Von Kevin Barth (Text) und Jan Knoff (Fotos und Videos)
WDR-Reporter Kevin Barth, 31, lebt in Dortmund und ist von Geburt an fast blind. Er kann lediglich Lichtunterschiede und Kontraste im Abstand von ein paar Metern erkennen; für die Orientierung nutzt er einen sogenannten Langstock.
Barth arbeitet als freier Medienjournalist unter anderem für die ARD. Seine große Leidenschaft ist der Dart-Sport; als Experte hat er TV-Übertragungen kommentiert und regelmäßig von der Weltmeisterschaft aus dem Londoner Ally Pally berichtet. Er möchte nicht, dass seine Sehbehinderung im Vordergrund steht - aber manchmal ist es aus seiner Sicht nötig, dass er als Betroffener den Finger in die Wunde legt.
Zum Europäischen Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai 2024 hat er für uns aufgeschrieben, mit welchen Änderungen sein Alltag einfacher werden könnte. Seine Wünsche sind am Sehbehindertentag (6. Juni 2024) weiterhin gültig.
Der Ton kann über das Lautsprecher-Symbol in der Navigationsleiste wieder deaktiviert werden.
An der Dortmunder U-Bahn-Haltestelle Stadtgarten kann ich auch nach Jahren noch an der falschen Stelle landen. Es gibt zwei Treppenabgänge, aber keine Markierung, die mir zeigt, ob die Bahnen Richtung Hauptbahnhof oder in die Gegenrichtung fahren. Und wenn ich auf der Suche nach dem Eingang ein bisschen zu weit links oder rechts gehe, könnte ich in Kopfhöhe mit einer Metallkonstruktion zusammenstoßen. Da hilft mir auch mein Stock nicht.
Was hier fehlt, ist ein durchdachtes Leitsystem. Solche Systeme bestehen meist aus Bodenplatten mit Rillen oder Noppen, die deutlich ertastbar sind und sich auch optisch vom übrigen Bodenbelag abheben. Leitsysteme gibt es an Bahnhöfen, auf großen Plätzen, in Rathäusern und eigentlich in allen öffentlichen Gebäuden.
Neben den Leitstreifen, die zum Beispiel zu Ein- und Ausgängen, Treppen, oder Fahrstühlen führen, gehören auch Aufmerksamkeitsfelder dazu. Die warnen vor Hindernissen, weisen auf Abzweigungen hin, markieren den Einstiegsbereich an Bushaltestellen, oder zeigen den Beginn eines Leitsystems an. Zusätzlich werden an festen Punkten Hinweise in Blindenschrift angebracht. So zeigt ein Geländer an, wohin die Treppe führt, oder für welche Etage welcher Knopf im Fahrstuhl ist.
Das Beispiel Stadtgarten aber zeigt: Von flächendeckenden und durchdachten Leitsystemen sind wir leider noch ein ganzes Stück entfernt.
An vielen veralteten Gebäuden, Straßen oder Haltestellen fehlen wichtige Elemente. Und wenn es Leitsysteme gibt, sind sie nicht immer durchdacht: Rund um den Dortmunder Phoenix-See ist ein mehr als einen Kilometer langes Leitsystem installiert, auf dem es aber keine Markierungen für umliegende Gebäude gibt und das plötzlich einfach endet. An anderen Bahnhöfen sind die Leitsysteme dünn, schwer zu finden und auch farblich nicht so auffällig wie sie sein sollten.
Am Ende bringt im Übrigen auch das beste Leitsystem nichts, wenn sehende Menschen nicht wissen, wofür es eigentlich da ist. Oft muss ich Menschen ausweichen, die einfach auf einem Streifen stehen oder ihren Koffer dort abstellen.
Ampeln, die Geräusche machen, sind wahrscheinlich das Hilfsmittel, das Menschen ohne Behinderung besonders auffällt, wenn sie im Straßenverkehr unterwegs sind. Die Art der Geräusche variiert aber ziemlich. Gemeinsam haben die meisten ein regelmäßiges Klacken, das ankündigt, dass sich an einer bestimmten Stelle eine Ampel befindet.
Die Lautstärke ist aber leider sehr unterschiedlich. Manche Ampeln sind so eingestellt, dass das Klacken je nach Umgebungslautstärke auch selbst lauter wird. Für mich eine gute Lösung. Das hat allerdings schon zu Beschwerden von Anwohnern geführt; zuletzt berichteten die Ruhrnachrichten 2022 über so einen Fall in Dortmund. Ampeln ohne diese Dynamik haben aber oft das Problem, dass der Erkennungston gerade bei viel befahrenen Straßen zu leise ist. So ist es für mich oft umständlich, die Ampel und damit auch den passenden Übergang zu finden.
Nach dem Auffinden muss ich mitbekommen, dass grün ist. Viele Ampeln vibrieren dann - dafür muss ich sie aber anfassen. Aus Hygiene-Gründen ist das mindestens fragwürdig, und immer wieder sind die Taster auch blockiert, zum Beispiel von abgestellten Fahrrädern oder sogar Bauzäunen.
Deutlich besser finde ich Ampeln, die zusätzlich zu Klack-Ton und Vibration auch noch einen Piep-Ton während der Grünphase von sich geben. Ideal wäre es, wenn sich dieser Ton auch noch verändern würde, wenn nur noch wenige Sekunden übrig sind, bis für Fußgänger wieder Rot ist. Gerade an unbekannteren Stellen ist mir sonst das Risiko zu groß und ich warte lieber bis zur nächsten vollen Grünphase. Ein so ausgeklügeltes System habe ich persönlich bislang nur in den Niederlanden erlebt.
Ein Leitsystem (siehe oben) an ÖPNV-Haltestellen ist das eine. Damit ist es aber nicht getan. Eine akustische Information, welcher Bus oder welche Bahn als nächstes einfährt, ist mindestens genauso wichtig. An der U-Bahn-Haltestelle Dortmund-Stadtgarten gibt es zum Beispiel entsprechende Lautsprecheransagen. Nur eine Haltestelle weiter, am Stadthaus, fehlen diese völlig. Dann bin ich darauf angewiesen, dass mir andere Menschen helfen, oder ich muss im wahrsten Sinne des Wortes einfach blind einsteigen.
Eine Alternative zu Durchsagen sind Info-Säulen, über die ich mir per Knopfdruck ansagen lassen kann, welche Linien in den nächsten Minuten an dieser Stelle abfahren. Unübersichtliche Busbahnhöfe wären so gleich ein bisschen weniger abschreckend. In Dortmund sind die aber noch eine Ausnahme.
Auch die eingesetzten Fahrzeuge selbst könnten mit Lautsprechern ausgestattet sein. Wenn eine Bahn einfährt, erfolgt nach der Türöffnung eine Ansage, in welche Richtung sie fährt und ich kann entscheiden, ob ich einsteige oder nicht. Ansagen in den Verkehrsmitteln selbst sind immerhin inzwischen fast überall Standard.
Ein Konzert besuchen oder ins Fußballstadion gehen, das sind Dinge, die ich gerne in meiner Freizeit mache. Es ist allerdings in Deutschland fast nicht möglich, das komplett unabhängig und ohne sehende Begleitperson hinzubekommen. Die meisten Veranstaltungsorte sind nicht auf Menschen mit einer Sehbehinderung eingestellt. Es gibt nur selten Leitsysteme, ganz zu schweigen von Blindenschrift an wichtigen Punkten. Ich finde mich in der Regel also nicht selbst zurecht. Die Menschenmassen zum Beispiel im Fußballstadion, die alles noch viel unübersichtlicher machen, sind da noch gar nicht eingerechnet.
Fast schon ironisch wird es dann, wenn solche Orte eigentlich Angebote für Menschen wie mich haben. Zum Beispiel wird fast in allen Stadien der ersten und zweiten Fußball-Bundesliga das Spiel über Kopfhörer beschrieben. Auf Schalke kann ich mich von ehrenamtlichen Helfern mit vorheriger Anmeldung abholen und zum Platz bringen lassen. An vielen anderen Orten ist das nicht ohne weiteres möglich.
Ehrenamt ist überhaupt ein gutes Stichwort: Diejenigen, die barrierefreie Angebote in diesen Bereichen betreuen, bekommen dafür meistens wenig bis gar kein Geld. Fußballvereine und andere Veranstalter sind nach meiner Erfahrung nicht bereit, dafür größer zu investieren. Ich empfinde das als skandalös. Auch die Security vor Ort ist nur selten im Umgang mit Menschen geschult, die eine Behinderung haben. Im Kölner Palladium hat das bereits dazu geführt, dass ich bei einem Konzert trotz Stehplatzkarte und trotz sehender Begleitperson auf den Oberrang musste, weil man meine Sicherheit nicht garantieren konnte.
Seit fünf Jahren gibt es für mich im Straßenverkehr eine neue Unberechenbarkeit: Die Rede ist von E-Scootern. Sie stehen regelmäßig im Weg, manchmal liegen sie auch einfach irgendwo und werden zur Stolperfalle. Selbst, wenn sie irgendwo am Rand stehen, hilft mir das nicht. Denn oft nutze ich zur Orientierung feste Punkte, die immer da sind: zum Beispiel Hauseingänge, Stromkästen oder Hauswände. Auch hier kann es also unschöne Zusammenstöße für mich geben.
Zum Glück nutzt der ein oder andere E-Roller-Verleih dafür schon eine innovative Lösung für mehr Barrierefreiheit. Deren Roller verfügen dann über eine Bluetooth-Schnittstelle, sind mit dem Internet verbunden und haben einen Lautsprecher. Wenn ich dann die kostenlose App „LOC.id“ auf meinem Smartphone aktiviere und in der Nähe eines E-Rollers bin, gibt der einen Piep-Ton von sich und ich kann in der Regel ohne Probleme ausweichen.
Benutzen kann man diesen Service, wenn man vorher einen Nachweis über eine vorliegende Sehbehinderung erbringt. Es gibt ihn bereits in Städten wie Düsseldorf und Köln. In meiner Heimatstadt Dortmund leider nicht. Ich finde, hier braucht es politischen Druck. Man sollte Verleih-Unternehmen vorschreiben, ihre Roller entsprechend aufzurüsten.
Das Leitsystem am Dortmunder Hauptbahnhof führt unter anderem zu einem Geldautomaten. Praktisch, denn oft vergesse ich vor dem Losfahren, dass ich noch Bargeld abheben wollte. Dieser Automat ist für mich allerdings schwer zu bedienen.
Es gibt zwar für jeden Befehl Tasten statt eines Touch-Screens - was heute nicht mehr selbstverständlich ist -, aber was diese Tasten genau tun, ist nicht klar. Ich muss also mindestens einmal mit einer sehenden Person vor Ort gewesen sein, die mir die Bedienung erklärt. Und selbst wenn ich mir das merke, kann es passieren, dass es am Hauptbahnhof so laut und wuselig ist, dass ich nicht höre, ob der Automat einen Tastendruck auch tatsächlich angenommen hat.
Ich laufe also Gefahr, am Ende etwas einzugeben, das ich gar nicht wollte. Vielleicht habe ich dann einen falschen Betrag abgehoben oder der Vorgang wird abgebrochen; im schlimmsten Fall wird meine Karte eingezogen.
Es geht auch besser: Einige Geld- und Ticketautomaten haben einen Kopfhöreranschluss. Wenn ich Kopfhörer einstecke, meldet sich eine Stimme, die mir den Inhalt des Bildschirms vorliest und mich sicher von einem Schritt zum nächsten navigiert. Bei Geldautomaten mit Touch-Screen verändert sich automatisch die Steuerung, wenn ich Kopfhörer einstecke. Ich kann dann stattdessen alle Befehle über die Zifferntasten eingeben, die ja genau so angeordnet sind, wie ich es von einem Telefon kenne.
Leider wird es noch dauern, bis alle Geräte für mich barrierefrei sind. Bundesweit tritt zwar ab Sommer 2025 das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Kraft, aber Geld- und Ticketautomaten haben zum Beispiel eine Übergangsfrist bis 2040. Bei vielen Dienstleistern ist zu befürchten, dass sie das Ganze dann tatsächlich auch erst auf den letzten Drücker vollumfänglich umsetzen.
Manche Banken haben zum Beispiel bereits bei örtlichen Betroffenenverbänden nachgefragt, wie viele Menschen mit Sehbehinderung es denn in ihrem Einzugsgebiet gebe und ob sich das dann überhaupt lohne. Eine schnellere Umsetzung wäre angeblich zu teuer.
Einfach in ein Restaurant gehen, von dem ich eine gute Bewertung gelesen habe? Da muss ich mich darauf einstellen, dass ich auch hier oft auf Hilfe angewiesen bin. Nicht jeder gastronomische Betrieb stellt eine Speisekarte online zur Verfügung. Wenn das der Fall wäre, könnte ich sie über mein Smartphone abrufen und vorlesen lassen.
Manche Betriebe fotografieren die Karte nur ab und stellen sie so ins Internet. Auch hier gibt es mittlerweile Apps, die mir in solchen Fällen den Text wiedergeben können, aber ich sollte mich im Bestfall schon vorher informieren. Zu glauben, dass ich ganz spontan irgendwo einkehren und dann alleine aus dem Angebot wählen kann, wäre eher blauäugig. Im Zweifelsfall muss ich mir die Speisekarte vom Personal vorlesen lassen. Wenn ich mir im ersten Versuch nicht alles gemerkt habe, muss die ein oder andere Passage wiederholt werden - da bringen nicht alle viel Geduld mit.
Speisekarten in Blindenschrift hatte noch kein Lokal, in dem ich in den letzten zehn Jahren in NRW war. Dabei gibt es sogar einen Verein in der Nähe von Siegen, der so etwas kostenlos zur Verfügung stellen würde.
Auch hier müssten die jeweiligen Unternehmen wahrscheinlich verpflichtet werden, um entsprechende barrierefreie Angebote zu machen. Wie wäre es zum Beispiel mit einer App, in die eine Speisekarte eingestellt werden muss, die ein Smartphone mit entsprechender Software definitiv auslesen kann?
Nach dem Essen geht es dann ans Bezahlen – und auch da gibt es inzwischen oft Schwierigkeiten: Immer mehr Restaurants oder Kneipen nutzen Geräte für die Kartenzahlung, die kein Tastenfeld mehr haben. Stattdessen gibt es einen Touch-Screen, den ich aber nicht bedienen kann. Im schlimmsten Fall muss ich jemandem meinen Pin ins Ohr flüstern. Hier müsste das Rad dringend wieder zurückgedreht werden, denn ich würde schon gerne selbst entscheiden können, ob ich bar oder mit Karte bezahlen möchte.
Autor: Kevin Barth
Redaktion: Thierry Backes, Raimund Groß, Till Hafermann
Fotos und Videos: Jan Knoff
Weitere Fotos: imago/ActionPictures/Peter Schatz (Symbolbild Dortmunder Stadion); Monkey Business 2/Shotshop/picture alliance (Symbolbild Kartenlesegerät)