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Text: Jörn Kießler
Videos: Jörn Kießler, Johannes Kolb, Christof Voigt
Redaktion
: Thierry Backes, Till Hafermann

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Wenn die Wildsau im Garten Futter sucht



Immer häufiger tauchen in NRW Wildschweine an Orten auf, wo sie eigentlich nicht hingehören: in Parks, Wohngebieten, Gärten oder sogar auf dem heimischen Sofa. Woran liegt das? Und was kann man dagegen tun? Das Schwarzwild zu jagen, kann helfen - ist aber nicht immer ganz einfach.

Von Jörn Kießler

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Als das markerschütternde Jaulen durch den Garten schallt, sitzt Marlene Rother gerade beim Frühstück. Wie jeden Morgen hat sie die Terrassentür einen Spalt aufgeschoben, um ihren Jack-Russell-Terrier herauszulassen. „Damit der Tommy sein erstes Geschäft erledigen kann“, sagt Rother. Doch dazu kommt der damals 14 Jahre alte Hund gar nicht.

Rother und ihr Mann hören ein Bellen, das Jaulen und stürzen in den kleinen Garten hinter ihrem Haus. Die Wildschweine selbst bekommt das Ehepaar gar nicht mehr zu Gesicht. Die Rotte von sechs oder sieben Tieren flüchtet in den Wald. Tommy finden die beiden kurz darauf hinter dem roten Holzhäuschen am Rand des Gartens. Dort hat sich der verletzte Terrier nach dem Angriff versteckt. Eine acht Zentimeter tiefe Wunde klafft am Brustbein des kleinen Hundes. Ein Keiler hat ihn mit einem seiner Hauer aufgeschlitzt.

„Einfach über den Nachbargarten gekommen“

Es ist nicht der erste Besuch, den die Schwarzkittel den Rothers abstatten. Das Ehepaar wohnt in Rheinbreitbach, direkt am Rand des Siebengebirges. Wenn man auf der gepflegten Rasenfläche in ihrem Garten steht, kann man durch einen sogenannten Doppelstabmattenzaun direkt in den Wald hineinschauen. Fünf Millimeter starke Stahlstäbe im Abstand von fünf Zentimetern bilden am Ende des Grundstücks eine mannshohe Barriere. Am unteren Rand ist der Zaun auf der gesamten Länge noch mit einer gut dreißig Zentimeter hohen Plastikplatte verstärkt.

Dahinter ragen Eichen und Kastanien in die Höhe. Deren Früchte sind für Wildschweine eine Delikatesse. Um sie zu fressen, kamen sie Nacht für Nacht in den Garten der Rothers. Auf der Suche nach Würmern, Mäusen, Larven, Wurzeln und Engerlingen pflügten die Tiere die Wiese um. Auch, als der Schutzzaun schon stand. „Die Schweine sind einfach über einen Nachbargarten gekommen“, sagt Rother. Als auch die Nachbarn ihre Zäune verstärkten, nahmen die Schweine den Umweg über die Straße.

Die Wildsau auf dem Sofa

Das Wildschweinproblem der Rothers ist kein Einzelfall. Immer häufiger taucht Schwarzwild an Orten in NRW auf, an denen es nichts verloren hat. Im vergangenen Sommer zogen drei Bachen, so nennt man weibliche Wildschweine, mit insgesamt 21 Frischlingen durch einen Park in Hagen. Im Jahr davor verlief sich eine ausgewachsene Sau in ein Wohnhaus in Hagen, verwüstete eine Wohnung im Erdgeschoss und hatte es sich beim Eintreffen der Polizei auf dem Sofa gemütlich gemacht.

Auch in Troisdorf soll ein Wildschwein im Sommer einen Hund in einem Park attackiert haben. Schon mehrfach streiften ganze Wildschweinrotten durch Wohngebiete in Wuppertal. In vielen rechtsrheinischen Stadtteilen in Köln gehören umgegrabene Grünstreifen oder umgepflügte Bolzplätze mittlerweile zum Alltag.

Das liegt in erster Linie daran, dass es in NRW extrem viele Wildschweine gibt. Nach Informationen des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) wächst die Schwarzwild-Population seit Jahrzehnten stetig.

Fast sieben Mal mehr Tiere als früher

Die tatsächliche Zahl der Tiere kann nur schwer bestimmt werden. Um Rückschlüsse auf den Wildschwein-Bestand zu ziehen, nutzt das Landesamt deshalb die sogenannte Jagdstrecke. Die bildet ab, wie viele Tiere innerhalb eines Jagdjahres vom 1. April bis zum 31. März des Folgejahres gestorben sind. Dazu zählen die bei der Jagd erlegten Tiere, aber auch Wildschweine, die bei Wildunfällen oder auf andere Weise starben.

Seit den 1980er Jahren steigt diese Zahl kontinuierlich an. In der Vergleichsperiode von 1951 bis 1981 wurden im Schnitt noch gut 4.000 Tiere getötet oder starben. In der Zeit zwischen 1991 und 2021 lag dieser Durchschnittswert mit mehr als 28.000 Wildschweinen fast sieben mal so hoch.

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Das LANUV bewertet diese Entwicklung auch als Folge des fortschreitenden Klimawandels. „Wildschweine wurden bisher durch gefrorene Böden, die sie bei der Nahrungssuche nicht aufbrechen können, und durch den Verlust des zweiten Wurfs in strengen Wintern klimatisch beeinträchtigt“, erklärt das Landesamt dazu. Weniger Schnee und wärmere Winter wegen des Klimawandels - das komme dem Schwarzwild entgegen.

Wildschweine kommen überall zurecht

Doch das ist nicht der einzige Faktor, der dafür sorgt, dass sich die Tiere so stark vermehren. In erster Linie sind Wildschweine vor allem eines: anpassungsfähig. Sie können unter den unterschiedlichsten Bedingungen leben. Man trifft die Tiere von Portugal bis nach Japan, sie leben im tropischen Regenwald genauso wie in Sibirien.

„Es gibt nur wenige Faktoren, die den Lebensraum von Wildschweinen begrenzen“, sagt der Biologe Oliver Keuling vom Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule in Hannover. Eine dauerhafte Schneedecke, die höher als 55 Zentimeter sei, sei so eine Rahmenbedingung. „Und in Hochgebirgen oder Vollwüsten überleben Wildschweine nicht“, so Keuling. Sonst kämen die Tiere so ziemlich überall gut zurecht.

Großer Wert für das Ökosystem Wald

Auch, weil sie Allesfresser sind. Von Mäusen über Larven zu Engerlingen, Wurzeln, Knollen oder Gras steht so ziemlich alles auf dem Speiseplan von Wildschweinen. Genau das macht auch ihren großen Wert für das Ökosystem Wald aus. Bei der Suche nach Nahrung lockern die Tiere den Boden, brechen morsches Holz auf und fressen Schädlinge. Da sie sogar Aas fressen, verhindern sie, dass sich Krankheiten im Wald ausbreiten.

Gleichzeitig profitieren die Tiere davon, dass es den Wäldern in NRW nicht so gut geht. Wenn Buchen und Eichen unter schädlichen Umwelteinflüssen wie Trockenheit oder einer schlechten Luftqualität leiden, produzieren sie sehr viele Früchte und werfen sie ab - viel häufiger, als das normalerweise der Fall wäre. Bucheckern und Eicheln wiederum sind eine Leibspeise der Schweine. Solche Mastjahre mit sehr vielen Früchten schaffen daher optimale Bedingungen für das Schwarzwild, um sich fortzupflanzen.

Um die Menge der Wildschweine in Deutschland nachhaltig zu verkleinern, müssen sie konsequent bejagt werden.

Biologe Oliver Keuling

Eine Wildsau ist nach einem Jahr geschlechtsreif und kann bis zu zwölf Junge gebären. Pro Wurf können bis zu acht Frischlinge überleben. Wenn Tierschützer, wie zum Beispiel die Organisation Peta, sagen, der Wildschweinbestand würde sich auf natürlichem Weg von allein regulieren, kann Oliver Keuling nur den Kopf schütteln. „Sicher, irgendwann würde das passieren“, sagt der Biologe. „Doch bis dahin würden sich die Schweine hier überall ausbreiten.“ Wenn man die Zahl der Tiere im Griff behalten wolle, müssten die Tiere „konsequent bejagt werden“.

Die Wildschweine wissen sofort, was los ist

An diesem kalten Novembermorgen verlangt die Jagd Johann Warns Geduld ab. Seit fast zwei Stunden sitzt der 71-Jährige auf einem Hochsitz im Bonner Kottenforst. Trotz Handschuhen, Mütze, Schal und festen Schuhen kriecht die feuchte Kälte immer weiter unter die Kleidung des Jägers. Das geladene Gewehr liegt gesichert und griffbereit vor ihm auf dem etwa drei Meter hohen Ansitz. Gebraucht hat er es bislang nicht. Was aber nicht heißt, dass er noch kein Wild gesehen hat.

Als Warns am Morgen über das nasse Buchenlaub den leicht abfallenden Weg zum Hochsitz hinunter geht, wartet das Schwarzwild bereits auf ihn. Auf einem kleinen Trampelpfad am gegenüberliegenden Hang steht eine Bache mit sechs Frischlingen. Als sie den Jäger entdeckt, trippelt die ganze Wildschweinfamilie in den Wald und verschwindet im Dickicht.

„Die wussten genau, was hier los ist“, sagt Warns, als er kurz darauf seinen Posten für die heutige Jagd bezieht. Routiniert klappt er sein Gewehr auf, lädt beide Läufe mit zwei mehr als sechs Zentimeter langen Patronen und legt die Packung mit der restlichen Munition griffbereit vor sich. Große Hoffnung, dass die Wildschweinfamilie wieder zurückkommt, hat er nicht. „Dafür sind die Schweine zu schlau“, sagt Warns. Aber genau das mache auch den Reiz der Jagd aus.

Landwirtschaft lockte Schweine aus dem Wald

Neben der Cleverness der Tiere gibt es noch einen anderen Aspekt, der die Jagd auf Schwarzwild schwierig macht: der Wandel der Landwirtschaft. Bis zu den 1980er Jahren bestellten Bauern laut dem Biologen Keuling meist nur Felder, die einigermaßen nah um ihren Hof lagen. „Die Flächen, die weiter als etwa sechs Kilometer entfernt waren, auch gerne in Waldnähe, nutzten sie als Weiden oder anderes Grünland.“

Das war für Jäger von Vorteil, die genau hier ihre Hochsitze aufstellten. Kam dann ein Wildschwein aus dem Wald, musste es erst einmal über diese Freifläche und konnte leicht erlegt werden. „Daraus haben die Schweine natürlich gelernt und sind im Wald geblieben“, sagt Keuling.

Mit dem technischen Fortschritt änderte sich das aber. Seit den 1980er Jahren hat die Fläche an bewirtschafteten Ackerflächen zugenommen. Oft reichen Felder mit Mais, Raps oder anderem hohen Getreide bis an die Wälder heran. „Damit bieten wir dem Schwarzwild reichlich Futter an“, sagt Keuling. Zudem bieten die Felder den Tieren Deckung. „Dadurch haben wir die Tiere quasi selbst aus dem Wald gelockt.“

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Keine Jagd im Wohngebiet

Das führte auch dazu, dass es aufwändiger und vor allem zeitintensiver wurde, die Tiere zu erlegen. Das sieht mittlerweile auch die Politik. Um es der Jägerschaft einfacher zu machen, die Bestände zu reduzieren und damit einer Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest (ASP) vorzubeugen, wurde bereits 2018 die Schonzeit für Schwarzwild ausgesetzt. Mit Ausnahme von führenden Bachen - also Wildsauen, die Frischlinge haben, die noch gesäugt werden - dürfen Wildschweine in NRW das ganze Jahr über gejagt werden. Seit Anfang 2021 dürfen Jäger darüber hinaus auch Nachtsichttechnik dafür einsetzen.

Eines jedoch dürfen die Jäger nicht: die Schweine dort jagen, wo sie seit einigen Jahren immer häufiger auftauchen, in Wohngebieten, Parks und Gärten. Diese Bereiche gelten als befriedete Gebiete. Dort einen Schuss abzufeuern, wäre viel zu gefährlich. Die Jäger dürfen das Wild dort noch nicht einmal heraustreiben, denn auch das ist laut Gesetz schon Teil der Jagd. Stattdessen versuchen die Jäger mit groß angelegten Bewegungsjagden an einem Tag möglichst viel Wild zu erlegen.

Aufscheuchen, nicht hetzen

Mit orangener Jacke, festen Lederhandschuhen und Machete hockt Andreas auf dem Boden im Unterholz. Als Treiberführer ist er dafür zuständig, die anderen Treiber, Hundeführer und Hunde so zu koordinieren, dass sie an diesem Morgen möglichst viel Wild im Bonner Kottenforst in Bewegung versetzen.

Die Hunde sollen das Wild nicht hetzen, sondern aufspüren und aus dem Dickicht scheuchen. „Das ist oft gar nicht so einfach“, sagt Andreas, der schon bei zahlreichen Drückjagden dabei war. „Die Schweine wissen, dass es besser ist, nicht herauszukommen, und bleiben manchmal auch einfach liegen, selbst wenn ein Hund direkt neben ihnen steht und bellt.“

Am Tag nach der Jagd kehrt Ruhe ein

Rund um den Ansitz von Johann Warns wird es unruhig. Genau dort, wo am Morgen die Bache mit ihren Frischlingen im Wald verschwand, bricht plötzlich ein Keiler durch die Büsche und stürzt den Trampelpfad entlang. Warns legt an, verfolgt den Lauf des Wildschweins mit der Büchse und drückt ab. Das Tier schafft noch ein paar Meter, dann bricht der gut 70 Kilo schwere Keiler im vollen Lauf zusammen und stürzt leblos gut zehn Meter den Hang hinab.

Es ist eines von insgesamt zehn Wildschweinen, die an diesem Tag erlegt werden. Die Jäger sind zufrieden mit der Ausbeute. Ziel war es, an diesem einen Tag möglichst viele Schweine zu erlegen. Am Tag darauf wird das Jagdrevier wieder zum Schutzraum für das Wild. Im Wald kehrt Ruhe ein.

Mit China-Böllern gegen Wildschweine

Ruhe herrscht mittlerweile auch im Garten von Marlene Rother. Bis es soweit war, mussten sie und ihr Mann aber einen zähen Kampf mit den Wildschweinen ausfechten. Sie kauften mit Bitterstoffen getränktes Granulat, das sie am Rand des Gartens verteilten. Laut Hersteller sollte es bei den Tieren Verdauungsprobleme verursachen und dafür sorgen, dass die Schweine nicht mehr kommen. „Das war den Viechern aber egal“, sagt Rother. Genau wie der Lärm aus einem Ghettoblaster, mit dem die Rothers ihren Garten nachts beschallten. Selbst China-Böller, die sie zündeten und in den Garten warfen, wenn die Wildschweine kamen, hatten nur einen begrenzten Effekt. „Sie flüchteten, waren aber schon am Tag drauf wieder da.“

Erst seit die Söhne von Marlene Rother neben dem Grundstück ihrer Mutter ein Haus gebaut haben, kommen die Schweine nicht mehr. Bislang.

Team

Text und Fotos: Jörn Kießler

Videos: Jörn Kießler, Johannes Kolb, Christof Voigt, privat

Redaktion: Thierry Backes, Till Hafermann