Text: Dominik Reinle | Veröffentlichung: 9. November 2024
Bei den Novemberpogromen 1938 werden im Rheinland und in Westfalen-Lippe 131 jüdische Menschen ermordet. Einer von ihnen ist Paul Marcus aus Düsseldorf. Hier erzählen wir seine Geschichte, schildern die Gräuel der Reichspogromnacht und erklären ihre Bedeutung auf dem Weg in den Holocaust.
Kurz vor Mitternacht sitzen Paul Marcus und seine Frau Hedwig im Büro ihres Lokals in der Düsseldorfer Innenstadt. Es ist Mittwoch, der 9. November 1938. Im „KAREMA“ – dem „Kaffee-Restaurant-Marcus“ - klingt ein Arbeitstag aus. Doch dann ist es mit der Feierabendstimmung schlagartig vorbei.
„Plötzlich kam unser Buffetier, Leo Abraham, hereingestürzt, um zu melden, dass Nazibanden ins Kaffee eingedrungen waren“, erinnert sich Hedwig Marcus später. „Und schon flogen auch Steine durchs Fenster.“ Das „KAREMA“ ist die letzte Gaststätte der Stadt, in der Jüdinnen und Juden noch willkommen sind.
Paul Marcus kann den zum Teil uniformierten Männern, die in sein Büro eindringen, durch eine Hintertür entwischen. Er will die Polizei zu Hilfe holen. Seine Frau folgt ihm. Doch auch auf der Straße können die beiden dem antisemitischen Gewaltexzess nicht entgehen, der heute als Reichspogromnacht bezeichnet wird. Eine große Menschenmenge johlt und wirft Steine.
„Es war mir unmöglich, meinem Mann zu folgen, und ich versuchte daher zurück zu flüchten“, gibt Hedwig Marcus nach dem Zweiten Weltkrieg zu Protokoll. Auf dem Rückweg wird sie mit Fäusten und harten Gegenständen geschlagen. „Auch im Haus wurde ich weiter misshandelt, wobei ich ohnmächtig zusammenbrach.“
Paul Marcus trifft seine Frau in der Praxis eines jüdischen Arztes wieder. Dorthin hat sie der Küchenpächter ihres Lokals gebracht. Sie hat eine Kopfwunde und eingeschlagene Zähne. Bald darauf dringen in den Raum drei SS-Männer ein. Sie schreien „Hände hoch!“ und schießen gleichzeitig.
Getroffen bricht Marcus Paul zusammen. „Mein Mann war anscheinend sofort tot“, so Hedwig Marcus. Sie selbst erhält einen Bauchschuss, der auch ihre Lunge durchdringt. Die Schwerverletzte fällt von ihrer Liege und landet auf dem Boden neben ihrem ermordeten Mann. Am Morgen wird das Paar von einer Putzkraft gefunden. Die Gestapo beschlagnahmt die Leiche.
Paul Marcus ist nicht der Einzige, der in dieser Nacht oder in den Wochen danach sein Leben verliert. Bei den Novemberpogromen 1938 werden allein auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen 131 Frauen und Männer ermordet oder in den Suizid getrieben. Ein Historikerteam der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf hat das 2019 erstmals wissenschaftlich belegt.
Wie viele Todesopfer es damals im ganzen Deutschen Reich gibt, ist bis heute nicht bekannt. „Es existiert keine belastbare und seriöse Gesamtzahl“, sagt Historiker Bastian Fleermann, der das Düsseldorfer Projekt geleitet hat, dem WDR. „Bisher gibt es dazu keine flächendeckende Forschung.“ Die damals von den Nationalsozialisten in einem Geheimbericht genannte Zahl von 91 Toten sei jedoch definitiv falsch.
„1938 ist von Beginn an ein Eskalationsjahr“, sagt Fleermann, der auch Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf ist. Der ohnehin geschürte Antisemitismus in Deutschland werde nun stufenweise verschärft. „Ab dem Frühjahr erschweren diverse staatlichen Verbote das jüdische Alltagsleben und die Religionsausübung noch weiter.“
Zugleich seien auf den Straßen die Zahl der Übergriffe örtlicher NSDAP-Funktionäre, SA-Männer und der Hitlerjugend gegen Jüdinnen und Juden angestiegen: „Es gibt damals immer häufiger Misshandlungen und körperliche Attacken im öffentlichen Raum“, so der Düsseldorfer Historiker. „Im Sommer beginnt man dann aus vorgeschobenen ‚stadtplanerischen Gründen‘, Synagogen abzureißen – wie zum Beispiel in Dortmund.“
„Die große Eskalation folgt im Herbst“, betont Fleerman. Ende Oktober lasse das NS-Regime rund 17.000 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft ausweisen und gewaltsam an der Grenze zu Polen im Niemandsland aussetzen. „Die sogenannte Polenaktion ist die erste Massendeportation.“
Als Reaktion auf die „Polenaktion“ kommt es laut Fleermann zu einer „Verzweiflungstat“: Der 17-jährige Herschel Grynszpan erschießt am 7. November in Paris einen deutschen Botschaftsangehörigen. Er hat zuvor von der katastrophalen Situation seiner jüdischen Familie erfahren, die zu den Abgeschobenen gehört. Das Attentat wiederum nutzen die Nationalsozialisten als Vorwand für die Reichspogromnacht am 9. November.
„Das, was zwischen dem 7. und dem 9. November in Deutschland passiert, hat eine ungeheure Dynamik“, stellt Fleermann fest. Einerseits mobilisiere die NSDAP-Spitze telefonisch und telegrafisch den Parteiapparat und koordiniere die Überfälle auf jüdisches Leben.
Andererseits stütze sich die Umsetzung der Anweisungen auf die Eigeninitiative der lokalen Parteifunktionäre. „Was konkret vor Ort mit Synagogen, jüdischen Geschäften und vor allem jüdischen Menschen geschieht, kann im Detail nicht durchgeplant werden und ist deshalb auch das Ergebnis einer spontanen Entladung von Gewalt.“
„Die Dynamik der Gewalt geht in erster Linie von in Zivil gekleideten Parteifunktionären aus“, sagt Fleermann. Dabei handele es sich überwiegend um Leute aus dem SA- und SS-Milieu. „Gleichzeitig gab es auch Täter, die in Uniform erschienen sind.“
Beteiligt seien auch Nachbarn und „ganz normale Durchschnittsdeutsche“. Zur Enthemmung trage der Alkohol bei, der in Lokalen ausgeschenkt werde. „Der 9. November ist damals ein nationalsozialistischer Kult-Tag, der Tag des misslungenen Hitler-Putsches von 1923.“ Am Morgen danach hätten auch Schulklassen und HJ-Gruppen bei den Verwüstungen mitgemacht.
Bei den Attacken kommen Adresslisten zum Einsatz, die lange vor dem 9. November zusammengestellt worden sind. „Diese Listen wurden auch abgearbeitet“, so Bastian Fleermann. „In einem Düsseldorfer Stadtteil gibt es zum Beispiel einen Ortsgruppenleiter, der zwar eine solche Liste hat, den Beginn der Ausschreitungen aber in seinem Bett verschläft.“ Darum starte das Pogrom dort erst mit stundenlanger Verspätung.
Die aufgeputschte Gewalt trifft die Opfer ohne Abstufung. „Der Antisemitismus unterscheidet nicht zwischen dem jüdischen Korbflechter, der in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt, und dem wohlhabenden jüdischen Unternehmer.“ Bescheidene Landsynagogen seien genauso geschändet worden wie große Stadttempel. Das gelte auch für die Zerstörung großer und kleiner jüdischer Geschäfte.
Die ausgeübte Gewalt hat jedoch einen anderen Charakter als bisher. „In fast allen jüdischen Familien gibt es zwischen 1933 und 1938 einzelne Erlebnisse mit Pöbeleien, Beleidigungen und Rempeleien“, erklärt Fleermann. Aber das seien individuelle Erfahrungen. „Das, was dann in der Pogromnacht passiert, ist zum ersten Mal eine kollektive Gewalterfahrung, die unausweichlich alle trifft.“
Die zweite neue Gewalterfahrung für die jüdischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sei das Eindringen der Täter in die Privatsphäre der Opfer. Die Angriffe finden demnach nicht mehr nur auf dem Bürgersteig oder in der Straßenbahn statt, sondern auch in der eigenen Wohnung.
Stolpersteine NRW: Weitere Opfer-Geschichten
Im WDR-Projekt Stolpersteine NRW werden weitere Schicksale von jüdischen Menschen als Graphic Story erzählt. Eine Auswahl:
Karolina Winter
In Kempen in ihrem Laden überfallen
Waldemar Elsoffer
In Lünen in der Lippe ertränkt
Hanna Zürndorfer
In Düsseldorf zu Hause überfallen
Ernst Willner
In Hilden misshandelt und erschlagen
Anna Uhlmann
In Billerbeck ins Krankenhaus geflüchtet
Siegmund Spiegel
In Ahlen von der SA zu Tode gehetzt
Für die Täter ist die Reichspogromnacht laut Historiker Fleermann ein „fataler Kipp-Punkt“ in ihrer Judenpolitik. „Seit der Machtübernahme testet das NS-Regime immer wieder, wie weit es gehen kann, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.“ Der Herbst 1938 sei deshalb aus Tätersicht erfolgreich. „Es gibt damals keine Massenproteste oder große Unmutsbekundungen.“
Im Gegenteil: Die Gewalt dauert in manchen Städten mehrere Tage lang an und ist nur schwer wieder unter Kontrolle zu bringen. „Schließlich muss sie von Gestapo und Polizei regelrecht abgeschaltet werden“, sagt Fleermann. Daraus ziehe das NS-Regimes das Fazit: „So können wir weitermachen.“
Der Historiker Bastian Fleermann bezeichnet die Novemberpogrome von 1938 als „Scharnier zwischen Ausgrenzung und Vernichtung“: „Sie sind eine Eskalationsstufe auf dem Weg in den Holocaust“.
Der schwer verwundeten Hedwig Marcus bleiben die Deportation und die Ermordung in einem Konzentrationslager erspart. Zwar wird ihr im Krankenhaus von der Gestapo die Erklärung abgepresst, dass ihr Mann Paul sich selbst getötet habe. Aber Mitte März 1939 gelingt es der Witwe, mit ihrem jugendlichen Sohn Hans nach Palästina auszureisen. Die Kugel in ihrer Lunge wird erst im August 1942 in Tel Aviv entfernt.
Zur Erinnerung an den ermordeten Paul Marcus wird im Dezember 2005 in Düsseldorf vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie ein Stolperstein verlegt.
Team
Autor: Dominik Reinle Redaktion: Philipp Blanke & Till Hafermann Bilder: Sammlung Barbara Suchy in der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf GED-31-022-200.009_1, GED-31-024-200.032_1 und GED-31-024-200.032_3; Michael Gstettenbauer, Düsseldorf; Bildarchiv Pisarek / akg-images (3); picture-alliance/ullstein bild; picture alliance / ASSOCIATED PRESS (3); Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein e.V. / Erich Koch; akg-images / Hans Asemissen; Stadtarchiv Düsseldorf; CC-BY-SA 4.0 Buidhe via Wikipedia; Sammlung Friedhelm Golücke im Stadt- und Kreisarchiv Paderborn / Kurt Böse; Fotograf unbekannt, zur Verfügung gestellt von Norbert Flörken; Stadtarchiv Münster, Fotosammlung 47, Nr. 417; WDR / picture alliance / Mary Evans Picture Library; picture alliance / CPA Media Co. Ltd (Einzelnachweis mit Klick auf das © am Bild)