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WDR

Recherche, Text: Ann-Kathrin Stracke

Fotos und Videos: Jarek Presnück und Saša Perkoviç

Redaktion: Philipp Blanke & Till Hafermann

Veröffentlicht am 24. November 2024

Medien
  • WDR
Flucht vor der Zwangsheirat

Annas neues Leben

Anna ist 16 Jahre alt, als sie mit ihren beiden Schwestern vor der Gewalt zu Hause flieht, und vor einer Zwangsheirat. Ihre Geschichte taucht in keiner Statistik auf. Denn die gibt es nicht zu Zwangsverheiratungen – zumindest nicht ausreichend. Die sogenannte Dunkelziffer ist hoch, Anzeigen sind selten, da viele junge Frauen Angst haben, Angst vor Repressalien und Ausgrenzung aus der eigenen Community. Doch Anna spricht: will aufklären. Mut machen.

Von Ann-Kathrin Stracke | Veröffentlicht am 24. November 2024

Es ist ein kalter Nachmittag. Anna geht am Neckar spazieren. Unter ihr raschelt das bunte Herbstlaub, noch etwas feucht vom Regen gestern. Die Studentin zieht sich ihren schwarzen Mantel noch etwas höher. Sie friert. Ihre langen schwarzen Jahre hat sie mit einer Spange locker zusammen gesteckt, ihre Haare wehen sanft im Wind. Letzte Woche, sagt sie, sei es acht Jahre her gewesen, dass sie ihre Familie verlassen hat.

Anna ist 12 Jahre alt, als ihr Vater sie zum ersten Mal schlägt. Das Schlimmste, sagt sie, „ist das Nudelholz. Er hat auch gar keine Rücksicht drauf genommen, wie er einen schlägt und wo.“

Gewalt spielt in ihrer Familie schon immer eine Rolle. Annas Eltern kommen aus Pakistan, sie wird in Deutschland geboren, wächst hier mit ihren beiden Schwestern und ihrem Bruder auf, hat einen deutschen Pass. In den Ferien reisen sie hin und wieder zu ihrer Familie nach Pakistan, die noch dort lebt. Ihr Vater will sie mit einem Mann aus Pakistan verheiraten.

Mit 16 Jahren flieht Anna von zu Hause.

„Dann such ich dir einen aus“

Er, sagt Anna, „hat uns gesagt, dass er uns 3 Bilder geben wird, davon darf ich mir einen Mann aussuchen. Und meine Schwester hat damals noch gefragt, ja Papa, was wenn mir einer nicht gefällt, und dann hat er gesagt: Ja dann such ich dir einen aus. Also er wurde dann auch aggressiv wegen dieser Frage“. Kennenlernen, so die Idee ihres Vaters, würden sie den Mann erst am Tag an der Hochzeit.

Anna macht das Angst, umso älter sie wird. Sie will diese Männer nicht, flirtet hier, schwärmt für Jungs. Irgendwann versteht sie, dass die Idee ihres Vaters kein Spaß ist, sondern sehr ernst. Als er dann auch ihre Schwester schlägt, ist das für sie zu viel.

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„Bleib stark für deine Geschwister“

An einem Tag im November vor acht Jahren geht sie nach der Schule nicht mehr nach Hause, sondern mit ihren beiden Schwestern und ihrer Schulsozialarbeiterin zum Jugendamt. Ihren Vater zeigt sie wegen häuslicher Gewalt an. An den Tag, dieses Gefühl, als sie ihre Familie verlässt, erinnert sie sich noch sehr genau.

Sie wusste, sagt sie: „Bleib jetzt stark für deine Geschwister, weil sonst müsst ihr irgendwie zurückgehen. Wenn ich aufgegeben oder geweint hätte oder traurig gewesen wäre und unsicher gewirkt hätte, wären sie noch unsicherer gewesen, weil ich damals ein Riesenhalt für sie war.“

Schon ein Treffen kann sie verraten

Das Thema Zwangsheirat gibt es auch in Katrin Domkes Alltag. Sie ist Schulsozialarbeiterin am Oberstufen-Zentrum in Berlin Marzahn-Hellersdorf. 2.300 Schülerinnen und Schüler gehen hier zur Schule. Die meisten von ihnen sind junge Frauen oder Teenagerinnen.

Viele kommen aus Familien mit sehr starken patriarchalen Strukturen. Einige werden von ihren Cousins, Brüdern kontrolliert, haben mitunter Software auf ihren Smartphones, die anderen Familienmitgliedern ermöglicht, zu sehen, wo sie sind, was sie machen, mit wem sie sich treffen.

Schon ein Treffen mit Katrin Domke könnte sie verraten. Die Schulsozialarbeiterin weiß, wie schwierig es für einige Schülerinnen manchmal ist, unbeobachtet in ihr Büro zu kommen, damit nicht der Eindruck, gar ein Verdacht entsteht: Es gebe ein Problem.

Katrin Domke, Schulsozialarbeiterin in Berlin

Warnzeichen sind oft subtil

Die Berlinerin ist seit sechs Jahren an dieser Schule, kennt die Probleme und Herausforderungen vieler Schülerinnen, ist für sie da, hört zu, liest häufig zwischen den Zeilen: „Es kommt niemand hier zur Tür rein und sagt, ich bin von Zwangsverheiratung bedroht. So etwas gibt es nicht.“ Das komme meistens auf ganz anderer Ebene hervor, wenn sie schon eine Beziehung zu den Schülerinnen aufgebaut habe.

Sie hat gelernt, Warnzeichen zu erkennen: Wenn eine Schülerin beispielsweise häufig unentschuldigt fehlt, wenn Katrin Domke den Eindruck hat, dass manche junge Frauen sich zu Hause viel um die Familie kümmern müssen, kleine Geschwister zur Schule bringen und so ihre eigene Ausbildung vernachlässigen.

Das, sagt die Berlinerin aus Erfahrung, seien Strukturen, „wo wir sensibel sein müssen, wo wir darauf achten müssen, wo wir vielleicht noch mal hinterfragen müssen“.

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„Die hören hier das erste Mal, dass es hier anders ist“

In vielen Familien ihrer Schülerinnen sucht die Familie den Verlobten, den Ehemann aus, erklärt sie. Ähnlich wie Annas Vater es vorhatte. Das sei für die jungen Frauen oft selbstverständlich. „Die fallen aus allen Wolken, wenn wir ihnen erklären, dass sie das Recht haben, ihre Beziehung selber zu wählen. Das ist für viele auch gar nicht selbstverständlich. Die hören das hier das erste Mal, dass es hier anders ist. Und dann ist es oft wirklich nicht einfach, die dafür zu sensibilisieren und da ranzuführen.“

Katrin Domke will, dass jede Frau frei und selbstbestimmt leben kann. Ein großes Ziel, für das sie sich an ihrer Schule engagiert: Sie organisiert Info-Tage zum Thema Frauenrechte und Selbstbestimmtheit, bei denen es auch um das Thema Zwangsverheiratung geht, gibt Infos, baut Brücken. Vertrauen, sagt sie, sei der Schlüssel.

Die Dunkelziffer zu dem Thema sei weiterhin extrem hoch. Anna hat damals ihren Vater wegen gefährlicher Körperverletzung angezeigt, auch aus Angst, wieder nach Hause zu müssen. Das war ein Vorschlag der Mitarbeiter des Jugendamts, erinnert sich Anna.

Die meisten Fälle tauchen in der Statistik nicht auf

Doch diese Anzeigen seien extrem selten und genau das sei ein riesiges Problem, bestätigt Myria Böhmecke. Sie ist Leiterin des Referats „Im Namen der Ehre“ bei terre des femmes, einer Organisation, die sich weltweit für Frauenrechte einsetzt. Zwangsverheiratung ist in Deutschland verboten und strafbar. Daher finden die meisten Zwangsverheiratungen im Ausland statt.

Myria Böhmecke leitet das Referat "Im Namen der Ehre" bei terre des femmes

Die aktuellste Studie dazu stammt aus dem Jahr 2008. Demnach sind in jenem Jahr 3500 Frauen von einer Zwangsverheiratung bedroht oder betroffen. Myria Böhmecke geht allerdings davon aus, dass es in Wirklichkeit viel mehr sind.

Die meisten Fälle tauchen nicht in den Statistiken auf, auch nicht bei den großen Polizeibehörden in NRW. Diese kennen das Problem, das erfahren wir in Recherchen, könnten allerdings erst handeln, wenn sie Beweise, Anhaltspunkte hätten, heißt es aus den Kreispolizeibehörden.

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„Wir müssen diese Rollenbilder aufbrechen“

Ein riesiges Dilemma, findet Myria Böhmecke und fordert: „Wir müssen diese Rollenbilder aufbrechen, dass es ganz klar ist, dass nicht nur die Frau für die Rolle der Mutter, Ehefrau und Hausfrau zuständig ist, sondern dass es tatsächlich Frauen gibt, die selbst bestimmen, dass sie eine Ausbildung machen, dass sie selbstbestimmt auch entscheiden dürfen, wen sie heiraten, wann und ob überhaupt. Und das geht natürlich nur ohne Gewalt.“

Bei Anna überwiegt der Stolz auf ihren Mut

Nachdem Anna sich von ihrer Familie getrennt hat, hat sie gemeinsam mit ihren beiden Schwestern in einem Heim gelebt. Zu ihrer Mutter hat sie all die Jahre Kontakt. Zu ihrem Vater nicht mehr. Inzwischen lebt sie mit ihrem Freund zusammen, studiert soziale Arbeit, hat einen Instagram- und TikTok-Kanal, auf dem sie aufklärt. Ihre Art, sagt sie, ihre Geschichte zu verarbeiten.

Manchmal hat Anna noch Angst - aber vor allem ist sie stolz auf ihren Mut

Doch manchmal habe auch sie Angst. Angst, dass ihr Vater sie doch noch findet. Sie ist wachsam, wenn sie unterwegs ist.

Und trotzdem, während sie das sagt, hellt ihr Gesicht auf, sie lächelt, strahlt: Bei ihr überwiegt der Stolz, der Mut, den sie in den vergangenen acht Jahren aufgebracht hat: „Manchmal fühlt es sich an, als wäre es eine Geschichte von jemand anderem, aber es ist einfach mein Leben gewesen und es ist manchmal krass, das zu realisieren, was man alles durchgemacht hat.“

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Mehr zum Thema

  • Anna berichtet auf Instagram und TikTok über ihre Erfahrungen - hier geht es zu ihren Accounts: diedesianna auf Instagram und diedesianna auf TikTok.
  • Mehr Informationen zur Arbeit von terre des femmes gibt es unter frauenrechte.de.
  • Eine bundesweite Übersicht zu Hilfsangeboten und Beratungsstellen gibt es unter zwangsheirat.de, einer Seite von terre des femmes.
  • Die Hilfsorganisation Papatya bietet Hilfe und Beratung für Mädchen und junge Frauen, die Sorge haben, für eine Zwangsheirat verschleppt zu werden - mehr auf papatya.org.
  • Das Berliner Projekt "Heroes" ist ein feministisches Jungenprojekt in Berlin, das jungen Männern hilft, die Unterdrückung von Frauen im Namen der Ehre zu hinterfragen und unterdrückende Strukturen zu überwinden.

Das Team

Recherche, Text: Ann-Kathrin Stracke

Fotos und Videos: Jarek Presnück und Saša Perkoviç

Redaktion: Philipp Blanke & Till Hafermann