Diese Website verwendet Funktionen, die Ihr Browser nicht unterstützt. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf eine aktuelle Version.
WDR

Autor: Thomas Köster

Redaktion: Marion Menne-Mickler

Medien
  • Courtesy: Susi Gelb und Galerie Nir Altman
  •  | dpa
  •  | Foto: Nino Barbieri / VG Bild-Kunst Bonn 2021
  •  | imago pictures / Everett Collection
  •  | Lili Fischer
  •  | Thomas Köster
  •  | VG Bild Kunst Bonn 2021 / Foto: Reni Hansen
  •  | WDR / dpa
  •  | WDR / Thomas Köster

Wer war Joseph Beuys?

Von Thomas Köster



Kunsterneuerer und Menschenfänger, Revolutionär und Prophet, Schamane und Scharlatan: Auch zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys 2021 kursieren viele Etiketten.

Aber: Wer war Joseph Beuys wirklich? Wie kam der Künstler, der Sender von Ideen sein wollte, bei den Menschen an? Wir haben Wegbegleiter*innen, Schülerinnen, Nachfolger*innen und einen Sammler sowie einen Galeristen nach "ihrem" Beuys befragt.

Dabei traten viele Gesichter von Joseph Beuys zutage. Und viele schöne Geschichten.

Onkel Beuys, der Lässige

Als Fünfjähriger untersuchte Franz van der Grinten mit "Onkel Beuys" in seinem Kinderzimmer Eulengewölle und bekam seine "erste Vorlesung in Zoologie".

Beuys war oft zu Gast: Der Vater des Galeristen, Franz Joseph van der Grinten, war nicht nur ein Freund, sondern gemeinsam mit seinem Bruder der erste Beuys-Sammler überhaupt.

"Unfassbar offen, durchlässig und interessiert" habe er Beuys erlebt, erinnert sich der Galerist. "Aufnahme- und sendebereit. Und unglaublich lässig."

Hier trägt Franz van der Grinten in den Räumen seiner Kölner Galerie einen Mantel aus der aktuellen Ausstellung von Marcus Neufanger, den Beuys' erweiterter Kunstbegriff stark prägte. Die Beuys-Corona-Maske stammt aus einer – inzwischen vergriffenen – Edition.



Der Sinneverfeinerer

Bei Feldarbeit erholte sich Beuys auf dem Hof der van der Grintens Mitte der 50er Jahre von einer schweren Depression, bevor er zur Weltkarriere durchstarten konnte.

Und die Gebrüder Grinten schufen mit ihrem Taschengeld den Grundstock für die größte Beuys-Sammlung der Welt. Heute ist sie im Museum Schloss Moyland in Bedburg-Hau.

Passend zum Beuys-Jahr hat Galerist Franz von der Grinten durch Zufall ikonische Aufnahmen von Peter Sevriens ausgegraben, die der Fotograf 1981 in Beuys' Düsseldorfer Atelier gemacht hat. Anfang 2021 waren sie ausgestellt.

Beuys habe seine "Anlagen und Sinne verfeinert", sagt Franz van der Grinten heute. Zum Beispiel in der Frage, wie man Projekte mit Editionen querfinanziert.

Der politische Ökologe

Wie beim Landschaftskunstwerk "7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung" für die documenta 1982 in Kassel: Auch hierfür hatte Beuys eine Zinkplatten-Edition geschaffen.

Aber die Rechnung ging nicht auf, Beuys blieb auf vielen Eichen sitzen: Und das, obwohl er zur Finanzierung sogar Werbung für japanischen Whisky machte und die zugehörigen Basaltstelen den Kassler Friedrichsplatz verschandelten.

Die letzte Eiche wurde erst ein Jahr nach Beuys' Tod 1986 im Beisein seiner Witwe Eva Beuys und seines Sohns Wenzel vor dem Fridericianum gepflanzt: ein Weg weisendes ökologisches Werk des Mitbegründers der Grünen.

Der visionäre Menschenfänger

Für die Finanzierung von "7000 Eichen" war damals der Polit-Künstler und Herausgeber Klaus Staeck verantwortlich. "Ich habe Beuys gleich gesagt, dass das schwierig werden wird", erinnert er sich. "Aber der war felsenfest davon überzeugt."

Beuys sei eben Visionär gewesen, und er Skeptiker: "zusammen also ein unschlagbares Team".

1968 überzeugte Staeck Beuys auf der documenta 4, mit ihm eine Postkarten-Edition zu machen. Am Ende wurden 80 Postkarten daraus, aber auch Multiples wie die "Wirtschaftswerte", für die Staecks Bruder Tempo-Erbsen oder Bullrich-Salz aus der DDR schickte.

Die Endlosproduktion der Editionen sollte den Kunstmarkt unterwandern. Und möglichst Viele für Kunst öffnen: "Beuys war auch ein Menschenfänger."

Der kommerziell Gescheiterte

Eine dieser Aktionen war die Edition "Intuition" des Remscheider VICE-Versandes, für die Beuys mit seinen Gefährten rund 12.000 Fichtenholz-Kisten mit zwei Strichen und seiner Signatur versah.

Acht Mark kostete die Edition 1968. Heute blättern Sammler auf Auktionen auch schon mal das Hundertfache hin. "Die Unterwanderung des Kunstmarkts", gibt auch Staeck offen zu, "ist nicht so recht gelungen."

Aber als Objekt spiegelt "Intuition" auch für Staeck genau das, was Beuys wollte: "Er machte Angebote für eine andere Zukunft." Und für das eigene Denken.

Der Fragensteller

Was das bedeutet, kann Hartmut Kraft erklären. Als Gymnasiast gab der Kölner Psychoanalytiker 1968 fast sein gesamtes Taschengeld für sein erstes Exemplar der "Intuition" aus. Vor drei Wochen erwarb er für etwas mehr Geld sein – vorläufig? – letztes.

Bis heute sei die leere Kiste für ihn "eine offene Frage geblieben", sagt Kunstsammler Kraft. "Für mich ist das ein Möglichkeitsraum, den ich füllen muss. Ein Freiraum, um die eigene Intuition zu befragen."

Inzwischen ist die Kiste im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach. Da wartet die Ausstellung "Leere Kisten als plastisches Thema bei Joseph Beuys" auf Besucherinnen und Besucher.

Kraft hat ein Buch über die Edition geschrieben, das gerade erschienen ist. Hier im Hintergrund: eine Skulptur der Beuys-Schülerin Hede Bühl.

Der öffnende Zerschneider

Hede Bühl war 1962 und 1963 Meisterschülerin von Joseph Beuys an der Kunstakademie. Hier wird sie umringt von ihren archaischen "Wächtern" im Garten ihres Atelierhauses in Düsseldorf.

Einmal sei Beuys mit einem langen Messer auf eine ihrer naturgetreuen Tonarbeiten losgegangen, erzählt die Künstlerin. "Er hat sie mitten durchgeschnitten."

Der brutale Akt war für Bühl ein Befreiungsschlag: "Die zwei neue Teile waren eine ganz neue Sicht auf das, was mich gerade beschäftigte. Wie Beuys aus einer langweiligen Sache mit einem Handstreich eine spannende Plastik machte, war sensationell."

Heute bedauert Bühl ein wenig, sich nicht mehr "auf Beuys und seine Philosophie" eingelassen habe.



Das Schreckgespenst der Politik

Davon, wie Prof. Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie zwischen 1961 und 1975 mit kleinen Eingriffen etwas verblüffend anderes schuf, berichten auch andere Schüler seiner Klasse, darunter Felix Droese, Jörg Immendorff oder Blinky Palermo.

Schüler anderer Lehrer seien regelrecht vor Beuys geflohen, erinnert sich Bühl: "Er hatte schon etwas Zerstörerisches. Das Alte zählte nicht mehr." Auch sie habe eigentlich fliehen wollen. "Aber dann war ich unentschlossen und bin deshalb geblieben."

NRW-Wissenschaftsminister Johannes Rau war auch verstört, als Beuys 1972 alle abgelehnten Studenten in seine Klasse aufnehmen wollte und das Sekretariat besetzte. Rau schickte Polizisten und entließ den Professor. Ein Jahr später holten ihn seine Studenten mit einem Einbaum zumindest symbolisch zurück.

Der lenkende Zuhörer

Eine, die die Räumung der Akademie mit der Kamera festhielt, ist Katharina Sieverding. Daraus entstand "Eigenbewegung 1967-1972" mit etwa 252 Fotos: ihre "erste fotodokumentarische künstlerische Arbeit als 'work in progress'".

Sieverding wechselte aus der Bühnenbild-Klasse zu Beuys, der intensiv um sie geworben hatte. Nach dem Tod von Benno Ohnesorg 1967 habe sie die Bühnenkunst hinter sich lassen und politisch agieren wollen, sagt Sieverding: "Und da war Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff genau der Richtige."

"Beuys sagte ja nicht, wie man Kunst zu machen habe", sagt Sieverding. "Sondern man konnte selbst so lange darüber sprechen, bis die Erkenntnis kam. Der Schüler wurde selbst zum Lehrer. Das hat mich sehr begeistert."

Und Beuys war begeistert von ihren Fotos.



Der bewegende Materialist



Trotz aller Begeisterung ist Sieverding kein Beuys-Jünger geworden. Tony Cragg auch nicht. Aber in Beuys' Worten habe er "Inspirationen gefunden, die fortan meine Kernthemen – Materie und Bewegung – beeinflusst haben."

1972 begegnete Cragg als 23-jähriger Student Beuys "während eines seiner unorthodoxen Vorträge zur kontinuierlichen Dynamik von Leben und Kunst" in London zum ersten Mal. Seinen Mut und seine Überzeugungen habe er bewundert.  

"Für Beuys war Kunst ein aktiver Prozess", sagt Cragg. "Sein Material war die Gesellschaft und der bewusste und verantwortungsvolle Umgang mit ihrer Gestaltung. Das macht seine Arbeit politisch und sozial relevant."

Zum 100. Geburtstag hat Cragg Beuys in seinem Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal die Ausstellung "Perpetual Motion" eingerichtet.

Der heilende Schamane?

Im aktiven Kunstprozess hat Beuys "Werklauf und Lebenslauf" immer wieder untrennbar ineinander übergehen lassen. Mythenbildung war da ein probates Mittel.

Hierzu gehört auch die Legende, derzufolge Tataren den im 2. Weltkrieg über der Krim abgeschossenen Wehrmachtsfunker Beuys 1944 acht Tage lang mit Tierfett im Filz-Zelt aufopfernd salbten.

Später werden Fett und Filz als Symbole für Energie und Wärme zu Beuys' Markenzeichen. Und gehören zum Werk ebenso wie der Gedanke, dass Kunst den Menschen und die Welt heilen könne.

Rituale, die Mensch und Natur in Einklang bringen, werden dabei Bestandteil des Werks. Das zeigt eine Ausstellung auf Schloss Moyland: "Joseph Beuys und die Schamanen".

Der große Lacher

Der Titel der Schau stammt von Lili Fischer, die über "Beseelung" promoviert hat. "Und mit Beseelung hat sich auch der Schamane Beuys befasst." Hier sehen wir Fischer in den Katakomben unter den Hamburger Deichtorhallen, wie sie 1993 die Geister der Wikinger beschwört.

Ein Jahr später wurde Fischer Professorin für Performance und Feldforschung an der Münsteraner Kunstakademie. Auf Schloss Moyland zeigt sie eine Installation mit "Schnaken-Geistern". Denn Schamanen hätten kranken Menschen Insekten auf den Mund gelegt, um ihnen die Seele zurückzugeben.

"Der Beuys war immer so nett und lustig", sagt Fischer. Einmal sei er mit ihrem Lehrer, dem Konzeptkünstler Franz Erhard Walther, in ihrer Studentenwohnung vorbeigekommen. Da habe sie spontan einen Dia-Vortrag über Sebastian Kneipp und die Kunst gehalten.

"Eine Tonbandaufnahme davon habe ich noch. Aber das Gelächter von Beuys und mir übertönt alles andere."



Ein europäischer Gagarin

Auch Igor Sacharow-Ross – hier in seinem Atelier in Köln – ist in der "Schamanen"-Ausstellung vertreten: mit einer raumsprengenden Installation aus Holz, Grafit und seinem Lieblingsmaterial: Carbon.

Sacharow-Ross lernte Beuys 1981 in München kennen: eine Station nach seiner Ausbürgerung unter Breschnew. Spontan habe er ausgerufen: "Joseph, du bist unser europäischer Gagarin!" Weil er wie der erste Mensch im All einen Horizont durchbrochen habe.

Beuys kam gerade aus Polen, wo er mit Arbeiterführer Lech Walesa gesprochen hatte. "Breschnew muss ich auch mal besuchen und am Kinn kraulen", habe er geschmunzelt. "Und ihm sagen, dass die Russen meine Schwestern und Brüder sind."

"Lächeln und Kraft" sei Beuys für ihn gewesen.

Einmal habe er Beuys eine russische Zeitschrift gezeigt, in der beide Künstler zufällig einen Beitrag hatten. "Da haben wir mit Farbe und Schellack ein gemeinsames Kunstwerk draus gemacht." Heute gehört es seiner Tochter.

Der energetische Inspirator

Aber man kann ja auch Kunstwerke von Beuys weiterentwickeln. Wie die berühmte Capri-Batterie, die aus einer Glühbirne und einer Zitrone besteht.

Mit ihrer "Capri-Batterie Asien-Standard (Update für Joseph Beuys)" hat die 35-jährige Münchner Künstlerin Susi Gelb das 2010 getan. Im Oktober 2021 soll ihre Variante auf Schloss Moyland zu sehen sein.

"An Beuys hat mich gereizt, dass er das Lebendige in seine Kunst mit einbezieht", sagt Gelb. "Die Natur. Die Vergänglichkeit. Den Prozess. Die Energie." Die Capri-Batterie sei "ihr totales Lieblingskunstwerk".

Als Gelb 2009 vom Verbot klassischer Glühbirnen erfuhr, hatte sie "eine Kurzschlussidee: O Gott, wie sieht denn der Beuys mit einer Energiesparlampe aus?"

Für Gelb ist die Capri-Batterie "ein Sinnbild dafür, dass die Menschen immer zu viel aus der Natur ziehen wollen." Und das ist nun wirklich ein sehr aktueller Gedanke.



Mehr zu Joseph Beuys gibt's auf wdr.de.