6. April 2025: Alle Blicke richten sich auf den Schafberg in Ibbenbüren. Um Punkt 11:00 Uhr wird das Kesselhaus des Kohlekraftwerks Ibbenbüren gesprengt. 500 Kilogramm Sprengstoff, 20 Sekunden Explosion, ein leiser Knall, eine große Staubwolke. Gut anderthalb Stunden später folgt der benachbarte Kühlturm. Er wird von Stahlseilen niedergerissen. Das wars. Eine Landmarke ist verschwunden - nach 40 Jahren.
Wegen der Sprengung müssen am 6. April 2025 rund 130 Anwohnerinnen und Anwohner ihr Zuhause verlassen. Ebenso 300 Bewohnerinnen und Bewohner der Zentralen Unterbringungseinrichtung für Flüchtlinge, die direkt gegenüber vom Kraftwerksgelände liegt.
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU, li.) und Umweltminister Oliver Krischer (Grüne, 2. v. r.)
Die Anwohnerinnen und Anwohner können die Sprengung von einem Aussichtspunkt gut beobachten. Auch Prominenz schaut sich das Spektakel an, unter anderem Oliver Krischer, Minister für Umwelt, Naturschutz und Verkehr und Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Dann werden die Zuwege gesperrt. 46 Absperrposten des THW sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Feuerwehr, Polizei und Ordnungsamt sind im Einsatz. Verkehrssperren werden bereits an den Zufahrtsstraßen errichtet.
Der Chef des Abbruchunternehmens Thomas Hagedorn zu den Hintergründen
Bereits einen Monat zuvor, am 8. März 2025, gibt es im Inneren des Kesselhauses eine erste Sprengung. Sie ist nötig, um den unteren Teil des Bauwerks "vorzuschwächen". Damit das massive Bauwerk am 6. April kontrolliert zu Fall gebracht werden kann, ist dieser Schritt nötig. Aber: Davon bekommen Anwohnerinnen und Anwohner nichts mit. Es gibt keine Evakuierung, Straßensperrungen sind nicht vorgesehen.
Anwohnerinnen und Anwohner verlassen am 6. April ihr Zuhause
Eigentlich sollte die Sprengung an diesem März-Wochenende stattfinden. Doch sie wurde aus Sicherheitsgründen verschoben. Am 6. April ist dann alles bereit.
Werner Lüken war erst im Kraftwerk beschäftigt, jetzt ist er beim Abbruch dabei
Betonskelette, Schuttberge und – emsiger Betrieb. Es wird gehämmert, gebohrt, geschippt. Die Abrissarbeiten im Steinkohlekraftwerk Ibbenbüren sind Ende 2024 schon weit fortgeschritten. Mittendrin: Werner Lüken. Er hat hier im Kraftwerk über 30 Jahre gearbeitet, zuletzt als Technikchef. Sie alle im Kraftwerk Ibbenbüren mussten damit rechnen, dass das Kraftwerk stillgelegt wird, erzählt er. Aber es wurde immer wieder modernisiert, ein paar Jahre noch hätte es laufen können. Doch dann, im Dezember 2020, wird in der Morgensitzung das Betriebsende verkündet. 2021 wird das Kraftwerk in Ibbenbüren abgeschaltet.
Das war natürlich ja wirklich ein Schock, frustrierend. Dieses Damoklesschwert, sag ich mal, hing schon länger über uns. Wir wussten, dass wir damit rechnen müssen.
Werner Lüken, ehemaliger Technikchef im Kraftwerk Ibbenbüren
Im Herbst 2024 gibt es noch Umkleideräume: Über 140 Spinde, daneben Waschräume, Duschen. Aber es ist dunkel, der Strom schon abgeschaltet. Nur wenige kennen das Steinkohlekraftwerk so gut wie Werner Lüken. Er arbeitet jetzt für die Firma Hagedorn, berät die Firma beim Rückbau der Anlage, dem Abriss des riesigen Kesselhauses, des Kühlturms und dann irgendwann auch des Schornsteins.
Werner Lüken: Stolz und Wehmut
Werner Lüken ist trotz aller Wehmut auch stolz darauf, jetzt beim Rückbau des Kraftwerks mitzuarbeiten. Ihn reizt die technische Herausforderung. Bis 2026 soll hier nichts mehr stehen.
Große Feier in Ibbenbüren: Das Kohlekraftwerk Block B geht am 29. November 1985 ans Netz. Ohne dieses neue Kraftwerk hat die benachbarte Zeche kaum eine Zukunft. Mit dem 750 Megawatt-Kraftwerk will die Landesregierung die benachbarte Zeche retten, es geht um 4.500 Arbeitsplätze.
Kraftwerk: Lebensversicherung fürs Bergwerk
Auf dem Schafberg im Tecklenburger Land liegt das nördlichste Steinkohlebergwerk Deutschlands, rund 100 Kilometer nördlich vom Ruhrgebiet. Das neue Kraftwerk gilt als eines der modernsten seiner Art, wandelt die Anthrazitkohle in elektrische Energie um. Doch die Ibbenbürener Kohle ist schwer entflammbar, muss bei hohen Temperaturen in Schmelzkammern verfeuert werden. Dadurch ist der Ausstoß von Stickoxiden besonders hoch. Noch aber gibt es keine technische Möglichkeit für eine Entstickungsanlage.
Stickoxide werden in die Luft gepustet
Als "Stinker der Nation" wird das Kraftwerk bezeichnet, erst drei Jahre später, am 15.Dezember 1988 wird die so genannte "DeNox-Anlage" in Betrieb genommen. Damit sind die Umweltprobleme gelöst. Im Durchschnitt werden rund eine Million Tonnen Anthrazitkohle pro Jahr im Kraftwerk verfeuert. Doch die Verstromung lohnt sich nur, weil die Kohle subventioniert wird. Gesamtkosten des Kraftwerks: 1,6 Milliarden Mark.
Jeden Tag kommen im Januar 2002 vier Lkw am Abladesilo des Kraftwerks an, jeder Laster hat rund 25 Tonnen Tiermehl geladen. Die Masse aus Tierkörperbeseitigungsanlagen wird in einen Bunker geblasen. Seit es in der Europäischen Union verboten ist, Tiermehl mit zu verfüttern, gibt es einen "Entsorgungsnotstand". Da will das Kraftwerk helfen: bei 1.700 Grad wird das Tiermehl mitverbrannt.
Kraftwerk verbrennt Tiermehl
Da die Anthrazitkohle nicht gut brennt, kommt das Tiermehl als Zusatzbrennstoff gerade recht. Die Bezirksregierung Münster hat die Verbrennung genehmigt, die Behörden müssen auch dafür sorgen, dass die Anwohner etwa unter Gestank leiden. Deshalb darf das Tiermehl nicht gelagert werden. Und: Es darf auf keinen Fall BSE-haltige Stoffe enthalten. Der Kreisveterinär muss das Tiermehl als unbedenklich einstufen.
2009: Das Kraftwerk ist abgeschaltet, es soll auf Vordermann gebracht werden. Überall wird geschweißt und gebaut.
Das Ziel: Mehr Energie mit der gleichen Menge Kohle. Mit dem neuesten Stand der Technik soll noch mehr Leistung aus dem Dampfstrom herausgeholt werden. Zwei neue Turbinenräder werden in die Dampfturbine eingebaut. Nach über 20 Jahren bekommt das Kraftwerk auch ein neues Kühlsystem. Reparaturen auch im Brennraum, dort , wo sonst die Kohle glüht.
Die Kohlenbrenner stehen still
Der Betreiber RWE investiert 2017 rund 13 Millionen Euro in eine mehrwöchige Wartung. Das Kohlekraftwerk in Ibbenbüren steht still. Wo normalerweise 100 Mitarbeiter für den Betrieb des Kraftwerks sorgen, arbeiten in diesen Tagen 900 Menschen.
Die Investition lohnt sich, so Kraftwerksleiter Hartmut Frank. Die Anlage bringe noch immer Geld ein. Und: das Kraftwerk sei für die Versorgungssicherheit wichtig.
Hartmut Frank: Investitionen lohnen sich
Doch die Verstromung der Steinkohle ist für die RWE nicht besonders ertragreich. Immer öfter steht das Kraftwerk still - nur noch dafür da, Spitzen in der Nachfrage zu decken. Außerdem wird immer mehr Strom durch Wind- und Sonnenenergie ins Netz eingespeist . So sind es 2019 sechs Monate, bis RWE die Anlage im Oktober wieder in Betrieb nimmt. Durch den steigenden Strombedarf kann das Kraftwerk dann wieder wirtschaftlich arbeiten.
Seit Ende der 1950er Jahre verdrängen Öl und Erdgas die Steinkohle immer weiter. Politik, Unternehmen und Gewerkschaften versuchen jahrelang, den Steinkohlebergbau zu retten.
1980 wird ein „Jahrhundertvertrag“ gefeiert: die Mengen- und Finanzierungsgarantie für die Kohleverstromung bis 1995. Damit der deutsche Steinkohle-Bergbau überleben kann, schießen Bund und Länder zu. Ende der 80er Jahre ist dies der Politik zu teuer. Die Kumpel auf der Zeche in Ibbenbüren sorgen sich um ihren Arbeitsplatz:
Bergleute fordern Subventionen
Ab 1996 gilt ein fester Subventionsbetrag. Insgesamt 7,5 Milliarden DM erhält der Bergbau 1996, sieben Milliarden DM in den darauffolgenden Jahren bis 2000. Danach sollen die Hilfen in nicht genanntem Umfang sinken.
Nach den Vereinbarungen zum endgültigen Ausstieg aus der Steinkohleförderung gibt es 2010 noch rund fünf aktive Zechen in NRW, darunter: Ibbenbüren. Hier arbeiten noch knapp 2.500 Bergleute.
Am 4.12.2018 geht die 500 Jahre alte Bergbautradition in Ibbenbüren zu Ende. In der Zeche Ibbenbüren wird der letzte Förderkorb mit Kohle ans Tageslicht gebracht. Mit dem Bergwerk in Ibbenbüren schließt die vorletzte Zeche in Deutschland. Am 21. Dezember ist - mit dem Förderstop auf der Zeche in Bottrop - der deutsche Steinkohlebergbau dann endgültig Geschichte.
Die Zechenbahn soll die Weltmarktkohle transportieren
Nach der Schließung des Ibbenbürener Steinkohle-Bergwerks bleibt die sechs Kilometer lange Zechenbahn bestehen. RWE will sie für das Kohlekraftwerk Ende 2018 übernehmen. Nach der Zechenschließung reichen die Vorräte etwa noch ein Jahr lang. Danach muss das Kraftwerk die Kohle in Übersee kaufen, die Weltmarktkohle von den Häfen nach Ibbenbüren und dann mit der Zechenbahn zum Kraftwerk transportieren.
Am 8.Juli 2021 ist das Steinkohlekraftwerk Ibbenbüren endgültig Geschichte. RWE schaltet das Kraftwerk ab. Im Dezember 2020 entscheidet dies die Bundesnetzagentur. Für die verbliebenen 88 Mitarbeiter ist das frühere Aus eine bittere Nachricht. Durch einen Tarifvertrag soll abgesichert sein, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen gibt und die Stilllegungen sozialverträglich gestaltet werden.
Anlage wird früher als geplant geschlossen
Bereits ab Januar 2021 darf das Kraftwerk Ibbenbüren keinen Strom mehr verkaufen und nur noch für laufende Lieferverträge Strom produzieren, ab Juli darf dann generell keine Kohle mehr verfeuert werden. Der Stromkonzern RWE erhält für die Stilllegung der beiden Kraftwerke in Ibbenbüren und Hamm insgesamt 216 Millionen Euro. Betriebsbedingte Kündigungen soll es weder in Ibbenbüren noch in Hamm geben.
Die Firma Hagedorn ist auf Abbrüche spezialisiert – Es ist nicht das erste Kraftwerk, dass sie dem Boden gleichmacht
Noch stehen sie: der 125 Meter hohe Kühlturm, der 275 Meter Hohe Schornstein, das Kesselhaus. Im Sommer 2023 beginnen die Arbeiten auf dem ehemaligen Kraftwerksgelände.
Teile aus Kraftwerk ausgebaut
Überall in dem Industriegebäude aus den 80er Jahren lauern Schadstoffe: vor allem Asbest. Das verzögert die Arbeiten.
Im Herbst 2024 sieht es auf dem Gelände schon ganz anders aus: Viele Gebäudefassaden verschwunden, Maschinen ausgebaut oder zerlegt, auf dem Gelände Haufen von Materialien.
Bis August 2026 soll das 280.000 Quadratmeter große Grundstück „besenrein“ sein und an Amprion übergeben werden. Ein Highlight, auch für die Experten. Alles im Kraftwerk ist in XXL, sagt Alexander Lukic.
Bauleiter Alexander Lukic mag das große Projekt
Der Bauschutt ist wertvoller Rohstoff. Insgesamt 170 tausend Tonnen Beton und Zement werden zerlegt, Material getrennt und verkauft – Deshalb hat das Unternehmen das Kraftwerk gekauft. Denn der Wert des Materials entscheidet letztendlich über den Profit.
Abbruchleiter Stefan Kleinelümern zur Materialverwertung
Marc Schrameyer: Stadt schon immer Energiestandort
Bürgermeister Marc Schrameyer ist ein Kind der ehemaligen Bergbaustadt Ibbenbüren. Sie war immer schon ein Standort für Energieerzeugung, erzählt er. Menschen aus dem ganzen Tecklenburger Land haben in Zeche und Kraftwerk gearbeitet. Auch sein Vater war auf der Zeche beschäftigt, die Familie hat miterlebt, wie das Kraftwerk gebaut wurde, dann später das Ende des Bergbaus. Schrameyer war da schon Bürgermeister, hat seitdem auch mit der Umgestaltung des ganzen Geländes zu tun. Auch mit dem, was jetzt hier entsteht.
Ein bisschen Wehmut schwingt mit, wenn er daran denkt, dass das Kraftwerk, eine Landmarke im Tecklenburger Land, verschwindet. Aber es seien viele neue Arbeitsplätze in den Gewerbegebieten entstanden. Und das war das Ziel der Stadt Ibbenbüren: Wenn der Bergbau endet, dann braucht die Stadt neue Arbeitsplätze, neue Firmen müssen angesiedelt werden.
Im Februar 2025 liegt die Arbeitslosenquote in Ibbenbüren bei 5,0 Prozent. Noch vor einem Jahr bei 4,4 Prozent. Dennoch ist der Bürgermeister damit zufrieden, die Quote sei eine der niedrigsten in ganz Nordrhein-Westfalen.
Marc Schrameyer: Der Strukturwandel hat funktioniert
Ibbenbüren mit den verschiedenen neuen Firmen und Gewerbe sei wie ein Tausendfüßler, meint Schrameyer, es tue der Stadt gut, dass sie von allem etwas habe. In den vergangenen zehn Jahren sei die Gewerbesteuerentwicklung von 18 Millionen in 2015 auf fast 60 Millionen gestiegen. Geht da noch mehr?
Marc Schrameyer: Von der Zeche hat die Stadt keine Gewerbesteuer bekommen
Das ist in NRW vom Zechenstandort beispiellos, was wir hier gemacht haben vom zeitlichen Ablauf
Marc Schrameyer, Bürgermeister von Ibbenbüren
Die Nachnutzung des Geländes hatte und hat für die Stadt Ibbenbüren Priorität. Keine verlassenen Gebäude, keine Ruinen sollen bleiben. Auf der Zeche habe es die ersten Ansiedlungen gegeben, Ende 2024 seien die Verträge unterzeichnet worden. Und auf dem ehemaligen Steinkohlekraftwerk wird Amprion dann einen gigantischen Konverter bauen, hier soll Windstrom von den Off-Shore-Anlagen in der Nordsee in Wechselstrom umgewandelt werden. Statt einer Kraftwerksruine nun also ein Konverter. Amprion wird in Ibbenbüren kein großer Arbeitgeber sein, aber die Gewerbesteuer tut der Stadt gut, so der Bürgermeister.
Marc Schrameyer: Stadt kann zur Energiewende beitragen
Die Windparks in der Nordsee produzieren ihn: Grünen Strom. Und der soll künftig auf dem ehemaligen Kraftwerksgelände in Ibbenbüren eine wichtige Rolle spielen. Die Firma Amprion plant, hier einen riesigen Konverter zu bauen. Darin soll der Windstrom gewandelt werden – von Gleichstrom in Wechselstrom.
Stefan Sennekamp, Amprion GmbH: Symbolischer Charakter für Umbau der NRW-Energielandschaft
Noch gehört das Kraftwerksgelände in Ibbenbüren der Unternehmensgruppe Hagedorn. 2026 soll es dann an die Firma Amprion übergeben werden. Dann wird hier eine Konverterstation mit dem Namen BalWin2 gebaut. Die Halle soll rund 30.000 Quadratmeter groß werden, und 25 Meter hoch.
Stefan Sennekamp zu den Vorteilen des Standorts
Grafik: Künftiger Konverter in Ibbenbüren
Die Diskussion um einen solchen Konverter hatte anderswo hohe Wellen geschlagen, In Ibbenbüren dagegen sei dies nicht so kontrovers verlaufen, sagt Ibbenbürens Bürgermeister Marc Schrammeyer.
Doch daran müssen sich die Anwohnerinnen und Anwohner noch gewöhnen. Der Ausblick wird künftig ein anderer sein.
Anwohner: Die vertraute Landmarke verschwindet
Da, wo mal ein Kohlekraftwerk stand, soll ab 2031 Windstrom angeschlossen werden. Hier soll dann grüne Energie für rund zwei Millionen Menschen transportiert werden.
Stefan Sennekamp: Grüne Energie für rund zwei Millionen Menschen
Autorinnen: Cilly van Eck und Pauline Vestring
Redaktion: Eva-Maria Schmelter, Katharina Zimmer
Schnitt: Günter Kujat, Tobias Schultze
Fotos: WDR, WDR/Cilly van Eck, WDR/Petra Brönstrup, Firma Hagedorn
Grafik: Amprion GmbH