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Gendermedizin

Warum Frauen und Männer anders krank werden







In der Medizin war der männliche Körper lange Maßstab für Medikamente, Therapien, Diagnosen. Mit teils fatalen Folgen für Frauen. Die Gendermedizin will das ändern, sodass alle profitieren - Frauen wie Männer.

von Carolin Köhler

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Als Saskia mit zwölf Jahren zum ersten Mal ihre Periode bekommt, leidet sie unter heftigen Unterleibsschmerzen. Für ihren Gynäkologen ist damals klar: Das sind Regelschmerzen, was sonst?

Er empfiehlt Saskia Schmerztabletten und verschreibt ihr die Pille. Für Saskia beginnt damit ein jahrelanger Leidensweg. Immer wieder spricht sie die starken Schmerzen an, immer wieder werden diese abgetan. Als sie nach einigen Jahren die Pille absetzt, werden die Schmerzen so schlimm, dass sie Saskia im Alltag stark einschränken. Sie fängt an, an sich selbst zu zweifeln:

Wenn man immer wieder äußert, dass man starke Schmerzen hat, diese aber abgetan werden, verliert man die Kraft.

Jahrelang leidet Saskia unter Schmerzen - jahrelang ohne Diagnose.

"Man denkt irgendwann - ok, vielleicht übertreibe ich, vielleicht ist das einfach Teil der Periode, vielleicht bin ich einfach besonders schmerzempfindlich - irgendwann gibt man einfach auf und möchte mit dem Arzt nicht mehr drüber reden", erzählt Saskia.

Nur durch Zufall nimmt ihr Weg doch noch eine andere Wendung. Sie unterhält sich mit einer Freundin über ihre Symptome. Die Freundin wird hellhörig und vermutet eine Endometriose. Saskia hat zu dem Zeitpunkt ihren Gynäkologen gewechselt und spricht ihn auf ihre Vermutung an.

Erst zweifelt er, viele Frauen würden "momentan meinen, dass sie unter Endometriose leiden". Als Saskia aber fertig ist mit der Schilderung ihrer Symptome, schickt er sie direkt ins Krankenhaus. 16 Jahre nach ihrer ersten, schmerzhaften Periode, bekommt sie es nach einer Bauchspiegelung schwarz auf weiß: Endometriose.

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Das "Chamäleon der Gynäkologie": Endometriose

Es ist eine oft schmerzhafte chronische Erkrankung, die nur Frauen betrifft. Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnlich ist, kommt dabei außerhalb der Gebärmutter vor. Es kommt zu Verklebungen, Entzündungen und Zysten, die zu starken Schmerzen führen können - zum Beispiel in Bauch und Rücken, beim Geschlechtsverkehr oder auch beim Toilettengang. Die sogenannten Endometrioseherde können die Eierstöcke schädigen, sich aber auch an Organen wie dem Darm ansiedeln.

Genau das war auch bei Saskia der Fall – sie musste mehrfach operiert werden. Gleichzeitig war sie aber auch erleichtert, endlich zu wissen, was mit ihr los ist:

Ich glaube, ich hätte mir viele Schmerzen ersparen können.

"Es ist natürlich eine chronische Krankheit und sie ist nicht heilbar. Aber ich hätte besser damit umgehen können. Ich hätte meinen Körper besser verstanden und auf ihn gehört. Ich hätte aufgehört an mir zu zweifeln und zu glauben, dass ich mir das nur einbilde", sagt die 29-Jährige.

Die gelbe Schleife gilt als Symbol der Solidarität mit Betroffenen von Endometriose.

Wäre Endometriose besser erforscht, wenn Männer betroffen wären?

Saskias Weg ist nicht ungewöhnlich, sondern typisch. Einer britischen Studie zufolge vergehen im Schnitt acht bis zwölf Jahre bis zu einer Endometriose-Diagnose. Und das, obwohl die Krankheit nicht selten auftritt – weltweit leiden nach Informationen der World Health Organisation (WHO) 190 Millionen Mädchen und Frauen an Endometriose. Wegen ihrer unspezifischen Symptome wird die Krankheit auch als das Chamäleon der Medizin bezeichnet.

Doch obwohl Endometriose zu den häufigsten gynäkologischen Krankheiten gehört, ist sie bisher wenig erforscht. Deutschland hat jahrelang kaum in die Forschung investiert, in den letzten 20 Jahren waren es insgesamt gut 500.000 Euro an Forschungsgeldern. Betroffene und Verbände setzen sich seit Jahren dafür ein, dass Endometriose besser erforscht wird - unter anderem fordern sie eine nationale Endometriose-Strategie, wie sie zum Beispiel Länder wie Frankreich und Australien haben. In Frankreich hat Präsident Macron 25 bis 30 Millionen Euro zur Erforschung der Krankheit versprochen.

Auch in Deutschland soll jetzt mehr Geld in die Endometriose-Forschung fließen: Am 20.10.2022 hat der Haushaltsausschuss des Bundestags fünf Millionen Euro Forschungsmittel beschlossen.

Dass Endometriose noch nicht besser erforscht ist, ist auch ein strukturelles Problem. Lange Zeit orientierte sich der medizinische Standard am Mann, in der Behandlung von Krankheiten genauso wie in ihrer Erforschung.

Kardiologin Prof. Vera Regitz-Zagrosek

Wäre Endometriose besser erforscht, wenn die Krankheit hauptsächlich Männer betreffen würde? "Da bin ich mir relativ sicher", sagt Prof. Vera Regitz-Zagrosek.

Die Kardiologin ist Mitbegründerin der Gendermedizin in Deutschland. Sie war eine der ersten Medizinerinnen, die auf lebensgefährliche Unterschiede in Diagnostik und Behandlung von Herzkrankheiten hingewiesen hat. Dafür wertete sie Daten von Operationen aus, schaute sich die Krankheitsverläufe von Patientinnen und Patienten an und stellte dabei große Unterschiede zwischen Männern und Frauen fest.

Trotz Widerständen und Skeptikern aus den eigenen Reihen wollte sie diese Unterschiede genauer erforschen und gründete unter anderem das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin.

Warum Frauen in der Medizin strukturell benachteiligt sind

Aber was hat es auf sich mit der Gendermedizin? Bei Diskussionen im Netz sorgt das Wort Gender schnell für erhitzte Gemüter – dabei ist es in der Medizin ein wichtiger Ansatz, der nicht nur über Gesundheit und Krankheit, sondern im Zweifel auch über Leben und Tod entscheiden kann.

Denn in der Medizin bedeutet eine gleich gute Versorgung für alle Geschlechter nicht automatisch eine identische Versorgung. Ganz im Gegenteil. Frauen sind keine "kleinen Männer" und schon gar keine Abweichungen von einer gedachten männlichen Norm.

Was genau bedeutet Gendermedizin? Bei der Gendermedizin oder geschlechtersensiblen Medizin geht es darum, inwiefern Männer und Frauen unterschiedlich krank werden und dementsprechend unterschiedlich behandelt werden müssen.

Dabei werden nicht nur biologische Unterschiede berücksichtigt, sondern auch soziokulturelle. Hierbei geht es zum Beispiel um Unterschiede in der Kommunikation über Krankheiten oder um erlernte Muster im Umgang mit Krankheiten.

Trotzdem haben sich Medizin und Forschung lange nur am männlichen Körper orientiert und tun das bis heute noch oft. So fehlen in vielen medizinischen Bereichen Daten zu Frauen – die sogenannte "Gender-Data-Gap". Für die Frauengesundheit hat diese Datenlücke zum Teil gravierende Folgen. Sei es wie im Fall von Saskia, deren Krankheit Endometriose bisher nur wenig erforscht ist. Oder sei es bei Medikamenten, die nur an Männern getestet wurden und bei Frauen anders wirken.

Der vitruvianische Mensch von da Vinci - das Ideal des männlichen Körperbaus

Jahrzehntelang hat es keine oder zu wenige Medikamententests mit Frauen gegeben – und so auch keine ausreichenden Daten zu Dosierung oder Nebenwirkungen. Das hat nicht nur historische, sondern auch praktische Gründe: Studien an Männern sind einfacher durchzuführen.



Spätestens seit dem Contergan-Skandal ist die Pharmaindustrie sehr vorsichtig beim Thema Schwangerschaft. Außerdem kommt bei Frauen der Zyklus hinzu, der sich auf die Wirkung von Medikamenten auswirkt. Gerade deswegen wäre es aber so wichtig, Medikamente auch an Frauen zu testen, gibt Vera Regitz-Zagrosek zu bedenken:

Es ist doch nicht sinnvoll, dass wir diesen Zyklus bei der Arzneimittelentwicklung künstlich ausklammern, dann aber diese Arzneimittel trotzdem den Frauen verabreichen, die ja nach wie vor ihren Zyklus haben.

"Ich erinnere mich noch, als Thrombolytika auf den Markt kamen – Medikamente, die die Blutgerinnung blockieren und bei Herzinfarkt sehr wirksam sein können. Als zum ersten Mal eine Frau damit behandelt werden sollte, die ihre Menstruation hatte, da liefen die Telefondrähte heiß. Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie ein solches Medikament, das natürlich Blutungen auch unterstützt, wirken würde, wenn man es einer menstruierenden Frau gibt", so die Kardiologin weiter.

Bei der Entwicklung der Medikamente war das Thema Frauen und Menstruation ausgeklammert worden. Hier tut sich allerdings etwas: Eine EU-Verordnung schreibt seit Anfang 2022 vor, dass klinische Studien mit einer "repräsentativen Geschlechter- und Altersverteilung" durchgeführt werden müssen. Das bedeutet nicht automatisch 50% Männer und 50% Frauen. Die Forschung soll sich vielmehr daran orientieren, wer mit einem Medikament hauptsächlich behandelt werden soll - an dieser Gruppe soll das Medikament dann auch hauptsächlich getestet werden.

So soll es bessere Daten für alle geben. Das ist wichtig, denn nicht nur die Monatsblutung spielt eine Rolle bei der Wirkung von Medikamenten. Geschlechts-Chromosomen sorgen zum Beispiel für Unterschiede im Herz-Kreislauf-System, im Stoffwechsel und in der Körperzusammensetzung. Auch die Hormone spielen eine wichtige Rolle, denn sie können die Aufnahme und Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen.

Herzinfarkte: Männer erkranken häufiger, Frauen sterben häufiger

Aber schon in der Frühphase der Erforschung werden Medikamente nach wie vor oft nur an jungen männlichen Tieren getestet. Substanzen, die vor allem bei Frauen wirksam werden, können so nicht gefunden werden, kritisiert Vera Regitz-Zagrosek:

"Wir müssen die biologischen Unterschiede sehr breit akzeptieren und das muss in der Lehre und in der Forschung kommuniziert werden. Das fängt damit an, dass man in Tierexperimenten wahrnehmen muss, dass weibliche Mäuse einen Herzinfarkt anders überleben als männliche Mäuse, nämlich eigentlich besser. Dass Suchtverhalten, depressives Verhalten bei männlichen und weiblichen Mäusen unterschiedlich ist. Dass sich zum Beispiel in der Blutzuckerregulation schon auf Organebene in ganz grundlegenden Regelkreisen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Individuen finden. Und dass wir diese oder ähnliche Unterschiede dann auch bei unseren Patientinnen und Patienten finden."

Gerade in Regitz-Zagroseks Fachgebiet der Kardiologie zeigt sich sehr deutlich, warum es Gendermedizin braucht. Fast jeder kann aus dem Stehgreif die Symptome eines Herzinfarktes beschreiben: Heftiges Stechen in der Brust? Atemnot? Besser schnell den Rettungsdienst anrufen! Doch das sind die klassischen Symptome eines Herzinfarktes bei einem Mann. Bei Frauen werden Infarkte dagegen oft von "typisch weiblichen" Symptomen wie Oberbauchschmerzen, Übelkeit oder Schweißausbruch begleitet. Wer denkt da sofort an einen Herzanfall?

Die bei Frauen anderen Symptome standen lange Zeit nicht in den Lehrbüchern. Dabei sind Herzinfarkte keine typische Männerkrankheit. Zwar erleiden Männer häufiger einen Infarkt, für Frauen ist aber das Risiko größer, an einem Infarkt zu sterben.

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Selbst Medizinerinnen und Mediziner können die Symptome nicht immer sofort als Herzinfarkt einordnen, die Betroffenen selbst schon gar nicht. So werden Infarkte bei Frauen später erkannt, sie rufen im Schnitt später die Rettung und kommen später in der Notaufnahme an.

Eine von der Deutschen Herzstiftung geförderte Studie zeigt: Bei Frauen über 65 Jahren mit Symptomen eines Herzinfarktes vergehen im Schnitt über viereinhalb Stunden, bis sie in die Notaufnahme kommen. Bei Männern gleichen Alters dauert es nur dreieinhalb Stunden. Wichtige Zeit bei einem lebensbedrohenden Infarkt.



Studien zeigen: Frauen werden in der Medizin weniger ernst genommen

Es gibt zahlreiche solcher Untersuchungen. Einer kanadischen Studie zufolge haben Frauen ein höheres Risiko für Komplikationen nach einer Operation, wenn sie von einem männlichen Chirurgen operiert wurden. Eine amerikanische Studie zeigt, dass Frauen bei Schmerzen weniger ernst genommen werden als Männer. Sie bekommen bei Schmerzen häufiger Beruhigungsmittel verschrieben, während Männer eher Schmerzmittel bekommen. Und manche Ärztinnen und Ärzte glauben bei Frauen selbst dann noch eher an eine psychische Ursachen der Schmerzen, wenn eine klinische Diagnose vorliegt.

Das liegt an Vorurteilen, unzureichender gendersensibler Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern aber auch an Unterschieden in der Kommunikation der Geschlechter, sagt Vera Regitz-Zagrosek:

"Die soziokulturelle Akzeptanz von Erkrankungen, der soziokulturelle Ausdruck von Beschwerden ist bei Männern und Frauen anders. Das müssen Ärztinnen und Ärzte einfach wissen. Und wenn sie darauf achten, dann ist das sehr viel besser, als wenn sie einfach geschlechterblind durch die Gegend laufen."

Unterschiede zwischen Männern und Frauen - im Medizin-Studium oft nur Beiwerk

Diese Unterschiede in der Kommunikation von Männern und Frauen zu beachten, ist ein wichtiger Ansatz in der Ausbildung von angehenden Medizinerinnen und Medizinern. An der Universität Bielefeld gibt es seit September 2021 den deutschlandweit ersten Lehrstuhl für Gendermedizin.

Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für gendersensible Medizin

Bielefeld hat damit eine Vorreiterrolle: Denn an den meisten Unis in Deutschland gehört geschlechtersensible Medizin nicht zu den Pflichtfächern, ist nicht systematisch in die Lehre eingebunden und spielt nach wie vor nur am Rande eine Rolle. Den Lehrstuhl in Bielefeld hat Prof. Sabine Oertelt-Prigione übernommen.

"Fakultäten, die es in der Pflichtlehre systematisch implementieren, gibt es im Moment nur zwei: Die Charité und jetzt eben Bielefeld. Mit einer neuen Approbationsordnung in einigen Jahren werden wir sicherlich mehr Aufmerksamkeit für das Thema kriegen. Aber erstmal ist es noch eine Ausnahme, dass eine Uni ein so offenes Ohr für die Thematik hat, wie es in Bielefeld der Fall ist", so die Professorin.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.

Sabine Oertelt-Prigione will den Studierenden einen breiten und vor allem ganzheitlichen Blick auf das Thema vermitteln. Nicht nur Wissen darüber, wie sich das biologische Geschlecht auf verschiedene Krankheiten und körperliche Prozesse auswirkt, sondern auch Wissen darüber, welche Unterschiede es in der Kommunikation gibt.

Es ist Sabine Oertelt-Prigione deshalb wichtig, dass die Studierenden nicht nur lernen, dass zum Beispiel ein Herzinfarkt bei Frauen und Männern unterschiedliche Symptome haben kann, sondern, dass sie vor allem lernen, dass Menschen Individuen sind – weit über das Thema Gender hinaus.

Warum Depressionen bei Männern häufig unerkannt bleiben

Herkunft, Hautfarbe, Alter, Bildung - es gibt viele Gründe, aus denen Menschen im Gesundheitswesen keine passende Behandlung bekommen. Sensibilisiert man angehende Medizinerinnen und Mediziner schon im Studium dafür, profitieren im besten Fall am Ende alle davon, so die Professorin für gendersensible Medizin:

"Wir arbeiten in der Medizin mit Wahrscheinlichkeiten und das ist ja erstmal auch nachvollziehbar, weil wir manchmal schnell Diagnosen finden müssen. Es heißt aber auch, dass bestimmte Krankheiten als typisch männlich oder typisch weiblich wahrgenommen werden. Wenn aber jetzt zum Beispiel eine Patientin zum dritten Mal vor mir sitzt und immer noch Schmerzen hat, dann sollte ich neu denken. Auch überlegen: Wie sprechen Patientinnen und Patienten über ihre Krankheiten? Was erfahre ich als Behandelnder überhaupt?"

Wir haben da wirklich Unterschiede, nicht nur im biologischen Sinne, sondern eben auch in der Kommunikation.

Ein gutes Beispiele für die Vorteile einer gendersensiblen Diagnostik bei Männern ist das Thema Depressionen. Frauen erhalten doppelt so häufig wie Männer eine Diagnose für Depressionen.

Das liegt zum einen auch wieder an unterschiedlichen Symptomen - aber auch an Genderrollen: Männern fällt es oft schwerer, über Gefühle zu sprechen, und manche Ärztinnen und Ärzte denken bei männlichen Patienten eher an Burnout als an Depression. Auch hier könnte also ein geschlechtersensibler Ansatz, der geschlechtsspezifische Symptome berücksichtigt und mit alten Denk- und Verhaltensmustern bricht, lebenswichtig sein.

Zukunft der Gendermedizin: Angehende Ärzte wollen Veränderung

Aber wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein geschlechtersensibler Ansatz unter Ärztinnen und Ärzten durchsetzt? Unter den Studierenden in Bielefeld ist laut Oertelt-Prigione das Interesse am Thema groß. Sie spricht von einer Bottom-Up-Bewegung – von Veränderung, die dadurch entsteht, dass eine neue Generation an Medizinerinnen und Medizinern heranwächst, die von Anfang an sensibel für genderspezifische Medizin ist.

Aber auch bereits praktizierende Mediziner sind häufig offen für das Thema. Sabine Oertelt-Prigione wird regelmäßig für Fortbildungen zum Thema Gendermedizin angefragt und empfiehlt dafür zunehmend Kolleginnen und Kollegen weiter.

"Natürlich gibt es wie in jeder Gruppe einen kleinen Teil, der sagt: Das habe ich 30 Jahre lang nicht gemacht, damit fange ich jetzt nicht an. Damit muss man leben. Es gibt aber viele Kolleginnen und Kollegen, die das Thema sehr spannend finden – nur müssen sich Ärztinnen und Ärzten in vielen Bereichen auf dem Laufenden halten und die Zeit ist begrenzt. Da muss man auch Prioritäten setzen. Ich glaube, unser Ziel muss sein, diejenigen zu animieren, die dem Thema prinzipiell offen gegenüberstehen, und ihnen die Möglichkeit geben, sich fortzubilden."

Der Weg ist noch weit - aber in der Medikamentenforschung hat sich was getan.

Einiges hat sich schon zum Vorteil verändert, Sabine Oertelt-Prigione ist es wichtig, das zu betonen. Auch wenn es in der Medikamentenforschung noch nicht Standard ist, wird häufiger auf Geschlechtsunterschiede geschaut - es ist schwieriger geworden, Frauen in Arzneimittelstudien auszuschließen.

"Natürlich sind Arzneimittel im Umlauf, die vor zwanzig, dreißig Jahren getestet wurden. Wenn damals nicht gut auf Geschlechterunterschiede geguckt wurde, haben wir die Daten natürlich nicht. Geschweige denn Daten zu Menschen, die nicht Männer und Frauen sind", so die Wissenschaftlerin. Und:

Was machen wir mit trans* Personen, mit nicht-binären Menschen? Auf diese Fragen gibt es überhaupt noch keine Antworten. Aber es gibt Bewegung im System. Auch dadurch, dass Patientinnen und Patienten mehr nachfragen.

Die Veränderungen kommen also nicht nur aus der Medizin, sondern auch von den Menschen, die nach medizinischer Hilfe suchen. Durch das Internet und Social Media und zunehmende Berichterstattung über Gendermedizin sind mehr Menschen für das Thema sensibilisiert. Krankheiten wie Endometriose sind bekannter geworden, Herzinfarkt-Symptome bei Frauen werden häufiger thematisiert und erreichen eine breitere Bevölkerung.

Die Patientinnen und Patienten informieren sich selbst intensiver über ihre Krankheiten. Nicht jeder Arzt ist davon begeistert – Sabine Oertelt-Prigione wünscht sich auch hier mehr Offenheit:

Die Patientinnen und Patienten sind Expertinnen und Experten für ihre Erkrankung. Das müssen wir akzeptieren.

Es gebe Ausnahmen, aber: "Normalerweise lebt die Person 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr mit der Erkrankung. Natürlich hat sie eine ganze andere Expertise als wenn ich die Person jetzt 15 Minuten in meiner Praxis sehe. Und hier müssen wir umdenken und uns das zunutze machen."

Zu diesem Umdenken könne die geschlechtersensible Medizin auch beitragen, weil es dabei viel um hinhören und ernst nehmen ginge.

Ob Mann und Frau in der Medizin als ungleich oder gleich angesehen werden, darf kein Zufall mehr sein - ein Ziel der Gendermedizin.

Dass genauer hingehört und Menschen ernster genommen werden, hofft auch Saskia. Sie war und ist Expertin für ihre Erkrankung – aber sie musste einen langen Weg gehen, bis ihr jemand richtig zuhörte und die korrekte Diagnose Endometriose stellte.

Hoffnung macht ein neu entwickelter Test. Ein deutsches Labor hat Ende 2022 den weltweit ersten Speicheltest zur Diagnose von Endometriose auf den Weg gebracht. Die Krankheit soll damit innerhalb von zwei Wochen festgestellt werden können. 799 Euro kostet der Test, bisher wird er noch nicht von den Krankenkassen übernommen.



Was Saskia auf ihrem langen Weg gelernt hat? Auf sich selbst und ihr Körpergefühl zu vertrauen. Als es ihr vor einiger Zeit wieder schlechter ging und sie wieder das Gefühl hatte, nicht ernst genommen zu werden, machte sie auf eigene Faust ein MRT.

Das Ergebnis: Es wurden neue Endometrioseherde entdeckt, Saskia musste wieder operiert werden. Ohne ihre Hartnäckigkeit und ihre Selbsteinschätzung wäre eine tief infizierte Endometriose an ihrem Darm nicht entdeckt worden. Auch deswegen setzt sie sich so intensiv für Aufklärung über die Krankheit ein:

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Die Recherche zum Nachhören:

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