Wer war Heinrich Böll?
100 Jahre Heinrich BöllVon Sabine Tenta
Kapitel 1: Wer war Heinrich Böll?
War er ein "Menschenfreund", wie ihn seine Verehrer liebevoll nennen, oder ein "Gutmensch", wie seine Verächter spötteln? Oder war er sogar der "geistige Vater der RAF"? War er zu links, wie viele Katholiken behaupten, oder zu katholisch, wie die Linken meinen?
Böll hat sich zeitlebens gegen Vereinnahmungen und Etiketten gewehrt. Entschieden sagte er: "Ich will nicht Deutschlands Heinrich sein. Ich will kein Image haben und keins sein."
"Ein Autor ist per se ein kritischer Autor"
In seinen Romanen, Erzählungen, Satiren und Kurzgeschichten thematisiert er unter anderem seine Kriegserfahrungen, den Wiederaufbau, Konflikte mit der katholischen Kirche und die Macht der Massenmedien. Und er mischt sich immer wieder ein in die gesellschaftspolitische Diskussion, mit Reden, Essays und Interviews. Getreu seinem Selbstverständnis als Schriftsteller: "Ein Autor ist per se ein kritischer Autor, sonst ist er keiner."
Heinrich Böll im WDR-Interview 1982
Politischer Artikel ist Literatur
Aus der Rede Bölls bei der Nobelpreis-Verleihung 1972
Der weite Weg zu höchsten Ehren
Der Nobelpreis für Literatur
Der Nobelpreis für Literatur
Der Nobelpreis mit seinem übergroßen Renommee und seiner internationalen Aufmerksamkeit katapultiert jeden Preisträger in eine neue Umlaufbahn: Das Etikett Literatur-Nobelpreisträger wird nun fast schon zwanghaft dem Namen vorangestellt. Die Person Böll war als Lautsprecher für die unterschiedlichsten Anliegen gefragt. Die Anfragen häuften sich, wie sich sein Verleger Reinhold Neven DuMont im WDR-Gespräch erinnerte: "Nach dem Nobelpreis kamen wirklich Stöße jeden Tag. Diese Post konnte er selbst gar nicht mehr allein beantworten. Er gab sie in den Verlag, damit wir sie vorab schon mal sichteten. Es war ein Zustand eingetreten, in dem Böll für alles und jedes der passende Mann war. Ob es um ein Vorwort für eine Anthologie ging oder die Unterschrift unter eine Resolution, eine Rede zur Einweihung einer nach ihm benannten Schule oder Kollegen ihn baten, ein Nachwort für ihr Buch zu schreiben: Böll passte immer!"
Der weite Weg nach Stockholm, den Böll in seiner Dankesrede skizzierte, begann 1917 in der Kölner Südstadt.
Kindheit, Jugend, Krieg
Kapitel 2: Kindheit, Jugend, Krieg
Zwischen Kleinbürgertum und Schulden
"Zu Hause war's durchaus nicht immer 'gemütlich': dieses explosive Gemisch aus kleinbürgerlichen Resten, Bohème-Elementen und proletarischem Stolz, so recht keiner 'Klasse zugehörig'. [...] Und natürlich trotz allem katholisch, katholisch, katholisch." Und dieser Katholizismus vertrug sich im Hause Böll prächtig mit einer linken Gesinnung. Seine Mutter Maria hatte in der Familie den Spitznamen "Clara Zetkin".
Hein, der Schulschwänzer und Sitzenbleiber
Die Prima, also die letzte Klasse vor dem Abitur, musste Böll wiederholen. Und im Abi schloss er ausgerechnet in den beiden Fächern Deutsch und Religion nur mit "genügend" ab, was heute einer "3" entspricht.
Das Abiturzeugnis
Das Abiturzeugnis
Körperliches Streben: durch Krankheit behindert
Charakterliches Streben: zufriedenstellend
Geistiges Streben: zufriedenstellend
Gesamterfolg: ausreichend
Religion: genügend
Deutsch: genügend
Latein: gut
Griechisch: genügend
Französisch: genügend
Englisch: gut
Geschichte: gut
Erdkunde: genügend
Mathematik: gut
Physik: gut
Biologie: genügend
Zeichen- und Kunstunterricht: genügend
Musik: genügend
Leibesübungen: befreit
Körperbeschaffenheit: Breit und groß, doch wenig leistungsfähig, durch häufiges Kranksein vom Turnen auf Grund eines ärztlichen Attestes befreit und in seiner körperlichen Ausbildung stark gehemmt.
Familienverhältnisse: Geordnetes Familienleben, doch sehr dürftige Verhältnisse. Der Vater, Bildhauer, ist seit langem arbeitslos. 6 Kinder.
Begabung: gut begabt.
Leistungen: Im allgemeinen genügend, teilweise, besonders in Mathematik und Physik, gut. Seinen Anlagen nach könnten seine Erfolge besser sein. Daß sie nicht durchweg gut sind, ist wohl auf Krankheit und häufiges Fehlen zurückzuführen.
Betätigung in n.s. [national-sozialistischen] Verbänden: Ist wegen seiner Krankheit nicht organisiert.
Charakter: Schwerblütig, verträglich, vielleicht nicht energisch genug. Fügt sich anscheinend mit Gelassenheit in seine dürftigen Verhältnisse, die er durch eigenes Verdienen zu bessern sucht.
Berufswünsche: Verlagsbuchhändler. Er ist für diesen Beruf besonders durch seine Zuneigung zur Literatur geeignet.
Die Last der Krankheiten
1969 schrieb er in einem Zeitungsartikel: „Der Kater, den wir einmal hatten – ziemlich lange, bis ihn ein unheilbares Leiden dahinraffte – war zum Beispiel vital: ein schönes Tier, rücksichtslos, brutal, listig und schön. Ausgesprochen vital. Da ich im Laufe meines inzwischen schon ziemlich langen Lebens auch einige Zeit Umgang mit Kriminellen hatte (im Zusammenhang übrigens mit Soldatentum), weiß ich auch, wie vital, wie menschlich Kriminelle sein können. [...] Kurz gesagt: ob einer vital sei, das besagt nichts, nicht das geringste über seine möglichen anderen Qualitäten.“
"Scheiß" Soldatenleben
In einem Brief an seine Eltern fasst er seine Situation knapp zusammen: "Alles ist scheiße." Für den Rest seines Lebens hatte Böll eine Abscheu gegen alles Militärische. Sein politisches Engagement gegen den Obrigkeitsstaat sowie für Freiheit und Menschenrechte wurzelt in seiner Kriegserfahrung.
Böll und die Rote Armee Fraktion
Kapitel 3: Böll und die RAF
Kapitel 3: Böll und die RAF
Ein Spiegel-Artikel und seine Folgen
Aus diesem Artikel entspann sich ein jahrelanger Konflikt. Den Auftakt machte die Bildzeitung, die Böll mit NS- und SED-Chefideologen verglich. In zahlreichen Kommentaren und Artikeln wurde Böll die Billigung und Verherrlichung von Gewalt vorgeworfen. Die Illustrierte "Quick" verstieg sich sogar zu der Schlagzeile: "Die Bölls sind gefährlicher als Baader-Meinhof".
Heinrich Böll und seine Familie waren einer regelrechten Hexenjagd ausgesetzt. Heute würde man das als "Shitstorm" bezeichnen.
Die gut informierte Springer-Presse
Sogar die Wohnung eines Böll-Sohnes wurde 1975 durchsucht. Interessanterweise berichteten zwei Zeitungen des Springerverlags ("B.Z." und "Bild") von der Durchsuchung, bevor sie stattgefunden hatte. Heinrich Böll zog daraus den Schluss, dass die Polizei mit der Springerpresse zusammen arbeitete.
Morddrohungen und Schmähbriefe
Böll überlegte resigniert, das Land zu verlassen und in Irland zu leben. Denn im Nordwesten Irlands, auf Achill Island, hatte seine Familie ein Ferienhaus. Doch Böll entschied sich dann doch, in Deutschland zu bleiben.
"Das macht mich wahnsinnig"
Böll klagt gegen die Tagesschau
Gegen einen Kommentar in der Spätausgabe der "Tagesschau" ging Böll sogar gerichtlich vor. Denn Matthias Walden hatte am 21. November 1974
Heinrich Böll falsch und irreführend zitiert: Böll habe den Rechtsstaat als "Misthaufen" bezeichnet und den Staat beschuldigt, die Terroristen "in gnadenloser Jagd" zu verfolgen. Sieben Jahre und fünf Instanzen später gab das Bundesverfassungsgericht Böll Recht und stellte am 3. Juni 1980 fest: "Das Grundrecht der Meinungsfreiheit schützt nicht das unrichtige Zitat." Böll erhielt 40.000 DM Schmerzensgeld.
Der Mahner und Polit-Aktivist
Kapitel 4: Der Mahner und Polit-Aktivist
Zum Beispiel, als die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD 1968 die Notstandsgesetze verabschiedete. Dagegen regte sich der Widerstand der Außerparlamentarischen Opposition. Auf einer Großdemonstration in Bonn sprach auch Heinrich Böll.
Rede während einer Demonstration in Bonn
Böll entlarvt die Gummiparagrafen der Notstandsgesetze
Sitzblockade vor dem US-Atomwaffenlager in Mutlangen
Vor dem US-Atomwaffenlager in Mutlangen auf der Schwäbischen Alb fand am 01.09.1983, dem Anti-Kriegstag, eine Sitzblockade statt. Unter den Demonstranten sind viele Prominente wie Petra Kelly, Klaus Staeck, Dieter Hildebrandt, Walter und Inge Jens. Doch einer sticht besonders hervor: der Literaturnobelpreisträger Böll.
Böll über sein Erscheinen in der Öffentlichkeit
Fürsorgliche Belagerung eines Prominenten
Zweimal Rosen für eine Ohrfeige
Im WDR-Interview erinnerte sich Beate Klarsfeld später: "Heinrich Böll hat mir 50 rote Rosen nach Paris geschickt. Günter Grass hat ihn dafür kritisiert. Diese Tat sei kein Grund für Blumen. Daraufhin bekam ich von Böll noch einen zweiten Strauß."
Böll und der Katholizismus
Heinrich Böll im WDR-Interview
Kapitel 5: Böll und der Katholizismus
Ein Rosenkranz voller Zigaretten
Der subjektive Herzinfarkt des Vaters
Evangelisches Mädchen? Undenkbar!
Kritik an der verkrusteten Kirche
Die Bevormundung durch den Katholizismus
Austritt aus der Körperschaft, nicht der aus der Kirche
Der Austritt aus der Amtskirche
Werk und Handwerk
Heinrich Böll im Gespräch mit Werner Koch
Kapitel 6: Werk und Handwerk
Böll über eine Begegnung mit Bachmann in Rom
Wertvolle Tipps von Ingeborg Bachmann
Bachmann zu verdanken.
Ein produktiver Schriftsteller
Die Werke Bölls wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, darunter auch ins Chinesische, Hebräische, Arabische, Japanische und Gälische.
Wir geben im folgenden einen kurzen Überblick über seine wichtigsten Bücher.
Die wichtigsten Bücher
Die wichtigsten Bücher
Den Durchbruch als Schriftsteller erlebte Böll 1951: Mit seiner Satire "Die schwarzen Schafe" gewann er den Literaturpreis der Gruppe 47. Danach konnte Heinrich Böll hauptberuflich als Schriftsteller leben - und seine junge Familie ernähren.
"Das irische Tagebuch" (1957) gehört zu seinen beliebtesten Werken und hat unter seinen Lesern eine große Irland-Begeisterung ausgelöst. Auch wenn es sich "Tagebuch" nennt, so ist
es doch keine Sammlung von privaten Notizen. Seine zahlreichen Irlanderfahrungen hat Böll in einer zugleich anekdotisch-unterhaltsamen und tiefsinnigen Art zu einem kurzweiligen Text verdichtet.
"Billard um halb zehn" (1959) ist ein Roman um die Architektenfamilie Fähmel. Es ist ein komplex gestaltetes Werk. Auf der Gegenwartsebene schildert es zehn Stunden aus dem Leben des Architekten Heinrich Fähmel. Kunstvoll eingewoben sind Rückblicke, Reflexionen und innere Monologe der
Familienmitglieder. Die Epochenbilanz behandelt wichtige Abschnitte der deutschen Geschichte seit der Jahrhundertwende. Der Roman ist keine leichte Kost. Kritiker bezeichnen ihn auch als überambitioniert.
Was für einen Aufruhr hatte Böll mit seinem Roman "Ansichten eines Clowns" (1963) ausgelöst! Der Autor wurde für die Ansichten seines Helden angefeindet. Es ist die Geschichte des Clowns Hans Schnier, der in "wilder Ehe" mit einer Frau lebt und nicht verkraftet, dass sie ihn verlässt, um einen Katholiken zu heiraten. Schnier stellt die katholische Moral in Frage, rechnet ab mit seinem reichen Elternhaus und den Alt-Nazis, die in der Bundesrepublik Karriere machten. "Einer der kirchlich orientierten Kritiker befürchtete 1963, mein Buch könnte in die Hände von Abiturienten geraten", schrieb Böll in einem Nachwort 1985. Und freute sich, dass der Roman zur Schullektüre geworden war.
"Gruppenbild mit Dame" (1971) umfasst 500 Seiten. Das Nobelpreiskomitee bezog sich 1972 bei der Begründung für den Preis ausdrücklich auf dieses Werk. Die Protagonistin Leni Pfeiffer - in der Verfilmung dargestellt von Romy Schneider - ist eine typische Böllfigur: eine Außenseiterin, in deren Leben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln.
Zu den meistgelesenen Büchern Heinrich Bölls gehört "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (1974) - auch weil es für ganze Schülergenerationen Pflichtlektüre war. Aus der ehrbaren Katharina Blum wird eine kaltblütige Mörderin, die ihre Tat nicht bereut - diese Wandlung ist der Hetzkampagne einer Boulevardzeitung zuzuschreiben. Darum heißt das Werk auch im Untertitel: "Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann." Bereits 1975 verfilmte Volker Schlöndorff das Buch mit Angela Winkler in der Hauptrolle.
Den kurzweiligsten Einstieg in das Werk Bölls bieten seine Satiren: In "Nicht nur zur Weihnachtszeit" (1952) erfindet Böll die "Tannenbaum-Therapie" für Tante Milla. Fortan wird jeden Abend Heiligabend gefeiert. "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" (1958) spielt im Kölner WDR-Funkhaus. Die Satire handelt vom Hörfunk-Redakteur Dr. Murke, der Tonbänder des Literaten Bur-Marlottke bearbeiten muss. Im Mittelpunkt des Romans "Ende einer Dienstfahrt" (1966) stehen Vater und Sohn Gruhl. Sie entstammen dem kleinbürgerlichen Milieu einer Provinzstadt. Beide entlarven mit Witz und Zivilcourage die absurde Bürokratie der Bundeswehr.
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Der Böll-Sohn René und die Enkelin Samay Böll haben eine sehr lesenswerte Seite zum 100. Geburtstag zusammengestellt. Mit zahlreichen Informationen zum Leben und Werk Heinrich Bölls.