Von Zeynep Cagman | 19. Februar 2025
Am 19. Februar 2020 erschoss ein deutscher Mann neun junge Menschen in Hanau aus rassistischen Motiven. Anschließend tötete der Attentäter sich selbst und seine Mutter. Seitdem kämpfen die Angehörigen von Said Nesar Hashemi, Hamza Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov für Aufklärung und Sichtbarkeit.
Gespraytes Andenken an die Opfer des Anschlags von Hanau in Frankfurt a.M.
Für viele Menschen in Deutschland mit Migrationsbiografie hat die Tat in Hanau an ihrem Sicherheits- und Zugehörigkeitsgefühl gerüttelt. Wir haben mit sieben Menschen darüber gesprochen, wie es ihnen fünf Jahre nach dem Anschlag geht.
Yasemin ist 24 Jahre alt und hat nach dem Anschlag in Hanau die Entscheidung getroffen, Journalistin zu werden, um Perspektiven abzubilden, die ihrer Meinung nach nicht genug abgebildet werden. Ursprünglich kommt sie aus Frankfurt. Mittlerweile lebt sie in Düsseldorf. Hanau hat für sie alles verändert, sagt sie.
„Der Anschlag in Hanau hat mein Leben für immer verändert. Ich hab mir schon relativ früh gedacht, dass es ein rassistisches Motiv sein muss. Im Inneren habe ich gehofft, dass es nicht so ist, wie ich denke, aber als dann immer mehr rauskam, war es leider keine große Überraschung. Das hat etwas mit meinem Sicherheitsgefühl gemacht. Ich bin auch jahrelang nicht mehr in Shisha Bars gegangen und das war für mich der einzige Ort, wo ich mich auch wohl gefühlt habe, eine Art Safe Space. 2-3 Jahre nach Hanau war ich zum ersten Mal wieder in einer Shisha Bar und ich habe mich wirklich dabei erwischt, wie ich gedacht habe, wo ist der Notausgang?
Nach Hanau habe ich extrem oft Panikattacken gehabt, bis heute. Es hat ausgelöst, dass man einfach ständig Angst hat. Also wirklich die ganze Zeit.
Ich bin 24 und das war das erste richtig große Attentat von Rechtsextremisten gegen Menschen, die so aussehen wie ich und die so heißen wie ich.
Es hat mir nochmal gezeigt, dass das Leben morgen vorbei sein kann durch Menschen, die uns hassen. Die uns zwar nicht mal kennen, aber die uns trotzdem hassen.
Gerade nach Hanau war für mich der absolute Anspruch, für mehr Sichtbarkeit zu sorgen und auch die Dinge richtig darzustellen. Ich schäme mich bis heute, dass sich viele Medienschaffende nicht verantwortlich fühlen, zu dieser Aufklärung etwas beizutragen und ich schäme mich, wenn ich in einem Raum sitze, wo Angehörige sind, die weinend irgendwie versuchen, da ihre Forderungen zu formulieren. Für mich ist es das Mindeste überhaupt, diese Menschen zu unterstützen.
Aber Hanau war für mich auch ein Punkt, wo ich als Journalistin extrem angegriffen wurde. Ich habe sehr lange Morddrohungen bekommen, weil ich über Hanau berichtet habe. Da wurde mir sowas geschrieben wie ‚Hanau war verdient und dich bringen wir auch noch um.‘
Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben so hoffnungslos mit der Politik wie noch nie. Ich würde mir wünschen, dass die Angehörigen nicht nur an einem Jahrestag instrumentalisiert werden, sondern, dass man ernsthaft für Veränderung sorgt. Sei es eine Petition unterschreiben, mentale Unterstützung oder Bildungsinitiativen besuchen, denn die Familien sind schließlich auch gezwungen, seit 5 Jahren zu kämpfen.“
Zafer, 29, kommt ursprünglich aus dem Ruhrpott und ist Teamleiter bei Coca-Cola Europacific Partners. Er kann sich noch sehr genau an den Moment erinnern, als er zum ersten Mal von dem Anschlag in Hanau erfahren hat.
„Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment, als ich zum ersten Mal von der Tat in Hanau gehört habe. In dem Moment saß ich auch mit meinen Jungs zusammen. Das war in erster Linie für mich persönlich erstmal ein riesiger Schock. Ich hatte total viele Fragezeichen im Kopf, wie so etwas überhaupt passieren kann.
Wir haben uns noch die ganzen Interviews angeschaut.
Die Storys, die die Betroffenen in diesen Interviews erzählen, das hätten eins zu eins wir sein können. Wir, die gerade vom Sport kommen oder Champions League gucken in unserem Stammcafé.
Man hat immer gedacht, dass es so weit weg ist, aber dabei fragt man sich heute, wie weit ist die nächste Tat eigentlich entfernt? Wenn ich mit meinen Freunden am Wochenende unterwegs bin und wir mal in einer Bar sitzen, wer sagt, dass es nicht passieren kann? Wer sagt, dass wir nicht gerade unmittelbar davor stehen? Das ist schon ein sehr krasses Bewusstsein, was dadurch geschaffen worden ist.
Wenn du mir jetzt die Frage stellen würdest, wie sicher ich mich aktuell fühle, dann könnte ich dir jetzt nicht mit gestreckter Brust sagen: sehr sicher. Man hat schon den Gedanken, es kann alles passieren und man muss einfach immer auf der Hut sein.
Es braucht viel mehr präventive Maßnahmen, bevor es noch mal zu einer größeren Katastrophe kommt. Rassismus darf in keiner Weise toleriert werden und wir müssen lernen, diese Warnsignale auch wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Wir können nicht jeden Tag dasselbe tun und hoffen, dass sich morgen etwas ändert.“
Vavunettha, 26, ist Musikerin aus Köln. Das Attentat in Hanau baut sie immer wieder in ihre Songtexte ein. Ihr Lied “Asche & Staub” hat sie zuletzt auf einer Kundgebung in Hanau gespielt.
„Hanau hat mein Sicherheitsgefühl sehr nachhaltig geprägt. Ich glaube einfach, in der Auseinandersetzung mit meiner Identität und meiner Zugehörigkeit zu Deutschland spielt das irgendwie eine sehr große Rolle. In öffentlichen Räumen habe ich mittlerweile viel mehr Angst. An Orten mit vielen migrantischen Menschen denke ich mir immer ‚Vielleicht wird das jetzt zur nächsten Zielscheibe.‘
Ich mache mir sehr viele Gedanken. Egal wo ich bin, wenn viele Menschen irgendwo sind, guck ich auch erstmal, welche Leute da sind. Dann denke ich mir, wie viele von den Leuten rassistisch sind oder rechtes Gedankengut in sich tragen.
Ich bin viel aufmerksamer, was mein Umfeld angeht, aber dadurch fällt es mir einfach schwer, große Veranstaltungen einfach zu genießen.
Hanau war wie eine Zäsur und ich habe das Gefühl, seitdem ist ganz vieles anders.
Aktuell habe ich gar nicht mehr so viel Angst um mich selbst, weil ich auch weiß, was für ein Privileg ich zum Beispiel durch meine Staatsbürgerschaft habe. Es ist vielmehr die Angst um andere Menschen, die vielleicht durch bestimmte Faktoren, wie eine Sprachbarriere und so weiter, viel mehr Situationen ausgesetzt sind, in denen sie sich selbst nicht raushelfen können.
Hanau hat bei mir ausgelöst, dass ich aktiver sein möchte, dagegen anzukämpfen, dass sowas nicht nochmal passiert. Mittlerweile gestehe ich mir ein: Die Wut, die ich seitdem fühle, ist berechtigt und es gibt einen Grund, warum sie da ist. Ich habe nicht mehr Angst, dass ich die Mehrheitsgesellschaft damit verschrecke, dass ich wütend bin oder denke, ich darf das nicht fühlen. Ich muss das irgendwie fühlen und ich glaube, das ist dann auch ja ein Aspekt von Widerstand.
In letzter Zeit hatte ich keinen positiven Ausblick auf die Zukunft. Irgendwann war ich aber an dem Punkt der Verzweiflung, wo ich realisiert habe, auch wenn das Schlimmste eintritt, müssen wir halt schauen, wie wir dann weitermachen. Also egal, was für ein Ergebnis uns jetzt auch erwartet bei den Wahlen, wir müssen halt irgendwie da nochmal rauskommen. Was mir aber Hoffnung gibt, sind die jungen Menschen, die sich organisieren, die viel für uns alle tun und in Form von Kunst oder Redebeiträgen, wie sie auf Hanau und generell die Missstände bei uns aufmerksam machen und wir, die einfach weiter kämpfen. Solange Jugendliche nicht müde werden zu kämpfen, möchte ich das auch nicht.“
Kutlu, 51, ist Musiker, Sozialarbeiter und Aktivist. Er war Anwohner der Keupstraße in Köln, als die rechtsterroristische Gruppe NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) dort 2004 einen Nagelbombenanschlag verübte. Seitdem setzt er sich vor allem für die Aufklärung ein, vor allem die der NSU-Anschläge. Für ihn ist das, was in Hanau geschehen ist, ein Manifest für fehlende Weiterentwicklung in der Prävention von rechtsextremen Anschlägen.
„Am Tag des Anschlags hat ein guter Freund von mir angerufen, ‚Was machen wir mit Hanau? Ist irgendwas geplant von dir?‘ Ich meinte: ‚Was ist passiert?‘ und er meinte, dass es einen Anschlag gab. Weißt du, das ist der Fluch eines Aktivisten. Ich habe das mitbekommen und war natürlich menschlich erschüttert, aber ich habe direkt die Mechanismen hinterfragt. Was wird die Polizei jetzt daraus machen? Wie werden Medien reagieren? Klar wird es wieder einen Aufschrei geben, aber wie lange wird der Aufschrei andauern? Du bist menschlich erschüttert, du hast einen Schmerz, du denkst, eigentlich kann doch sowas nicht passieren. Aber im gleichen Atemzug denkst du dir, warum eigentlich nicht? Weil de facto hat sich ja in den letzten Jahren nicht viel geändert.
Ich war Anwohner der Keupstraße, als der NSU die Nagelbombe hier entzündet hat. Ich habe aber auch unmittelbar zu dem ersten Anschlag der NSU eine Verbindung. Der Anschlag wurde auf einen von einer iranischen Familie betriebenen Kiosk verübt und unser Büro und Musikstudio waren genau darüber. Menschlich ist man immer schockiert, politisch leider nicht.
Nach Hanau wurde medial kurze Zeit von ‚Shisha-Morden‘ gesprochen. Das wurde aber sofort rausgenommen. Das hat eben auch mit der Entwicklung nach den Morden des NSU zu tun, als es noch ‚Dönermorde‘ heißen konnte. Es hat Ekel in mir ausgelöst, von ‚Shisha-Morden‘ zu lesen. Es ist einfach nur ekelhaft. Du verdinglichst damit Menschen. Niemand hat Mitleid mit einer zerstörten Shisha.
Man hat einen allgemeinen Schmerz. Schmerz in einer Gesellschaft zu leben, wo dir leider jederzeit alles passieren kann. Aber das versteckst du in dir, arbeitest dagegen und musst aber für deine Mitmenschen, für dein Umfeld versuchen, das Positive zu sehen und Solidarität zu zeigen.
Es kann uns ja jeden Tag irgendwas passieren. Das Schlimme ist nur, dass aufgrund deines Aussehens, deiner Herkunft oder deiner Religion manche Menschen denken, dass du keinen Wert hast.
Ich kämpfe nicht nur gegen Rassismus oder gegen Diskriminierung, sondern ich kämpfe für Menschlichkeit. Vielleicht ist das auch eine Art Selbstschutz. Ich glaube, ich kämpfe eher für etwas als gegen etwas. Und das lässt mich hoffen. Es kann schließlich keine Politik ohne Menschlichkeit geben.“
Melike, 23, ist angehende Juristin aus Köln. Hanau war ein behördliches Versagen auf vielen Ebenen, sagt sie.
„Das erste Mal, dass ich von Hanau gehört habe, war, als mein Vater mich darauf aufmerksam gemacht hat. Für meinen Vater war das Fazit von der Tat: ‚Ich möchte, dass du und deine Geschwister euch nicht mehr an Orten aufhaltet, wo mehrheitlich migrantische Menschen sind.‘ Safer Spaces wie Shisha-Bars wurden uns genommen.
Ich finde, Hanau hat das ausgegraben, was wir alle bereits wussten: Rassismus in Deutschland ist strukturell. Auch den Umgang mit den Angehörigen fand ich schrecklich. Zu wissen, dass lange viele einfach in dieser Ungewissheit geblieben sind, dass sie nicht wussten, was mit den ermordeten Menschen passiert ist, ist ganz schlimm. Die Aussage von Filip Goman, dem Vater von Mercedes Kierpacz, lässt mich bis heute nicht los: ‚Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen.‘ Es ist eine koloniale Kontinuität, die wir hier erleben.
Ich werde niemals verzeihen können, dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war, aufgrund von polizeilichen Anweisungen
Dank Forensic Architecture wissen wir heute, an dem Abend hätten fünf Menschen das Attentat überleben können.
Ich bin frustriert, weil es eine Reihe an Anschlägen und Attentaten an migrantischen Menschen gab, wo immer Rassismus ein zentraler Aspekt gewesen ist. Nicht nur von dem Täter selbst, sondern auch von Behörden.
Aus einer juristischen Perspektive finde ich auch total wichtig zu verstehen, wer urteilt oder wer entscheidet eigentlich was für wen. Wir haben da die Polizei mit Befugnissen, wir haben Richterinnen und Richter, die zu einem Thema entscheiden müssen und da wird meistens auch Rassismus verkannt.
Wir haben nämlich die Vorstellung von Objektivität als Neutralität im Recht, aber eigentlich ist diese Perspektive oft eine spezifische, nämlich eine sehr weiße Perspektive.“
Ahmet, 24, studiert Humanmedizin in Köln und ist Offizier bei der Bundeswehr. Er hat das Gefühl, dass der rechtsextreme Anschlag in Hanau in seinen unterschiedlichen Bubbles unterschiedlich aufgefasst wird.
„Ich glaube, so richtig beschäftigt habe ich mich mit Hanau erst vor zwei bis drei Jahren. In meiner migrantischen Community wurde der Anschlag anders aufgefasst als in meinem eher deutschen Umfeld.
Wahrscheinlich wird mein deutsches Umfeld bei den Protesten jetzt bald wieder dabei sein. Diese Ängste, die man eben durch Neonazis und durch Verschwörungstheoretiker fühlt, die sich ja immens gegen Migranten richten, diese Ängste fühlt jemand aus einer eher deutschen, vielleicht gutbürgerlichen Familie, vermutlich eher weniger. Natürlich haben die auch Angst vor Rechten, aber es ist vermutlich weniger die existenzielle Angst, die migrantische Menschen fühlen.
Ich muss ehrlich sagen, das gesamte Sicherheitsgefühl hat sich verschlimmert. Es werden hier viele verschiedene Sachen durchmischt. Dass man sich rechtfertigen muss für Menschen, die hier Straftaten begehen, finde ich halt schwierig. Die Art und Weise, wie die Migrations-Diskussionen geführt werden, ist nicht hilfreich, weil es einfach Fakten ignoriert, wie was man wirklich braucht, wie zum Beispiel soziale Anbindung, bessere Behörden et cetera.
Bei den Anschlägen in Aschaffenburg und auch jetzt in München sind ja auch Menschen mit Migrationshintergrund betroffen, das wird aber von der Boulevardpresse häufig ignoriert. Menschen mit Migrationsbiografie sind von den Anschlägen genauso betroffen.
Die Diskussion muss weg von der reinen Herkunft der Täter hin zu Fragen der Integration, Anbindung und Betreuung.
Ich habe das Gefühl, dass ich aufgrund meiner Followerbasis auf Instagram mutiger geworden bin, meine Meinung zu sagen. Ich bin jetzt seit über sechs Jahren bei der Bundeswehr und mir folgen auch viele Leute aus der Bundeswehr und auch Menschen aus meinem Umfeld und sie teilen die Meinung. Ich weiß, dass auch einige sie nicht teilen und konservativer denken, aber es findet trotzdem ein Meinungsaustausch statt.
Ich weiß nicht, ob man sich denkt ‚Der hat einen ausländischen Background, natürlich denkt er so‘, aber ich habe das Gefühl, jeder Diskurs ist akzeptiert, solange man es begründet.
Es würde mir Hoffnung geben, wenn der Diskurs langsam, aber sicher zu psychosozialer Versorgung geht und zu besseren Integrationsbedingungen. Gerne auch einen harten Kurs gegenüber Migrantinnen und Migranten, die unsere Werte nicht teilen. Das muss jedoch auch für gebürtige Deutsche in diesem Land gelten. Das ist ja schließlich keine Einbahnstraße.“
Selin, 32, ist Bildungsreferentin in Berlin. Das erste Gespräch über Hanau führte sie damals mit ihrem Vater, der erst nicht glauben konnte, dass so eine Tat heutzutage noch passiert. Den Anschlag sieht sie als Anfang der migrantischen Selbstorganisation für Millennials.
„Ich hatte diese Push-Benachrichtigungen auf dem Handy ‚Schießerei in Hanau‘. Die nächste Push-Benachrichtigung von einem anderen Nachrichtenanbieter war dann ‘Shisha-Morde in Hanau.’ Bei dem Begriff Shisha-Morde hat es bei mir angefangen zu läuten im Kopf und ich hatte direkt eine Assoziation mit ‚Döner-Morden‘ und dem NSU.
Die Tagesschau-App hat am ersten Tag von Ausländern gesprochen und ich habe dann bei denen angerufen und war sehr wütend. Erstens ist es nicht richtig, diese Leute als Ausländer zu bezeichnen. Als wäre es eine Erklärung dafür, warum Menschen sterben. Außerdem waren es auch keine Ausländer. Die allermeisten von denen waren Menschen, die in Deutschland sozialisiert sind. Irgendwo langt es auch einfach mit solchen Begrifflichkeiten. Das wurde dann tatsächlich ausgebessert.
Am Frühstückstisch habe ich dann erzählt, dass in Hanau neun migrantische Menschen ermordet wurden. Mein Vater meinte dann, und da kriege ich bis heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass das nicht sein kann. Da würde ja kein Stein auf dem anderen bleiben in Deutschland. Er kommt aus der 90er Generation, die Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen miterlebt haben, und so etwas hätten wir ja schon längst hinter uns gelassen, meint er.
Tatsächlich war Hanau die Stunde Null der Anfänge der migrantischen Selbstorganisationen, vor allem für Millennials. Wenn man auf die Nuller- und Zehnerjahre zurückschaut, hatten wir ja eigentlich weniger das Bedürfnis, weil nichts so krass Eklatantes mehr passiert ist innerhalb von Deutschland.
Dann kam Hanau und auf einmal wurde dann wieder darüber gesprochen, was wir jetzt eigentlich machen, also wie wir vorzugehen haben, damit diese Stimmen gehört werden. Für viele Jugendliche und Heranwachsende war es der erste Berührungspunkt mit politischer Organisation.
Dieses Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland gerät aktuell sehr stark ins Wanken.
Ganz bezeichnend fand ich, als einen Tag nach Hanau wild Karneval gefeiert wurde und in sämtlichen Interviews Menschen aus sehr unterschiedlichen Kontexten gesagt haben. ‚Naja, Karneval lassen wir uns jetzt nicht nehmen, nur wegen drei, vier Shisha Morden.‘
Ich schaue mit einem getrübten Blick in die Zukunft. Wann ist es denn eigentlich so weit, dass wir dazugezählt werden?
Aufgrund meiner Position als Bildungsreferentin und Trainerin möchte ich mich natürlich auch nicht so stark davon verleiten lassen, Trübsal zu blasen. Ich habe viele Leute, die zehn bis 15 Jahre jünger sind als ich, die in meine Workshops kommen und denen ich ja auch gerne was mitgeben möchte. Dementsprechend versuche ich dann, einen empowernden Ansatz zu wählen: Wir sind nicht alleine.“
Das Team
Interviews und Text: Zeynep Cagman
Grafik: Henri Katzenberg
Redaktion: Dayala Lang und Till Hafermann
Bilder: WDR/privat
Veröffentlicht am 19. Februar 2025