und eine Art Anlaufstelle haben. Opfer sollten ihrer Meinung nach pädagogisch und psychologisch begleitet und unterstützt werden. Ihr Eindruck: Schulen hätten dafür oft keine klaren Abläufe und seien in konkreten Situationen dann überfordert.
Und auch, wenn die 17-jährige Schülerin das Widersprechen und das Unterstützen anderer manchmal anstrengend findet: Ein Engagement gegen Diskriminierung sei nie vergebens, findet sie.
Redaktion
Text und Recherche: Mitja Harrer
Grafiken: Henri Katzenberg, Anna Zdrahal
Redaktion: Thierry Backes, Till Hafermann
Technische Unterstützung: Ulrich Hendrix
Unsere Quellen
Für diesen Artikel haben wir mit verschiedenen Menschen gesprochen. Hervorzuheben sind:
Senem Roos, Schülerin aus Bergisch Gladbach. Sie hat schon mehrfach Erfahrungen mit diskriminierenden und rassistischen Inhalten in Gruppenchats gemacht. Senem ist Mitglied im Vorstand der Landesschüler*innenvertretung NRW, dort zählt sie Antidiskriminierung und Antiklassismus zu ihren Schwerpunkt-Themen.
Patrick Fels ist Mitarbeiter der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus Köln und berät dabei Schulen und Eltern, wie sie mit problematischen Inhalten in Klassenchats umgehen können.
Weitere Quellen
So sind die Umfrage-Ergebnisse zustande gekommen
Um einschätzen zu können, wie verbreitet rechtsextreme Inhalte in Klassenchats sind, haben wir eine Umfrage unter allen Schulen in NRW durchgeführt. Dafür haben wir an 5419 Schulen, deren Mail-Adresse vom Schulministerium veröffentlicht wird, per Mail einen kurzen Fragebogen geschickt, den die Schulleitungen anonym ausfüllen konnten. 688 Schulen haben das im Zeitraum vom 19. Oktober bis zum 6. November 2023 getan.
Wichtig: Das ist keine repräsentative Umfrage. Sie lässt keine Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Schulen in NRW zu. Was wir aber sicher sagen können: Das Thema ist an hunderten Schulen in NRW bekannt, und hunderte Schulleiterinnen und Schulleiter haben uns ihre Eindrücke dazu geschildert. Diese Eindrücke geben wir in diesem Text wieder.