Diese Website verwendet Funktionen, die Ihr Browser nicht unterstützt. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf eine aktuelle Version.
WDR

Text, Interviews: Dominik Reinle

Daten und Grafiken: Lisa-Marie Eckardt, Birgit Heinzelmann, Lukas Wamper

Fotos und Videos: Jan Knoff, ergänzt durch private Fotos der Familie Hitze und Material von der Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen

Redaktion: Philipp Blanke, Raimund Groß, Till Hafermann

Medien
  • Familie Guido Hitze
  •  | picture-alliance / dpa
  •  | WDR
80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Flucht, Vertreibung und unsere Familie

Von Dominik Reinle (Text), Lisa-Marie Eckardt (Daten, Grafiken und Hintergrund) und Jan Knoff (Fotos und Videos). Veröffentlicht am 8. Mai 2025.

Vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945, endet der Zweite Weltkrieg in Europa. Auf viele Arten wirkt sich das heute noch aus, auch in NRW. Hier sind viele der Millionen Menschen angekommen, die damals die deutschen Ostgebiete verlassen mussten. So auch Magdalena Hitze aus Oberschlesien - und zwar gleich zwei Mal: zuerst durch Flucht, dann durch Vertreibung. Mit ihrer Familie landet sie schließlich dort, wo kurze Zeit später das Bundesland Nordrhein-Westfalen gebildet wird.

Ihre Enkelin Felicitas beschäftigt diese Vergangenheit noch heute. Sie studiert wegen ihrer Oma Geschichte. Wir haben mit drei Generationen der Familie gesprochen: mit Magdalena, Felicitas und ihrem Vater Guido. Außerdem zeigen wir in Zahlen und Grafiken, wie viele Menschen damals nach NRW kamen, woher sie flohen oder vertrieben wurden und wo sie ankamen.

Inhaltsübersicht

Flucht und Ausweisung aus Oberschlesien

„Unsere Angst ist entsetzlich“

„Am 8. Mai 1945 befand ich mich mit meiner Familie noch auf der Flucht“, sagt Magdalena Hitze beim ersten Kontakt Anfang April 2025 mit dem WDR. Sie stammt aus Oberschlesien und ist 101 Jahre alt. Ihre Erinnerungen hat die Zeitzeugin in einem Buch für ihre fünf Enkelinnen und Enkel notiert. Es trägt den Titel „Immer anders als man denkt – Die wechselvolle Geschichte unserer Familie“.

Doch dann verläuft auch die Arbeit an dieser Reportage anders als geplant: Magdalena Hitze stirbt Mitte April 2025, nachdem sich ihr Zustand plötzlich verschlechtert hat. Ihr Sohn Guido und ihre Enkelin Felicitas beschließen, das vorgesehene Drei-Generationen-Projekt trotzdem fortzusetzen und aus ihrer Sicht mit uns über das Familienthema Flucht und Vertreibung zu sprechen. „Das ist ganz im Sinn meiner Mutter“, sagt Sohn Guido. „Sie hat sich darüber gefreut, dass ihre Geschichte noch einmal weitergetragen wird.“

Felicitas und ihr Vater Guido Hitze

  • Bild: WDR/Jan Knoff

Magdalena Hitze ist in dieser Reportage trotzdem zu sehen und zu hören: Sie hat 2019 dem Haus der Geschichte NRW ein Zeitzeugen-Interview gegeben, das wir hier in Ausschnitten zeigen.

Flüchtlingstreck bricht nach Westen auf

Magdalena ist 21 Jahre alt, als sie am 19. März 1945 mit Angehörigen und einem Pferdewagen frühmorgens den Bauernhof der Familie im oberschlesischen Schönau verlässt. „Unsere Angst ist entsetzlich“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Die Dorfstraße ist verstopft. Verwundete Wehrmacht-Soldaten und deutschstämmige Flüchtlinge drängen nach Westen. In der Gegenrichtung sind neue Kampfverbände unterwegs an die Front, die aber immer näherkommt.

0:00/0:00

Magdalena Hitze im Jahr 2019: Flucht vom Hof in Schönau

  • Video: Stiftung Haus der Geschichte NRW

Seit Monaten treibt die Rote Armee die deutschen Angreifer zurück. „Als wir das Dorf verlassen, steht der Russe bereits 200 Meter vor unserem Hof“, heißt es in Magdalenas Buch. Ihr Vater Emil Franzke – „wegen politischer Unzuverlässigkeit aus der Wehrmacht entlassen“ – bleibt zunächst zurück. Er bekommt dennoch den Befehl, Schönau mit einer „Volkssturm“-Einheit zu verteidigen. Solche Einheiten bilden das letzte Aufgebot aus schlecht bewaffneten jugendlichen Hitlerjungen und älteren Männern. Doch Emil flieht mit dem Fahrrad und folgt dem Flüchtlingstreck. In der damaligen „Tschechei“ holt er seine Familie ein und wird zum Treck-Leiter ernannt.

Von US-Truppen zurückgeschickt

Das einsetzende Tauwetter sorgt für „zähen Schneeschlamm“ auf den Straßen. Als die Flüchtlinge die Moldau überqueren, teilt ihnen ein SS-Mann mit versteinertem Gesicht mit, der „Führer“ Adolf Hitler sei tot. „Was nun, jubeln, lachen oder weinen? Sicherheitshalber ein ernstes Gesicht machen!“ Die Familie zieht weiter nach Westen zum Böhmerwald und will schließlich die Grenze zu Bayern überqueren.

0:00/0:00

Magdalena Hitze im Jahr 2019: US-Truppen schicken den Treck zurück

  • Video: Stiftung Haus der Geschichte NRW

Doch daraus wird nichts: Am 8. Mai 1945 hat Deutschland kapituliert und wird in Besatzungszonen aufgeteilt. Zu diesem Zeitpunkt verläuft die sogenannte Demarkationslinie zwischen amerikanischen und sowjetischen Truppen an der Moldau. Da Oberschlesien jetzt zum sowjetischen Einflussbereich gehört, schicken die US-Truppen Magdalenas Familie zurück.

Auf dem Rückweg vergewaltigt

„Amerikaner begleiteten uns, bis wir auf Russen trafen, denen wir übergeben wurden“, hat Magdalena Hitze beim Erstgespräch mit dem WDR erzählt. „Nun blieb uns erst einmal nichts anderes übrig, als in die Heimat zurückzukehren.“ Die Familie versucht dabei, Hass und Vergeltung aus dem Weg zu gehen.

In dieser Karte hat Magdalena Hitze den Weg des Flüchtlingstrecks von Schönau (oben rechts) an die Grenze zu Bayern und zurück eingezeichnet

  • Bild: WDR/Jan Knoff

Das gelingt aber nicht immer: Eines Abends wird Magdalena von einem betrunkenen russischen Soldaten vergewaltigt. „An diesem Schockerlebnis habe ich sehr lange getragen“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Von Vorteil sind hingegen die Papiere ihres Vaters, die ihn als NS-Verfolgten ausweisen.

Emil Franzke war in der Weimarer Republik Präsident der Landwirtschaftskammer für die Provinz Oberschlesien und Abgeordneter der katholischen Zentrumspartei im Preußischen Landtag. Er warnte öffentlich vor Adolf Hitler und dessen „Schlägerbanden“.

KZ-Haft schützt vor Treck-Plünderung

Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 wurde Franzke zunächst in „Schutzhaft“ genommen und anschließend in das KZ Columbia in Berlin verlegt. Nach 14 Monaten kam er zwar frei, aber sein Vermögen wurde einbehalten.

Magdalenas Vater Emil Franzke (vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten)

  • Bild: privat

Die Nachweise für diese Verfolgungsgeschichte schützen nun den Treck vor Übergriffen in Tschechien, wie Magdalena notiert. „So hatte uns die Miliz nicht ausgeplündert und ließ uns auch Pferde und Wagen.“

Nach zehn Wochen Treck ist die Familie am 3. Juni 1945 schließlich wieder zurück in Schönau. „Ein Schrei der Erleichterung: Der Hof stand.“ Er ist zwar verwüstet und das Dach fehlt. „Aber wir waren da!“ Inzwischen ist Schlesien von den sowjetischen Truppen unter polnische Verwaltung gestellt worden. Die Deutschen verlieren das Verfügungsrecht über ihre Höfe. Polnische Familie ziehen in die Häuser ein und überlassen den ursprünglichen Bewohnern nur wenige Zimmer.

0:00/0:00

Magdalena Hitze im Jahr 2019: Wieder zurück auf dem Hof in Schönau

  • Video: Stiftung Haus der Geschichte NRW

Ausweisung nach einem Jahr

Magdalenas Familie bleibt das erspart. Als eine polnische Familie bei ihr einziehen will, kommt Arka Bożek, der Chef des polnischen Verwaltungsbezirks, überraschend zu Besuch. Magdalenas Vater kennt ihn aus der Landwirtschaftskammer. 1937 hatte Emil Franzke ihm zur Flucht vor der SS ins Ausland verholfen. „Beide Männer begrüßten sich sehr herzlich und Herr Bozek half uns“, notiert Magdalena später. Er untersagt jede Maßnahme gegen die Familie und stellt ihr einen Schutzbrief aus.

Als auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 die Aussiedlung der Deutschen aus den Ostgebieten beschlossen wird, bietet Bozek sogar die Option zu bleiben an. „Vater lehnte jedoch ab mit der Begründung, dass er nicht als Einziger mit seiner Familie in Polen leben wollte.“ Am 8. Juli 1946 ist es soweit: Für alle deutschen Bewohner von Szonów - wie Schönau nun heißt - geht es per Güterzug sieben Tage lang durch die sowjetisch besetzte Zone. In Marienborn, an der Grenze zur britisch besetzten Zone, erfolgt der Wechsel in einen Personenzug. „Wir fuhren nach Wipperfürth.“

Hintergrund

Flucht und Vertreibung in Zahlen und Karten

Im Rahmen der zwischen den Briten und Polen vereinbarten „Operation Schwalbe“ treffen in der britischen Besatzungszone viele Vertriebene mit Bahntransporten ein. Bei der Volkszählung im Herbst 1946 werden im neu gegründeten Bundesland Nordrhein-Westfalen fast 700.000 Vertriebene registriert. 1950 sind es bereits mehr als 1,3 Millionen. So steht es auch in einer „Lehrerhandreichung“ der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) NRW. Nach Bayern und Niedersachsen ist NRW zu diesem Zeitpunkt demnach das Land mit der drittgrößten Zahl an Vertriebenen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.

Während die Zahl der Vertriebenen in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone und der DDR schnell wieder abnehmen, strömen immer mehr Menschen in die Bundesrepublik. Besonders in NRW ist der Anstieg enorm und erreicht 1960 einen Höhepunkt mit mehr als 2,6 Millionen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.

Bezogen auf den Bevölkerungsanteil waren die Verhältnisse in NRW 1950 „gar nicht extrem“, heißt es in der LpB-NRW-Handreichung: „Mit einem Vertriebenenanteil von 10 Prozent liegt Nordrhein-Westfalen deutlich hinter Ländern wie Schleswig-Holstein (33 Prozent), Niedersachsen (27 Prozent) und Bayern (21 Prozent).“ Schaut man auf Daten vom Statistischen Bundesamt zur Volkszählung 1961, liegt NRW zu dieser Zeit aber bereits bei 14,5 Prozent – auch in Hessen (17,0) und Baden-Württemberg (15,6) ist der Anteil an der Bevölkerung nun höher als in NRW, wobei er in Schleswig-Holstein (27,2), Niedersachsen (24,3), Bayern (17,3) wieder abnahm.

Von allen Vertriebenen in Westdeutschland leben 1961 in NRW 25,7 Prozent. Das sind mit Abstand die meisten – vor Bayern (18,4 Prozent) und Niedersachsen (18,0).

Ein Drittel im Rheinland, zwei Drittel in Westfalen

Die Vertriebenen stammen aus allen ehemaligen deutschen Ostgebieten, so die LpB-NRW-Handreichung. Die größte Gruppe bilden Menschen aus Schlesien, danach folgen Menschen aus Ostpreußen, Pommern und Ostbrandenburg. Aus dem Sudetenland gelangen dagegen vergleichsweise wenige nach NRW.

  • Bild: WDR, LpB-NRW, Zentrum gegen Vertreibung, Haus der Geschichte des Landes Baden-Württemberg, Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten

Rund ein Drittel von ihnen kommt im rheinischen Landesteil unter, zwei Drittel landen in Westfalen und hier vorrangig in Ostwestfalen. Das hängt damit zusammen, dass die großen Städte im Rheinland und im Ruhrgebiet wegen der Kriegsschäden für Zuwanderer gesperrt sind. In den ländlichen Regionen ist der Zerstörungsgrad geringer.

  • Bild: WDR, LpB-NRW, Haus der Geschichte des Landes Baden-Württemberg, Volkszählung 1946

Vom Durchgangslager in die Gemeinden

Die Ankommenden werden zunächst in großen Hauptdurchgangslagern untergebracht – zum Beispiel in Siegen, in Warburg oder – wie Magdalenas Familie – in Wipperfürth. Hier werden sie registriert, medizinisch versorgt und „entlaust“. Anschließend geht es weiter in die Kreise.

Ankommen in NRW

„Der Empfang war nicht gerade euphorisch“

Nach der Ankunft von Magdalenas Familie im Hauptdurchgangslager Wipperfürth wird ihre Dorfgemeinschaft aus dem oberschlesischen Schönau in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine wird an den Niederrhein gebracht, die andere in den Oberbergischen Kreis. Magdalena Familie gehört zur zweiten Gruppe und erhält in der Gemeinde Bielstein auf einem Bauernhof Quartier.

Besserer Start als andere Vertriebene

Vater Emil hat Glück und kann Geld verdienen. Weil er politisch als „unbelastet“ gilt, bekommt er bald eine Anstellung als Vertriebenenkommissar in Gummersbach. Zudem wird Heinrich Lübke, der spätere Bundespräsident, auf Emil Franzke aufmerksam.

Bundespräsident Heinrich Lübke

Die beiden hatten sich Ende der 1920er-Jahre auf einer Tagung der „Deutschen Bauernschaft“ kennengelernt. Jetzt ist Lübke der erste NRW-Landwirtschaftsminister und stellt Franzke als fachkundigen Mitarbeiter ein. Beide waren früher in der Zentrumspartei und mittlerweile in der neu gegründeten CDU.

Magdalenas Familie zieht nach Düsseldorf und ihr Vater übernimmt im Ministerium die Aufgabe, neues Land für vertriebene Landwirte zu erschließen und die Gründung von neuen Siedlungen vorzubereiten. Geeignete Gebiete findet Franzke in der Eifel und im Reichswald bei Kleve. Damit hat die Familie einen deutlich besseren Start im Westen als andere Vertriebene, die teilweise Jahre in überfüllten Durchgangslagern verbringen müssen.

Als Sündenbock beschuldigt

Trotzdem hat auch auf Magdalenas Familie niemand gewartet. „Der Empfang und die Haltung der Westdeutschen waren nicht gerade euphorisch“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Für Sohn Guido Hitze ist das milde ausgedrückt: „Jeder Neuankömmling wurde 1946 auch als Konkurrent wahrgenommen – um die knappen Güter wie Lebensmittel, Heizmaterial und Wohnraum.“

Magdalenas Sohn Guido Hitze

  • Bild: WDR/Jan Knoff

Der 58-Jährige leitet die Zentrale für politische Bildung NRW und beschäftigt sich als Historiker schon lange mit dem Thema Flucht und Vertreibung. Damals habe es den falschen Vorwurf gegeben: „‘Ihr seid schuld, ohne euch hätten wird das Schlamassel gar nicht erleben müssen‘ – als ob die Nazis nur in Ostdeutschland gewählt worden wären.“ Dieses Abschieben von Schuld habe zu vielen Verletzungen geführt.

Für rückständig gehalten

Auch habe es „ganz seltsame Vorstellungen“ von Schlesien gegeben, erzählt Guido Hitze. Auf dem Bauernhof in Bielstein, auf dem seine Familie angekommen sei, habe man gedacht, die Schlesier würden alle polnisch sprechen. Seinem Großvater seien stolz die elektrische Beleuchtung und der elektrische Mähdrescher vorgeführt worden. Dabei sei auch der Hof in Schönau „voll elektrifiziert“ gewesen.

„Da war das Gefühl, die nehmen uns nicht für voll und halten uns für rückständig.“ Das seien Empfindungen gewesen, so glaubt Guido Hitze, „die jenseits des Heimatverlustes eben auch eine große Rolle gespielt haben.“

Keine Wurzeln im Rheinland

Diese Erfahrungen beeinflussen auch das Leben von Guido Hitze, der Ende der 1960er-Jahre in Düsseldorf geboren wird. Er wächst als Rheinländer auf, weiß aber immer: „Das sind nicht meine Wurzeln.“ Er spürt: Seine Eltern fühlen sich zwar zu Hause, aber eine „Heimatverwurzelung“ gelingt ihnen nicht. Auch die Familie seines Vaters stammt aus dem Osten, sie wurde aus dem damals schlesischen Breslau vertrieben.

0:00/0:00

Guido Hitze: Keine neue Verwurzelung bei den Eltern

  • Video: WDR/Jan Knoff

Für Enkelin Felicitas Hitze hat das Thema einen anderen Stellenwert: „Uns in der nächsten Generation hat das natürlich weniger geprägt.“ Die 23-Jährige ist ein Millenniumskind, das kurz nach der Jahrtausendwende auf die Welt kommt. Wenn Großmutter Magdalena für Felicitas schlesische Klöße macht, haben diese für sie zunächst keinen historischen Hintergrund: „Das waren nur die Oma-Klöße.“

Oma motiviert Geschichtsinteresse

Felicitas Hitze mit Oma Magdalena Anfang April 2025

  • Bild: privat

Aber das Familienthema lässt auch Felicitas nicht los. „Oma hat bis zuletzt anschaulich davon erzählt und über ihre Erfahrungen offen geredet.“ Aber es habe sie auch belastet. „Sie hat immer gesagt, dass Oberschlesien ihre Heimat ist und dass sie das vermisst.“

Heute steht Felicitas Hitze kurz vor ihrem Master in Geschichte. Sie hat in Düsseldorf und Bamberg studiert und kann sich vorstellen, später in die historische Bildungsarbeit einzusteigen. Mehrere Praktika in NS-Gedenkstätten hat sie schon gemacht. „Das ist die Zeit, die Oma miterlebt hat“, sagt Felicitas Hitze. Die Erzählungen von damals hätten ihr Interesse geweckt. „Sie hat da einen sehr großen Beitrag dazu geleistet.“



0:00/0:00

Felicitas Hitze: Von Omas Erzählungen inspiriert

  • Video: WDR/Jan Knoff
Hintergrund

Wo leben in NRW die Schutzsuchenden?

Wohin gingen die Vertriebenen und wo wohnen sie und ihre Nachkommen zum Teil noch heute? Schaut man sich Daten vom Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen zum Anteil der Vertriebenen nach Verwaltungsbezirken an, zeigt sich folgendes Bild: 1946 hatte den mit Abstand größten Anteil das westfälische Halle (19,9 Prozent). Dieser Trend setzte sich zunehmend fort, bis der Kreis 1970 knapp vom Kreis Bielefeld überholt wurde (28,7 Prozent, Halle bei 28,5). Zu den Städten und Kreisen mit einem Anteil von mehr als 20 Prozent zählen zu dieser Zeit auch die Stadt Bielefeld, Lüdenscheid, Iserlohn, Lünen, Leverkusen, Hagen, der Kreis Iserlohn und Unna.

Doch nicht alle sind dort geblieben, wo sie zunächst ankamen. Während zunächst auch Wittgenstein, Büren, Warburg, Beckum, Meschede und Höxter einen hohen Anteil an Vertriebenen verzeichneten, nahm er dort nach einem kurzen Anstieg um 1960 wieder ab.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.

Während die Gesamtbevölkerung in NRW 1961 noch zu etwa 46 Prozent katholisch ist und nur 39 Prozent evangelisch, ist das Verhältnis bei den Vertriebenen umgekehrt: Sogar 61 Prozent von ihnen sind evangelisch, nur 36 Prozent katholisch. Besonders ausgeprägt ist der Unterschied in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Arnsberg. In Aachen hingegen sind Katholiken und Protestanten unter den Vertriebenen fast gleichstark vertreten.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.

Wie viele Menschen heute noch Eltern oder Großeltern mit Vertreibungshintergrund haben, dazu gibt es keine Daten. Auch mit statistischen Berechnungen ist dies nur schwer zu rekonstruieren, wenn überhaupt. Aber es gibt Daten dazu, wie viele Vertriebene heute noch leben: In NRW sind es noch 131.000, also fast zehn Prozent im Vergleich zu 1950 – in der gesamten Bundesrepublik hingegen mit 840.000 nur noch 0,75 Prozent.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.
Wie umgehen mit der Familiengeschichte?

„Unbedingt in Erinnerung behalten“

„Wir waren eine Familie, in der sehr viel über geschichtliche Themen gesprochen wurde“, sagt Guido Hitze. Dabei habe man auch über die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung diskutiert. Den Nationalsozialismus habe seine Familie von Anfang an als Verbrechen empfunden. „Mein Opa hat gesagt: Wer so Böses tut und plant, der muss sich nicht wundern, wenn es dann so ausgeht“.

Familie Franzke 1950 in Düsseldorf: Magdalena links oben, neben ihren Brüdern Georg und Clemens

  • Bild: privat

In der Großfamilie habe es jedoch auch gegensätzliche Meinungen gegeben. Zwei Brüder seiner Mutter, so Guido Hitze, hätten sich zwar gut verstanden, aber „völlig unterschiedliche Perspektiven auf die Geschehnisse entwickelt“. Der eine, Georg, habe „die Polen“ für den Verlust der „Heimat“ verantwortlich gemacht. Für den anderen, Clemens, seien die Truppen der Roten Armee die Befreier gewesen.

0:00/0:00

Guido Hitze: Magdalenas Brüder haben unterschiedliche Perspektiven

  • Video: WDR/Jan Knoff

Brauchtum statt Landsmannschaften

Trotz der Sehnsucht nach Oberschlesien sind Vertriebenenverbände und Landsmannschaften keine Option. „Im Nachhinein wundere ich mich etwas, dass meine Eltern da nie Mitglied geworden sind“, sagt Guido Hitze. „Ich kann auch gar nicht sagen warum.“ Vielleicht habe es an der politischen Ausrichtung gelegen. „Dass sie dachten, die sind uns zu radikal.“

Wichtig sei den Eltern aber das Erleben von Bräuchen und Traditionen gewesen. „In Düsseldorf haben wir regelmäßig das Gerhart-Hauptmann-Haus, das früher ‚Haus des Deutschen Ostens‘ hieß, besucht.“ In dieser Begegnungsstätte für Vertriebene habe es „schlesische Weihnachten“ gegeben. „Und wir Kinder wurden dann in Vorführungen über Rübezahl und das Riesengebirge geschickt.“

Sich integrieren oder zurückgehen?

Die ältere Generation der Familie ist jahrelang hin- und hergerissen. Es geht um die Frage, wie sie mit der neuen Situation umgeht: Bleiben wir in NRW oder können wir irgendwann wieder nach Oberschlesien zurück? Dahin, wo unsere Vorfahren im 17. Jahrhundert aus der Wiener Gegend eingewandert sind? Ein Zwiespalt, den auch die Kinder spüren, sagt Guido Hitze: Wohin gehören wir? Ein leises Gefühl von Fremdheit.

0:00/0:00

Guido Hitze: Zwiespalt der Gefühle über Generationen

  • Video: WDR/Jan Knoff

Verstärkt wird die Unsicherheit der mittleren Generation durch die materielle Lage. „Meine Eltern hatten nicht viel Geld“, sagt Guido Hitze. Die Familien-Devise lautet damals: „Wir schmeißen nichts weg.“ Die Großeltern decken das Aluminium-Besteck, das sie 1946 bekommen haben, auch noch, als Enkel Guido sie in den 1970er-Jahren besucht. „Und ich habe mich immer gewundert, warum das so biegsam ist.“

„Unbedingt in Erinnerung behalten“

Sind diese Erfahrungen heute noch wichtig? Ja, sagt Felicitas Hitze. Sie seien Teil der deutschen Geschichte. Zudem sei das Thema Flucht und Vertreibung weiterhin aktuell. Auch die junge Generation könne daraus lernen.

0:00/0:00

Felicitas Hitze: Flucht ist auch heute ein aktuelles Thema

  • Video: WDR/Jan Knoff

„Das Thema muss unbedingt in Erinnerung behalten werden“, findet auch Guido Hitze, der CDU-Mitglied ist wie einst sein Großvater. Er plädiert dafür, an Holocaust- und NS-Verfolgung und an Vertreibung nicht weiter getrennt zu erinnern. Beide Erinnerungskulturen müssten zusammengeführt werden, weil beides inhaltlich zusammenhänge. Es gehe um Verständigung, um das Bauen von Brücken.

Keine Verbitterung entwickelt

Was kann man aus den Erfahrungen dieser Familie lernen? „Dass es immer auf die einzelnen Menschen ankommt“, sagt Guido Hitze. „Dass es nicht Gruppenidentitäten gibt, wo man sagen kann, diese Menschen müssen so und so sein, weil sie einer Gruppe angehören.“ Es komme darauf an, immer auf die Person und ihre Umstände, ihre Prägungen und ihre Motivationen zu schauen.

0:00/0:00

Felicitas und Guido Hitze: Aus der Familiengeschichte lernen

  • Video: WDR/Jan Knoff

Auch für Felicitas Hitze ist es wichtig, „dass man offen ist und den Leuten erst mal zuhört“. Ihre Großmutter habe auch am Lebensende noch gesagt, dass sie viele schlimme Dinge erlebt habe, aber trotzdem immer das Positive sehe. Und Guido Hitze ergänzt, seine Mutter habe aus ihrer Vergangenheit nie eine Verbitterung entwickelt. Sie habe immer an das Gute im Menschen geglaubt und das auch weitervermittelt. „Bis zuletzt.“

„Freiheit des Einzelnen“ als Vermächtnis

Magdalena Hitze erlebt mit zehn Jahren bewusst, wie ihr Vater von den Nationalsozialisten verhaftet wird und für 14 Monate in KZ- und Gefängnishaft kommt. Aus dieser unmittelbaren Konfrontation mit der Diktatur zieht sie einen Schluss, den sie im Kontakt mit dem WDR auf den Punkt bringt. Auf die Frage, welche Welt sie sich für ihre Enkelin in Zukunft wünscht, antwortet sie: „Eine wirklich demokratische Regierung, welche die Freiheit des Einzelnen respektiert!“

Magdalena Hitze starb Mitte April 2025 mit 101 Jahren.

  • Bild: privat

Unsere Quellen

  • Magdalena Hitze: Immer anders als man denkt - Die wechselvolle Geschichte unserer Familie. Düsseldorf 2012
  • Guido Hitze: Emil Franzke (1895-1984). In: Schlesische Lebensbilder Bd. IX. Herausgegeben von Joachim Bahlcke, Insingen 2007, S. 399-411
  • Landeszentrale für politische Bildung NRW: Flucht und Vertreibung - Eine Handreichung für den Unterricht. Düsseldorf 2010
  • Manfred Wolf: Operation Swallow - Der Weg von Schlesien nach Westfalen im Jahre 1946. Westfälische Zeitschrift 156, 2006, S. 117-138

Team

Text, Interviews
Dominik Reinle
Daten und Grafiken
Lisa-Marie Eckardt, Birgit Heinzelmann, Lukas Wamper
Fotos und Videos
Jan Knoff, ergänzt durch private Fotos der Familie Hitze und Material von der Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen (Video-Interview mit Magdalena Hitze im November 2019)
Redaktion
Philipp Blanke, Raimund Groß, Till Hafermann