Von Dominik Reinle
Die Sinti-Familie von Markus Reinhardt wurde im Nationalsozialismus deportiert. Das beschäftigt ihn bis heute. Für die verfolgten Sinti und Roma wurde 1992 – vor gut 30 Jahren – der erste Stolperstein überhaupt verlegt.
Am Morgen des 16. Mai 1940 umstellen Polizei, SS und Wehrmacht das „Zigeunerlager“ im Kölner Stadtteil Bickendorf. Dort waren fünf Jahre zuvor alle Sinti und Roma der Umgebung , die in Wohnwagen lebten, eingepfercht worden. Unter ihnen sind damals auch die Angehörigen von Markus Reinhardt. Er ist Geiger in Köln und hat ein eigenes Ensemble. Seine Musiker-Familie gehört zu den Sinti, die schon seit dem Mittelalter in Deutschland ansässig sind. Für sie und viele andere Sinti- und Roma-Familien hat der Künstler Gunter Demnig am 16. Dezember 1992 in Köln seinen ersten Stolperstein verlegt.
Das Gespräch mit Markus Reinhardt findet im EL-DE-Haus statt, benannt nach seinem Erbauer Leopold Dahmen. In diesem Gebäude war früher die Kölner Gestapo-Zentrale, heute ist darin das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln untergebracht. In der Dauerausstellung sind erkennungsdienstliche Fotos und NS-Akten von Karl Josef Reinhardt zu sehen, dem Großvater von Markus Reinhardt. Er habe die Schrecken seiner Familiengeschichte lange verdrängt, sagt der 64-jährige Violinist. „Letzten Endes musste ich mich auch schützen.“
Seit ein paar Jahren beschäftigt er sich jedoch offensiv mit dem Thema. Markus Reinhardt führt Zeitzeugen-Interviews – zusammen mit seiner Ehefrau Krystiane Vajda. „Wir fahren durch halb Europa und dokumentieren die Erinnerungen per Video.“ Ihnen gegenüber öffnen sich die überlebenden Sinti und Roma, weil Markus Reinhardt zur „Community“ gehört, wie er sagt. Die beiden erfahren Dinge, die Außenstehenden nicht erzählt werden – aus Angst vor weiterer Verfolgung und Diskriminierung. Das Ziel des gemeinsamen Projekts: „Unsere Videos werden später Teil der Dauerausstellung im EL-DE-Haus.“
Genau in diesem Haus wurde seinem Großvater im Mai 1940 der Reichspass abgenommen. Von der Einkesselung des „Zigeunerlagers“ hatte Karl Josef Reinhardt zunächst nichts mitbekommen. Er hatte den mit Stacheldraht umzäunten Platz an diesem Tag bereits verlassen, um zur Arbeit zu gehen, als er plötzlich in die Gestapo-Zentrale am Appellhofplatz beordert wurde. Er musste nicht nur seine Ausweispapiere abgeben. Ihm wurde auch mitgeteilt, dass seine Frau Katharina und ihre zwölf Kinder bereits im Sammellager an der Messe in Köln-Deutz seien. Sie sollten angeblich zusammen eine Reise machen.
In den folgenden Tagen trafen im Messe-Lager weitere Sinti und Roma aus Aachen, Koblenz, Düsseldorf, Herne, Wuppertal, Wanne-Eickel, Gelsenkirchen, Duisburg und Krefeld ein. Am 21. Mai 1940 wurden rund 1.000 Menschen in Viehwaggons zu Konzentrationslagern im Osten abtransportiert. SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte kurz zuvor die ersten Deportationen aus dem Reichsgebiet in das von Deutschland besetzte Polen angeordnet.
Nach 1940 lief die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten unerbittlich weiter. Am 16. Dezember 1942 ordnete SS-Reichsführer Himmler an, alle im Deutschen Reich noch verbliebenen Sinti und Roma zu deportieren. Im sogenannten Auschwitz-Erlass heißt es: „Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz.“
Dieses Datum nahm 50 Jahre später der Künstler Gunter Demnig zum Anlass, um am 16. Dezember 1992 in Köln vor dem Historischen Rathaus seinen ersten Stolperstein zu verlegen.
Darauf ist eine Messingplatte angebracht, die mit dem Text des Auschwitz-Erlasses beschriftet ist. Demnig wollte damit einen Beitrag zur Diskussion um das Bleiberecht jener Roma leisten, die vor dem Jugoslawienkrieg in den 1990er-Jahren nach Deutschland geflohen waren.
Aus dieser Aktion entwickelte der Bildhauer in den folgenden Jahren das Projekt Stolpersteine. 1995 verlegte Demnig erneut in Köln Stolpersteine – erstmals im noch heute gebräuchlichen Format von zehn mal zehn Zentimetern. Sie erinnern an Menschen, die vom NS-Terror-Regime verfolgt, deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. Auf den Messingtafeln stehen seither die Namen der Verfolgten und kurze Angaben zu ihrem Leben.
Für die Familie Reinhardt gibt es bisher keine eigenen Stolpersteine. Gunter Demnig hatte aber bereits im Mai 1990 zusammen mit dem Kölner Rom e.V. ein Zeichen gegen das Vergessen gesetzt. 50 Jahre nach der Deportation der Sinti und Roma im Mai 1940 zog er mit einem selbstkonstruierten Druckrad quer durch Köln eine Textspur.
Sie folgte dem Weg, den die vertriebenen Familien in der Nazi-Zeit nehmen mussten. Vom Bickendorfer „Zigeunerlager“ bis zum Deportationsgleis am Bahnhof Köln-Deutz war der Schriftzug zu lesen: "Mai 1940 – 1000 Roma und Sinti". Gunter Demnig erhielt von der Stadt die Genehmigung, die Spur an mehreren Orten in Form von Platten mit eingelassener Messingschrift langfristig haltbar zu machen.
Zu diesen Stellen gehört auch der Gehweg vor dem Eingang des EL-DE-Hauses. Für Markus Reinhardt ist die Inschrift ein wichtiges Zeichen: "Die Erinnerung daran muss wachgehalten werden."
Auch die Familie Reinhardt wird nach Polen deportiert. Wer von der SS als „arbeitsfähig“ eingestuft wurde, musste Zwangsarbeit leisten. „Mein Opa hat überlebt, weil er noch arbeiten konnte“, sagt Markus Reinhardt. Er ist bei seinen Schilderungen ernst und konzentriert, manchmal sachlich distanziert. Aber immer wieder ist zu spüren, wie tief ihn die Erlebnisse seiner Angehörigen bewegen. Zum Beispiel wenn er erzählt, dass sein Großvater, sein Vater und dessen Cousin beim Auf- und Ausbau verschiedener Lager eingesetzt worden seien. Dazu habe auch es gehört, Schienen zu verlegen. „Auch Gleise nach Auschwitz.“
Als die ersten großen Transporte mit Jüdinnen und Juden in Auschwitz eintreffen, muss Karl Josef Reinhardt zusammen mit dem Lagerorchester für die Ankommenden musizieren. Der Cousin der Jazz-Legende Django Reinhardt konnte Geige spielen. „Auch das hat ihm das Leben gerettet“, sagt Markus Reinhardt. Die Deportierten, die aus den Zügen stiegen, seien an der Entladerampe mit „fröhlichen Walzern und Märschen“ beruhigt worden, damit die SS möglichst ungestört die sogenannte Selektion habe durchführen können. Also die Entscheidung darüber, wer sofort in der Gaskammer ermordet wird und wer zunächst noch Zwangsarbeit leisten muss.
Weil in den Lagern niemand vor der Brutalität des Wachpersonals sicher war, hatte Karl Josef Reinhardt an seine Familienmitglieder schon früh die Parole ausgegeben:
Alle, die hier lebend rauskommen, treffen sich wieder in Köln.
Zu den entsetzlichen Erfahrungen gehört auch der Hunger. Eine Tante erzählt Markus Reinhardt im Zeitzeugen-Interview, sie habe keine Angst mehr vor dem Tod gehabt: „Der Hunger war schlimmer als der Tod.“ Einmal habe ein SS-Mann einen Korb mit Broten in die Luft geworfen. Sie habe sich mit anderen Kindern auf die Brote gestürzt. Dann habe der SS-Mann einige von ihnen mit dem Gewehrkolben zu Tode geschlagen. „Meine Tante wurde am Kopf getroffen und stellte sich tot. Deshalb blieb sie am Leben.“
Eine andere Tante schildert Markus Reinhardt, wie sie in einem Ghetto im besetzten Polen zusammen mit anderen Kindern angewiesen wird, die Leichen von Verhungerten, die auf den Straßen herumlagen, auf einen Karren zu heben und sie in ausgehobene Löcher zu werfen. Als er über diese Beispiele spricht, liegen Wut und Abscheu in seiner Stimme. Er ruft: „Man muss sich das mal vorstellen! Das waren Kinder!“
Im "Zigeunerlager" in Auschwitz erlebt die Familie Reinhardt ebenfalls schier unfassbare Grausamkeiten. Mehrere ihrer Kinder sind den medizinischen Experimenten von SS-Arzt Josef Mengele ausgesetzt – darunter auch Philipp, der Vater von Markus Reinhardt. Sie werden offenbar an den Beinen operiert und haben als Erwachsene unerklärliche Narben. „Meine Tante hat noch immer Probleme beim Gehen“, sagt Markus Reinhardt.
Ihr Hausarzt weiß bis heute nicht, was der Mengele da gemacht hat.
Und erst vor Kurzem hat Markus Reinhardt von dieser Tante erfahren, dass sie in den Räumen von Mengele habe sauber machen müssen. Dazu habe auch das Abwischen von Gläsern gehört, die zum Teil tote Embryos enthielten. Einmal habe sie in einem Nebenzimmer eine Schwangere entdeckt. Dann habe sie gesehen, dass die Frau tot war und in ihrem aufgeschnittenen Bauch das Kind fehlte. Mengele habe sie dabei erwischt und ihr eingeschärft, darüber mit niemandem zu sprechen. „Meine Tante hat nie davon erzählt“, sagt Markus Reinhardt und atmet tief aus. „Das ist für sie so traumatisch, dass sie erst jetzt darüber sprechen kann.“
In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 liquidiert die SS das „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau: Alle rund 4.300 Sinti und Roma, die bis dahin überlebt hatten, wurden in den Gaskammern ermordet. Darunter sind auch Verwandte der Reinhardts. Die Familie selbst ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor Ort. „Mein Großvater, mein Vater und dessen Cousin waren bereits in andere Lager überstellt worden, wo sie weiter Zwangsarbeit leisten mussten“, sagt Markus Reinhardt.
In der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges drängt die sowjetische Rote Armee die deutsche Wehrmacht immer weiter nach Westen zurück und erreicht die Lager.
Mein Vater erzählte immer wieder: ‚Und dann kam der Russe und hat uns befreit.‘
Danach macht sich die Familie auf den Weg nach Köln: Karl Josef Reinhardt, seine Frau Katharina und sechs ihrer Kinder. Die anderen sechs Kinder sind tot. „Für den Weg über Warschau und Berlin brauchten sie zu Fuß ein gutes halbes Jahr“, berichtet Markus Reinhardt. „Sie hatten keine richtigen Kleider und nur Lumpen um die Füße.“
Die Reinhardts kehren auf denselben Platz in Bickendorf zurück, auf dem seit 1935 das Kölner NS-„Zigeunerlager“ gestanden hatte und von dem aus sie deportiert worden waren. Wie verabredet treffen nach und nach auch andere Überlebende ein. Und hier wird 1958 Markus Reinhardt geboren. Kurz danach müssen die Baracken der Sinti-Familien einem Gewerbegebiet weichen. „Dann haben die uns in ausgemusterte Eisenbahnwaggons getan“, erzählt Markus Reinhardt erbost. „In solchen Eisenbahnwaggons sind die Alten zum Teil abtransportiert worden. Das muss man sich mal klar machen!“
Das ist nicht das einzige Beispiel dafür, dass Geringschätzung und Diskriminierung von Sinti und Roma auch nach dem Nationalsozialismus weiter existieren. Markus Reinhardt kennt viele Situationen, die ihn ärgern. Die deutschen Sinti und Roma, die die Lager überlebt hatten, seien von den Behörden als „Ausländer“ und als „staatenlos“ angesehen worden. „Weil sie keine deutschen Pässe mehr hatten, sollten sie sich einbürgern lassen.“ Doch sein Großvater habe sich gewehrt:
Ich brauche mich nicht einbürgern zu lassen. Ich bin ein Deutscher, ich habe noch unter Kaiser Wilhelm gedient!
Mithilfe eines Anwalts habe sich Karl Josef Reinhardt durchsetzen können. In Archiven seien noch Belege für die deutsche Staatsangehörigkeit der Familie vorhanden gewesen. „Darum bin ich stolz auf meinen Opa.“
Die nächste böse Überraschung erlebt Karl Josef Reinhardt, als er ausgerechnet im EL-DE-Haus seine neuen Papiere abholen muss – dort, wo ihm in der Nazi-Zeit sein Reichspass abgenommen worden war. „Er kommt hier rein – und sieht denselben Mann, der ihn abtransportieren ließ, an der gleichen Stelle sitzen!“ Nach ein paar Sekunden Pause fährt Markus Reinhardt fort und betont jedes Wort:
Mein Opa hat dieses Haus nie wieder betreten!
Eine solche Begegnung sei kein Einzelfall gewesen. „Wir hören in unseren Zeitzeugen-Interviews immer wieder, dass die Ämter mit den gleichen Leuten besetzt waren.“
Auch die Entschädigungsregelung zählt für Markus Reinhardt zum verletzenden Umgang mit den NS-Opfern. „Als mein Vater einen Antrag auf Entschädigung stellte, musste er zum Amtsarzt“, sagt Markus Reinhardt.
Er musste beweisen, dass seine Beschwerden vom Lager sind.
Es habe nicht ausgereicht, dass er im KZ war. Sein Vater, Philipp Reinhardt, habe die Untersuchung schließlich abgelehnt, weil ihn das Auftreten des Amtsarztes an die Lagerärzte erinnert habe. Sein Onkel wiederum habe die Tests über sich ergehen lassen – und drei Wochen später den Ablehnungsbescheid erhalten. „Seine Krankheiten hätten nichts mit dem Lager zu tun, hieß es.“ Markus Reinhardt schüttelt darüber nur den Kopf.
„Es ist grauenvoll, wie man nach dem Krieg noch mit den Menschen umgegangen ist“, sagt er am Ende des WDR-Gesprächs im EL-DE-Haus. „Umso wichtiger ist es, dass wir noch diese Zeitzeugen-Interviews machen.“ Zumal die Sinti und Roma über fast keine eigenen Schriftquellen verfügten. „Wir haben ja keine Schriftsprache“, erklärt Markus Reinhardt.
Alles, was wir wissen, wird mündlich überliefert. Die Alten sind unsere Bücher.
Bei der nationalsozialistischen Vernichtung der Sinti und Roma sind geschätzt zwischen 220.000 und 500.000 Menschen ermordet worden. „Dadurch ist für uns auch ein ganzes Stück Kultur weggebrochen!“
Bislang sind mehr als 96.000 Stolpersteine europaweit verlegt worden. Und das größte dezentrale Mahnmal der Welt wächst immer weiter: Seit Januar 2022 macht der WDR die rund 16.000 Stolpersteine in Nordrhein-Westfalen auch digital zugänglich: mit Graphic Storys, kleinen Hörspielen, Texten und Augmented-Reality-Elementen. Das WDR-Angebot „Stolpersteine in NRW – Gegen das Vergessen“ gibt es als App für Android- und Apple-Geräte und als Website.