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WDR

Autor: Jörn Kießler, Ben Bode
Redaktion: Fulya Cayir
Kamera: Maik Arnold, Hans-Georg Boldt
Audio: Sebastian Moritz

Medien
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Messer als Waffe:

Nehmen Angriffe unter Jugendlichen zu?

von Ben Bode und Jörn Kießler

In der Kölner Innenstadt sticht ein 43-jähriger Mann einen anderen im Streit mit dem Messer nieder. Der 28-Jährige wird mit schweren Verletzungen in eine Klinik gebracht. In Düsseldorf versucht eine Gruppe von Männern zwei Besucher des Schlossufers zu berauben. Als die beiden jungen Männer flüchten, attackieren die Angreifer sie mit Messern und verletzten sie leicht .

Es sind die beiden jüngsten Taten, bei denen Menschen in NRW mit einem Messer angegriffen wurden. Beide ereigneten sich im August. Doch die Liste lässt sich problemlos weiterschreiben, wenn man im Kalender etwas weiter zurückgeht: Vor gut einem Jahr etwa stirbt ein 18-Jähriger, nachdem ihn ein 17-Jähriger auf der Zülpicher Straße in Köln niedergestochen hat. Der Jugendliche wurde zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt.

Diese Berichte vermitteln vor allem eines: Immer mehr Menschen – vor allem Jugendliche – haben ein Messer dabei, wenn sie unterwegs sind. Und sie machen davon auch Gebrauch. Doch ist das wirklich so?

Bewaffnen sich immer mehr junge Menschen?

Pascal, 19, zeigt sein Messer.

Pascal (Name von der Redaktion geändert) hat eine eindeutige Antwort auf diese Frage: "Ja, die haben viele Sachen öfters mal dabei", sagt der 19-Jährige im Gespräch mit dem WDR. "Manchmal einen Schlagring oder Schlagstock oder irgendwas."

Pascal selbst gehörte früher auch zu diesen Jugendlichen. Schon mit zehn oder elf Jahren habe er ein Messer mitgenommen, wenn er unterwegs war, erzählt er. "Für die Sicherheit. Für mich selbst." Damit er sich im Notfall habe wehren können.

Heute sei das aber nicht mehr so, versichert der 19-Jährige. Mittlerweile bereue er diese Zeit. Denn an einem Abend habe er das Messer nicht nur dabei gehabt. Er habe das Messer auch eingesetzt, so Pascal.

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Stechen Jugendliche heute wirklich häufiger zu als früher?

Auch wenn Pascals Geschichte und zahlreiche Medienberichte einen anderen Eindruck vermitteln – die offiziellen Zahlen sagen etwas anderes. Nach Informationen des NRW-Innenministeriums ist die Zahl der Opfer von Delikten, bei denen ein Messer zum Einsatz kam, im Jahr 2021 im Vergleich zu 2019 um mehr als 19 Prozent gesunken. Schaut man explizit auf die Zahl der Opfer, bei denen die Tatverdächtigen zwischen 14 und 20 Jahre alt waren, ist der Rückgang noch deutlicher: mehr als ein Drittel.

Der gleiche rückläufige Trend zeigt sich bei den Fällen, bei denen die Opfer mit einem Messer bedroht oder angegriffen wurden. Von 2019 zu 2021 sank die Zahl um fast 24 Prozent.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.

Bei der Entwicklung der Zahlen spielt sicher auch die Corona-Pandemie eine Rolle. Über lange Zeiträume in den vergangenen zwei Jahren waren Bars, Kneipen, Clubs und Diskotheken geschlossen. Das hat auch dazu geführt, dass vor allem junge Menschen weniger unterwegs waren.

Doch der Trend, dass die Kriminalität unter Jugendlichen zurückgeht, ist laut Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen nicht neu. Demnach werden die Fälle von Körperverletzungen, bei denen die Tatverdächtigen jünger als 21 Jahre waren, bereits seit 2011 kontinuierlich weniger. Bis 2020 reduzierten sie sich demnach um mehr als 31 Prozent.

Zu diesem Schluss kommt auch die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention des Deutschen Jugendinstituts. "Betrachtet man die langfristige Entwicklung der Gewaltkriminalität, verweisen die Ergebnisse von wiederholt durchgeführten Schülerbefragungen insgesamt auf einen Rückgang der Häufigkeit von Gewaltdelikten junger Menschen", heißt es in einem Bericht von Mai 2021.

Trotzdem ist die gefühlte Wahrheit eine andere – gerade im Bezug auf Jugendliche mit Messern. Das zeigt unter anderem eine nicht repräsentative Straßenumfrage, die der WDR unter Jugendlichen in Köln und Düsseldorf gemacht hat.

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Haben denn immer mehr Jugendliche ein Messer bei sich?

Für diese Kluft zwischen der gefühlten Bedrohung, die mutmaßlich von Jugendlichen mit Messern ausgeht, und den nüchternen Zahlen aus Kriminalstatistiken und Umfragen gibt es Gründe. Einer davon ist die Berichterstattung über einige der Umfragen.

So befragte etwa die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Jugendliche, ob, wo und wie häufig sie ein Messer bei sich tragen. Mehr als 20 Prozent der befragten männlichen 12- bis 18-Jährigen gaben dabei an, zumindest selten ein Messer bei sich zu haben.

Kaum waren die Ergebnisse der nicht repräsentativen Umfrage öffentlich, titelten Medien in der Schweiz unter anderem mit Schlagzeilen wie:

Jeder Fünfte zwischen 12 und 18 läuft mit einem Messer herum."

Das sei laut Thomas Bliesener, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), problematisch. Unter anderem, weil in der Berichtersttung über die Schweizer Befragung nicht darauf eingegangen wurde, warum die Jugendlichen ein Messer dabei hatten.

"Das hat häufig aber einen ganz trivialen Hintergrund: Sie benutzen das Messer als ein Werkzeug zum Äpfel schälen oder auch mal vielleicht für eine kleine Reparatur am Fahrrad", sagt der Diplom-Psychologe Bliesener. Seiner Meinung nach wird das Messer aber in aller Regel nicht mitgeführt, "um es als Messer zu benutzen", also als Waffe.

Zu diesem Ergebnis kommen auch die Forscher aus Zürich. In ihrer Umfrage gaben mehr als 60 Prozent der Jugendlichen, die ein Messer mit sich führen, an, dieses nur als Werkzeug zu nutzen.

Auch das KFN führt regelmäßig solche Befragungen mit Jugendlichen durch und kommt zu ähnlichen quantitativen Ergebnissen wie die ZHAW. "Da stellen wir fest, dass es eben einen kleinen Teil gibt von etwa 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen, die in der Freizeit gelegentlich ein Messer bei sich führen“, sagt Bliesener.

In diesem Kontext sei aber wichtig, auch nach dem Grund dafür zu fragen. „Und wenn man das tut, dann stellt man fest, in der Regel ist es dann einfach ein Werkzeug und nicht als Waffe vorgesehen“, sagt Bliesener.

Täuscht also der Eindruck, es gebe immer mehr Messer-Angriffe?

Trotzdem nehmen nicht nur viele Jugendliche die Situation anders wahr, als sie von Polizeistatistiken und Umfragen abgebildet wird. Einsatzkräfte von Feuerwehr, Rettungsdienst und selbst der Polizei berichten in persönlichen Gesprächen immer wieder davon, dass sie den Eindruck haben, dass immer mehr Jugendliche ein Messer bei sich haben, wenn sie unterwegs sind, und das auch als Waffe ansehen.

Ähnliches berichtet die Bergheimer Sozialpsychologin und Anti-Gewalt-Trainerin Heike Leye. Sie arbeitet unter anderem mit straffällig gewordenen Jugendlichen und versucht ihnen zu helfen, künftige Konflikte gewaltfrei zu lösen.

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Sozialpsychologin und Anti-Gewalt-Trainerin Heike Leye

Doch wie kann es sein, dass selbst Expertinnen wie Leye, die sich intensiv mit dem Thema Gewalt unter Jugendlichen beschäftigt, das Problem als viel größer wahrnehmen, als es die Kriminalitätsstatistiken zeichnen?

Für den Diplom-Psychologen Bliesener spricht eine solche Expertise nicht gegen die abweichende Wahrnehmung. Viel mehr erkläre der häufige Kontakt mit dem Thema, warum es anders bewertet werde – nicht nur bei Einsatzkräften und anderen Personen, die mit Opfern oder Tätern Kontakt haben.

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Prof. Dr. Thomas Bliesener, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN)

Wie verhindert man Messer-Attacken unter Jugendlichen?

Doch auch wenn Messerangriffe statistisch betrachtet verhältnismäßig selten vorkommen: Es gibt sie. Und sie haben meist für alle Beteiligten schreckliche Folgen – Opfer wie Täter.

Diese Erfahrung macht auch Heike Leye immer wieder, wenn sie mit straffällig gewordenen Jugendlichen arbeitet. Deswegen sei es wichtig, die Jugendlichen über die Konsequenzen einer solchen Tat aufzuklären und vor allem dafür zu sensibilisieren. "Oft geht das nur über strafrechtliche Konsequenzen oder wenn eindeutige Grenzen von der Justiz gesetzt werden", sagt die Sozialpsychologin. Viele jugendliche Täter fingen erst dann an darüber nachzudenken, wenn beispielsweise ein Freiheitsentzug drohe.

Das Problem ist laut Leye, dass viele Jugendliche, die ein Messer oder eine andere Waffe bei sich haben, gar nicht wüssten, wie gefährlich das sei.

Wenn die da wirklich stehen und die haben total den Adrenalin-Kick und die ziehen ihr Messer, können die gar nicht mehr einschätzen, was passiert."

Deshalb sei es sinnvoll, genau darüber frühzeitig aufzuklären. Allerdings sei es schwierig, mit genau den Jugendlichen in Kontakt zu kommen, die Gefahr laufen, ein Messer oder eine andere Waffe einzusetzen.

Leye selbst trifft sie in dem allermeisten Fällen erst, wenn sie schon auffällig oder sogar straffällig geworden sind. Da erst beginnt die Arbeit der Anti-Gewalt-Trainerin, die versucht, eine Beziehung zu den Jugendlichen aufzubauen.

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Heike Leye, Sozialpsychologin und Anti-Gewalt-Trainerin