Seit 2013 gibt es konkrete Pläne der Landesregierung, insgesamt sieben Radschnellverbindungen in NRW zu bauen. Durch sie sollen mehr Menschen vom Auto aufs Rad umsteigen und die Verkehrswende vorangetrieben werden. WDR-Recherchen zeigen jetzt, in welchem Ausmaß der Bau stockt.
Von Jörn Kießler
Valerie Renken ist noch keine fünf Minuten unterwegs, da weichen Motorenlärm, Hupen und Gestank der Abgase einem Summen. Ruhig und gleichmäßig laufen die Reifen ihres Gravelbikes über den makellosen Asphalt und nur gelegentlich sorgt eine Fuge im Straßenbelag für ein leichtes Holpern. Der Lärm der Autos, die sich durch die Mülheimer Innenstadt kämpfen, ist kaum noch zu hören.
Es ist kurz vor 8 Uhr an einem Montag im April. Renken ist auf dem Weg nach Essen. Langsam wandert die Sonne hinter den Häusern im Osten Mülheims in den Himmel. Entspannter könnte der Start in die Arbeitswoche der 45-Jährigen nicht aussehen. "Das ist das Schöne an der Strecke”, sagt Renken. "Sobald ich auf dem Radschnellweg bin, geht es einfach nur geradeaus und ich kann wunderbar abschalten, selbst wenn ich zügig unterwegs bin.”
Von Renkens Haustür bis zu ihrem Arbeitsplatz sind es etwa 14 Kilometer. Einen Großteil der Strecke kann sie auf dem Radschnellweg 1 (RS1) absolvieren - einer Art Autobahn für Radfahrer. Vier Meter breit, zwei mit einer Leitlinie voneinander getrennte Fahrbahnen, eine für jede Richtung. Daneben ein deutlich abgetrennter Gehweg für Fußgänger. Auf der Strecke gibt es keine Ampeln und kaum Kreuzungen. Zudem ist sie so angelegt, dass es so gut wie keine Steigungen gibt. So können Radler eine hohe Durchschnittsgeschwindigkeit fahren, ohne zwischendrin ausgebremst zu werden. Von Mülheim nach Essen muss Renken nur gut 80 Höhenmeter absolvieren. Nach etwa 40 Minuten rollt sie bei ihrem Arbeitgeber auf den Hof.
Nicht nur Renken und viele andere Radfahrer kennen und schätzen die Vorteile eines solchen Radschnellweges. Es gibt mehrere Untersuchungen, die belegen, wie positiv sich solche Verbindungen auf verschiedene Bereiche auswirken. Neben dem gesundheitlichen Aspekt für die Radfahrer und der Entlastung von Autobahnen, Bundes- und Landstraßen profitiert vor allem die Umwelt.
Dieses Potenzial hatte das Land NRW bereits bei der Planung des RS1 erkannt. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage, die es 2014 durchführen ließ, könnten etwa 80 Prozent der Arbeitnehmer im Ruhrgebiet für ihren Weg zur Arbeit vom Auto aufs Rad umsteigen. So könnte allein der RS1 dafür sorgen, dass jeden Tag 52.000 Fahrten, die derzeit noch mit dem Auto zwischen den Städten im Ruhrgebiet zurückgelegt werden, durch Fahrten mit dem Rad ersetzt werden.
Und nicht nur hier. Denn in ganz NRW sind seit 2013 sieben Radschnellwege mit einer Gesamtlänge von mehr als 275 Kilometern geplant. Mit ihrem Bau wollte der damalige NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) “ein neues Kapitel der Verkehrsplanung” aufschlagen. “Ein Kapitel, bei dem das Land Nordrhein-Westfalen als treibende Kraft inzwischen bundesweit eine Vorreiterrolle einnimmt”, so Groschek im Vorwort des Landeswettbewerbs Radschnellwege.
Laut einer Analyse des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC), die Ende Mai veröffentlicht wurde, könnten ab 2035 bundesweit jährlich 19 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, wenn es mehr zusammenhängende Radverbindungen gäbe. So könnte der Anteil des Radverkehrs auf Strecken bis 30 Kilometer Länge bundesweit auf 45 Prozent gesteigert werden, so die Macher der Studie. Aktuell liegt er bei 13 Prozent.
Könnte – denn wenn der Ausbau der Fahrradinfrastruktur weiter so vorangeht wie bisher, wird dieses Ziel laut der Studie nicht erreicht.
Um das zu ändern, schlagen die Macher der Studie unter anderem bessere Mitnahmemöglichkeiten für Räder im ÖPNV vor, beziehungsweise, dass an Bahnhöfen und Haltestellen mehr Abstellfläche geschaffen wird. Zudem fordern sie eine fahrrad- und fußgängerfreundlichere Stadtplanung in den Kommunen.
Der wichtigste Punkt sei aber eine “einladende Infrastruktur” mit “durchgängigen, sicheren und komfortablen Fahrradwegenetzen”.
“Es gibt zahlreiche Studien darüber, dass viele Menschen aufs Rad umsteigen, sobald man ihnen die entsprechenden Angebote macht”, sagt der Verkehrsforscher Michael Hardinghaus. Seit Jahren widmet er sich am Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin der Frage, wie Verkehr nachhaltiger werden kann und welche Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssten.
“Da gibt es einerseits die technische Entwicklung, die seit Jahren voranschreitet”, sagt Hardinghaus. “So sind E-Bikes und E-Scooter, mit denen viel größere Strecken zurückgelegt werden können, weit verbreitet. Menschen, die mit ihnen pendeln, kommen nicht mehr so erschöpft bei der Arbeit, an der Uni oder am Ausbildungsplatz an.”
Mindestens genauso wichtig sei aber die Infrastruktur, also die Radwege, die den Radfahrern zur Verfügung gestellt werden. Wie genau diese aussehen sollten, versuchten Hardinghaus und seine Kollegen vom DLR im Jahr 2019 mit einer Befragung unter fast 4.500 Radlern herauszufinden. “Dabei wurde sehr deutlich, welche Faktoren erfüllt sein müssen, damit die Menschen sich auf dem Rad wohl fühlen”, sagt Hardinghaus.
So war den Befragten bei Radwegen an Hauptstraßen wichtig, dass der Fahrradbereich geschützt, also deutlich vom Autoverkehr getrennt ist. In diesem Fall verläuft der Radweg zwar auf dem gleichen Fahrstreifen wie die Straße, der Autoverkehr und die Radfahrer werden aber durch fest installierte Elemente wie beispielsweise Poller voneinander getrennt.
Noch beliebter als diese Lösung für Hauptverkehrswege war die Einrichtung von Fahrradstraßen auf Nebenstraßen. Das sind Straßen, auf denen Tempo 30 gilt, Radfahrer nebeneinander fahren dürfen und die von Autos nur genutzt werden dürfen, wenn der Pkw-Verkehr explizit zugelassen wurde.
Ganz gleich, auf welchen Wegen, legten die befragten Fahrradfahrer großen Wert auf eine glatte Oberfläche der Radwege.
Der RS1 erfüllt alle drei Kriterien. Dadurch, dass er abseits von Hauptverkehrsstraßen verläuft, ist er quasi eine Fahrradstraße. Er ist breit genug, damit die Radler nebeneinander fahren können, und der Belag ist auf einem Großteil der Strecke auch mehrere Jahre nach der Eröffnung noch eben und frei von Schlaglöchern - zumindest auf weiten Teilen des Stücks zwischen Mülheim und Essen.
Genau diese Rahmenbedingungen führten dazu, dass Valerie Renken zur Radfahrerin wurde. Denn als sie das erste Mal mit dem Rad zur Arbeit fuhr, gab es den Teilabschnitt des RS1 noch nicht. Das war 2014. Damals hatte das Sturmtief Ela in NRW gewütet. Die Aufräumarbeiten zogen sich über Tage. Unter anderem blieb in dieser Zeit der Essener Hauptbahnhof gesperrt. “Es fuhren auch keine Busse, also habe ich das Rad genommen, weil ich sonst nicht zur Arbeit gekommen wäre”, sagt Renken.
Als die Züge wieder fuhren, ließ Renken auch das Rad wieder stehen. “Mich durch den Stadtverkehr zu kämpfen, war mir zu stressig und auch der Rest der Strecke war wirklich abenteuerlich”, sagt sie. Dazu kam, dass sie “ewig” brauchte, wie sie sagt. Erst als Ende 2015 der erste, elf Kilometer lange Abschnitt zwischen dem Mülheimer Hauptbahnhof und der Essener Stadtgrenze als Modellstrecke eingeweiht wurde, probierte sie es noch einmal. Ab dann fuhr sie immer häufiger mit dem Rad zur Arbeit. Damit sie nicht schon verschwitzt dort ankam, schaffte sie sich ein E-Bike an und sammelte damit Kilometer für Kilometer. Auch der RS1 wuchs weiter. 2019 wurde ein weiteres Teilstück zwischen dem Mülheimer Hauptbahnhof und der Hochschule Ruhr West eingeweiht. Seitdem fährt Renken regelmäßig mit dem Rad von Mülheim nach Essen. Das Rad mit Elektrounterstützung hat sie mittlerweile gegen ein Gravelbike eingetauscht.
Die Geschichte von Valerie Renken zeigt, welches Potenzial Schnellwege für den Radverkehr haben. Das Problem ist nur, dass seit dem Bau der Modellstrecke 2015 nicht viel passiert ist. Von dem insgesamt 116 Kilometer langen RS1 sind nach Informationen des NRW-Verkehrsministerium bis April 2024 gerade einmal 18 Kilometer fertig. Knapp fünf davon verteilen sich auf nicht zusammenhängende Abschnitte in Dortmund, Bochum und Gelsenkirchen. Teile der elf Kilometer langen Modellstrecke entsprechen laut einem Bericht des Verkehrsministeriums nicht den aktuellen Standards und müssen noch einmal überplant werden. Zwar sollen ab diesem Jahr weitere sechs Kilometer der Strecke in den Bau gehen. Mit einer Fertigstellung ist vor 2026 aber nicht zu rechnen.
Und es stockt nicht nur im Ruhrgebiet. Auf den anderen sechs geplanten Radschnellwegen ist noch keiner der insgesamt etwa 160 Kilometer befahrbar und wird es in den kommenden Jahren auch nicht sein. “Gerade beim Bau von Radschnellwegen, für die es in NRW ja seit zehn Jahren schon Planungen gibt, haben wir festgestellt, dass da in den letzten Jahren wenig bis sehr wenig vorangegangen ist”, sagt auch Umwelt- und Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne). Man versuche dieses Jahr aber den Ausbau der Fahrradinfrastruktur in NRW voranzutreiben, so der Minister im Gespräch mit dem WDR.
Am vielversprechendsten ist laut dem Verkehrsministerium derzeit der RS5, der von Neuss über Düsseldorf nach Langenfeld führen soll. Der 2,5 Kilometer lange Abschnitt in Neuss soll 2024 noch in Bau gehen und bis zur Landesgartenschau 2026 fertig werden. Alle anderen Radschnellwege werden bestenfalls ab 2025 in Teilen befahrbar sein. Der RS2 im Westmünsterland ist laut Verkehrsministeriums frühestens ab 2040 fertig.
Dass der Ausbau zu langsam vorangeht, ist nicht neu. Auch der schwarz-gelben Vorgängerregierung waren die Probleme bewusst - spätestens seit 2019. Damals initiierte der Verein Radkomm die Volksinitiative “Aufbruch Fahrrad”, der sich 215 Verkehrsvereine, Umweltverbände und Initiativen in NRW anschlossen, die ein Umdenken in Sachen Mobilität forderten. Gemeinsam überreichten sie der Landesregierung mehr als 210.000 Unterschriften - und stellten damit die Weichen für das NRW-Fahrradgesetz, das unter dem damaligen Verkehrsminister und aktuellen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) erarbeitet wurde.
Am 1. Januar 2022 trat es unter Wüsts Nachfolgerin Ina Brandes (CDU) in Kraft und sollte mit einem ganzheitlichen Ansatz sowie langfristiger und strategischer Planung den Bau der Radinfrastruktur vorantreiben. Dafür sollte unter anderem ein verbindlicher Rahmen gesetzt werden, der die Kommunen verpflichtet, bestimmte Ziele fristgerecht einzuhalten. “Seitdem ist das Rad offiziell dem Auto gleichgestellt”, sagt Harald Schuster aus dem Vorstand von Radkomm. “Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.”
Das kann auch Michael Kleine-Möllhoff bestätigen. Als er an einem regnerischen Montagnachmittag im April durch die Unterführung der A3 am Rande Duisburgs rollt, tropft ihm das Wasser von Brille, Jacke und Regenhosen. Seine Schuhe sind überzogen von einem feinen Matschfilm. Bei feuchtem Wetter sieht Kleine-Möllhoff meistens so aus, wenn er nach der Arbeit in seiner Heimatstadt ankommt.
Trotzdem pendelt der 61-Jährige, der für die Grünen im Duisburger Stadtrat sitzt, mehrmals die Woche mit dem Rad nach Essen. Ab Mülheim kann er genau wie Valerie Renken den RS1 nehmen. Das erste Stück morgens und das letzte Stück abends, je sechs Kilometer, absolviert er aber auf Straßen und den bestehenden Radwegen zwischen Mülheim und Duisburg. So auch an diesem Tag, als er gegen 15.15 Uhr den alten Eisenbahnwasserturm in Mülheim-Broich passiert. Von dort aus sind es noch gut 900 Meter, dann ist Schluss. Vier rot-weiß gestreifte Leitplanken quer über dem Radweg signalisieren das Ende der ausgebauten Strecke des RS1.
Je näher Kleine-Möllhoff der Mülheimer Stadtgrenze kommt, desto dichter wird die Vegetation. Er nähert sich dem Stadtwald. Genau auf der Stadtgrenze überquert der 61-Jährige ein weiteres Mal die Bahngleise, die von Mülheim nach Duisburg verlaufen und biegt nach links ins Nachtigallental ein. “Ab hier sind die Wege alle wassergebunden”, sagt er. Heißt: Kleine-Möllhoff ist jetzt auf unbefestigten Waldwegen unterwegs. An Regentagen bedeutet das, dass das Wasser und der Dreck nur so spritzen, von schlammigen Pfützen und Schlaglöchern ganz zu schweigen.“Wenn ich abends noch einen Termin habe, muss ich vorher erst einmal nach Hause und mich umziehen”, sagt Kleine-Möllhoff.
“Da ist es auch kein Wunder, dass viele Menschen keine Lust haben, das Auto gegen das Rad einzutauschen”, sagt Jürgen Heidenreich. Er sitzt im Landesvorstand des ADFC Nordrhein-Westfalen. Sein Thema ist vor allem Verkehrspolitik - also auch Radschnellwege. “Und da muss wirklich was passieren”, sagt er.
Heidenreich weiß, wovon er spricht. Vor seinem Ausscheiden arbeitete er 30 Jahre lang bei der nordrhein-westfälischen Straßenbau-Behörde Straßen.NRW. 20 Jahre lang war er selbst für die Planung von Radwegen verantwortlich.
Von Beginn an verfolgte er die schleppende Umsetzung beim Bau der Radschnellverbindungen. “Von 2017 bis 2022 herrschte da geradezu Stillstand”, sagt er. “Radschnellwege sind eine gute Idee, es bringt nur nichts, wenn sie nur auf dem Papier existieren.”
Laut Verkehrsminister Krischer gibt es dafür mehrere Gründe. “Der Ausbau dieser wirklich guten, hochwertigen Radinfrastruktur ist durchaus zu vergleichen mit dem Bauaufwand einer ganz normalen Land- oder Bundesstraße”, sagt er.
Einerseits müssten sehr hohe Anforderungen erfüllt werden, andererseits verliefen die Strecken durch hochverdichtete Städte, wo es zu einer Reihe von Konflikten komme, weil durch den Bau Parkplätze verschwinden, andere Verkehrsträger beinträchtig werden oder durch den Radschnellweg in Grünanlagen eingegriffen werde. “Es müssen viele Konflikte gelöst werden, und das hat meines Erachtens in den letzten Jahren dazu geführt, dass insbesondere die Kommunen, die das bei uns ja überwiegend planen, ja so ein bisschen das Interesse auch verloren haben, weil sie gemerkt haben, so ganz schnell kommt man nicht voran”, so der NRW-Verkehrsminister.
Eigentlich sollte genau diese Probleme das Fahrradgesetz beseitigen. Doch gut zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2022 hapert es an der Umsetzung. So sollte beispielsweise bis zum 1.1.2024 ein Bedarfsplan für Radschnellwege erstellt werden. Nachdem das Land diese selbst gesetzte Frist nicht einhalten konnte, wurde der Termin kurzerhand auf 2025 verlegt.
Harald Schuster aus dem Vorstand von Radkomm wundert das nicht. “Dieses Verzögern ist ein allgemeines Problem in der Politik”, sagt er. Die ambitionierten Ziele, die mit der Initiative “Aufbruch Fahrrad” erreicht werden sollten, sind dadurch in weite Ferne gerückt. “Damals haben wir 25 Prozent Radverkehr in NRW bis zum Jahr 2025 gefordert”, erinnert sich Schuster. “Wenn der Ausbau der Radwege in diesem Tempo vorangeht, wird das auch bis 2040 nichts.”
Am Geld, das die Regierung bereit ist zu investieren, liegt es auf den ersten Blick nicht. Im März kündigte das Land an, in diesem Jahr insgesamt 38 Millionen Euro für den Bau und den Erhalt von Radwegen zur Verfügung zu stellen. Neben zehn Millionen Euro allein für den Bau von Radschnellwegen, fließen zahlreiche Millionen auch in den Neubau von Radwegen an Bundesstraßen, Landstraßen und auf stillgelegten Bahntrassen. “Die Radschnellverbindungen können durch ihre Strahlkraft als Premiumprodukt der Radverkehrsinfrastruktur zukünftig auch den Ausbau des nachgelagerten Radverkehrsnetzes befördern”, heißt es dazu auf Anfrage.
Auf dem Papier klingt das gut, Jürgen Heidenreich ist trotzdem skeptisch. “Das Geld zur Verfügung zu stellen, ist eine Sache”, sagt er. Es müsse damit dann nur auch gebaut werden. Dass man Geld nicht mit gebauten Radwegen gleichsetzen kann, zeigt das vergangene Jahr. Da stellte das Land über das Radwegeprogramm 2023 auch 10 Millionen Euro allein für den Bau von Radschnellwegen zur Verfügung. Abgerufen wurden aber nur knapp 720.000 Euro. Ähnlich sieht es in den Vorjahren aus. Von den mehr als 86 Millionen Euro, die das Land NRW zwischen 2017 und 2023 nur für den Bau von Radschnellwegen zur Verfügung stellte, wurden gerade einmal 3,1 Millionen Euro auch genutzt, um Radschnellverbindungen zu bauen. Das entspricht nicht einmal vier Prozent.
Radschnellwege in NRW: Landesgelder in Millionenhöhe bleiben ungenutzt
Das Verkehrsministerium räumt jedoch ein, dass fast 10,2 Millionen Euro aus demselben Topf für die Planung von Radschnellwegen genutzt wurden. “Nicht direkt für den Radschnellwegeausbau ausgegebene Mittel wurden entweder für andere Maßnahmen der Nahmobilität eingesetzt oder wurden ausgespart und können so für zukünftige Projekte eingesetzt werden”, heißt es auf Anfrage des WDR.
“Das liegt daran, dass die Kommunen dabei vom Land allein gelassen werden”, sagt Harald Schuster von Radkomm. “Statt nur das Geld zur Verfügung zu stellen, würde es helfen, sie dabei zu unterstützen, wie sie die Mittel abrufen können.”
Dazu kommt noch ein weiteres Problem, das allerdings nicht neu ist: zu wenig Personal. Auch in der Verkehrsplanung herrscht Fachkräftemangel. “Es ist oft so, dass ein Radweg finanziert ist”, sagt Verkehrsminister Krischer. “Er kann aber nicht geplant werden, weil es schlicht und ergreifend in der Behörde den Menschen nicht gibt oder auch in einem privaten Planungsbüro nicht, der oder die das planen kann.”
Dem Land, den Kreisen und den Kommunen fehlen die Ingenieure und Ingenieurinnen, die die geplanten Projekte umsetzen. Um dem entgegenzuwirken, hat die aktuelle Landesregierung angekündigt, eine zweite Fahrradprofessur ähnlich der bereits bestehenden an der Universität Wuppertal zu fördern.
Den Zuschlag bekam die Hochschule Bochum, an der die neu geschaffene Professur vor allem Wert legen soll “auf die Planung und den Bau von Radverkehrsinfrastruktur”, wie Verkehrsminister Krischer betont. Doch bis die ersten Verkehrsplaner ihr Studium in Bochum beendet haben, wird es noch dauern.
“Daran sieht man, dass wir uns auf dem aktuellen Weg in einer Sackgasse befinden”, sagt Harald Schuster. Er wünscht sich vor allem, dass das Land die eigenen Maßnahmen häufiger hinterfragt. “Immer die gleichen Programme zu wiederholen, ist nicht sinnvoll”, sagt er und schlägt eine “regelmäßige Evaluierung” vor, mit der das Land gemeinsam mit Kommunen und Vereinen die Probleme identifizieren und dann Lösungen dafür erarbeiten solle. “Man darf das Land bei dieser Aufgabe nicht allein lassen”, so Schuster. “Sie lässt sich nur gemeinsam bewältigen.”
Eine erste Maßnahme, wie das gelingen könnte, wüsste ADFC-Vorstandsmitglied Heidenreich bereits. “Wenn das Land es mit der Verkehrswende ernst meint, muss es andere Projekte, beispielsweise für den Autoverkehr, hinten anstellen und die freigewordenen Ressourcen für den Radwegebau einsetzen.” Konkret heißt das nichts anderes, als dass das Land Verkehrsplaner, die aktuell an Projekten für die Autoinfrastruktur arbeiten, abziehen und für den Radwegebau einsetzen soll.
Laut Krischer geschieht das schon längst, schließlich sei im Koalitionsvertrag der Landesregierung zwischen CDU und Grünen verankert, “dass bei Straßen.NRW Radinfrastruktur mit der gleichen Priorität geplant werden soll wie Straßeninfrastruktur”. Allerdings müsse immer wieder in Einzelfällen entschieden werden, welches konkrete Projekt jetzt Priorität habe.
Das es auch ganz anders geht, hat beispielsweise die Wuppertal Bewegung bewiesen. 2006 gründete sich der Verein mit dem Ziel, die ehemalige Nordbahntrasse in Wuppertal zu einem Fuß-, Rad- und Skateweg umzugestalten. Trotz vieler Unwegbarkeiten wurde die Nordbahntrasse 2014 feierlich eröffnet und erfüllte schon damals zahlreiche Kriterien, an denen heute Radschnellwege gemessen werden.
Auch in Monheim entsteht gerade ein rein kommunaler Radschnellweg. Das heißt, dass Straßen NRW weder für Planung, Bau noch Unterhaltung zuständig ist. Die Kommune baut den Radschnellweg in Eigenregie, der aber an den RS5 anschließen wird, der Neuss mit Düsseldorf und Langenfeld verbinden soll. Von den insgesamt 5,4 Kilometern hat die Stadt bereits 1,5 fertiggestellt.
Was beide Fälle gemeinsam haben ist, dass die Radwege nur auf dem Gebiet einer Kommune geplant und gebaut werden mussten. Ein Netz von Radschnellverbindungen, mit dem man zwischen Städten pendeln kann, lässt sich damit nicht so einfach bauen. Ein Mammutprojekt wie den RS1 schon gar nicht.
Deshalb hofft Michael Kleine-Möllhoff auch weiterhin darauf, dass das Stück zwischen Mülheim und Duisburg auch auf dem bislang eingeschlagenen Planungsweg fertig wird. Dem 61-Jährigen geht es dabei nicht nur um Verkehrspolitik. Für ihn ist der RS1 auch ein Herzensprojekt. “Seit es die Pläne gibt, habe ich gehofft, dass ich mal die gesamte Strecke von Duisburg zur Arbeit nach Essen fahren kann”, sagt Kleine-Möllhoff. “Das wird aber knapp - ich gehe kommendes Jahr in Rente.“
Sendehinweis: Über dieses Thema berichten wir im WDR am 27.06.2024 unter anderem auch im Hörfunk: WDR Nachrichten, 6 Uhr, und im Fernsehen: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.
Text: Jörn Kießler
Redaktion: Thierry Backes, Till Hafermann, Raimund Groß
Grafiken: Till Hafermann
Videos: Jörn Kießler
Fotos: Jörn Kießler, ADFC/Dieter Debo, Radkomm/Rixa Schwarz, DLR, dpa/Rolf Vennenbernd, dpa/Paul Zinken, Holger Möllenberg