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WDR

Autoren: Christian Dassel, Monika König
Redaktion: Nila Reinhardt, Rainer Kellers
Fotos: Monika König, Heike Leppkes

Medien
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Leben nach der Flut

Der Kampf um den Wein an der Ahr

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Es ist paradox: Oben auf dem Weinberg gedeihen die Trauben, als wäre nichts gewesen. Unten im Tal ist alles zerstört. Nach der Flutkatastrophe kämpfen die Winzer an der Ahr ums wirtschaftliche Überleben. Auch Familie Kreuzberg aus Dernau.

Teil 1:

Die Kreuzbergs in der Krise

Sandra, Lea, Lisa und Ludwig: Sie haben nur noch sich selbst. Alles andere hat ihnen die Flut genommen. Ihr Haus ist unbewohnbar. Möbel, Kleidung, Erinnerungen: verschlammt, zerstört, verloren.

Auch ihr Weinbau-Betrieb liegt in Trümmern. Die Produktionshalle, die Straußwirtschaft (ein saisonaler Ausschank), der Weinkeller - was sich die Kreuzbergs über drei Generationen aufgebaut hatten, ist über Nacht einfach abgesoffen.

Das Wasser ist weg. Die dunkelsten Stunden sind wahrscheinlich überstanden.

Und jetzt?









Ludwig Kreuzberg

Er blickt nach vorn. Und nach oben. Die Bedingungen für einen Spitzenwein wären optimal. Der Spätburgunder, der hier angebaut wird, mag es nicht zu heiß und nicht zu trocken.

Nach der Jahrtausendflut könnte das ein Jahrhundertjahrgang werden. Wir müssen die Trauben nur irgendwie vom Berg kriegen.

Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Noch vier Wochen, dann können die ersten Trauben geerntet werden. Nein: Sie müssen!

Lea Kreuzberg:

Der Druck ist groß, dass wir das hinbekommen. Der Jahrgang 2021 ist der Wein, mit dem wir versuchen, unsere Existenz wieder aufzubauen.



Lea liebt ihre Heimat. Irgendwann nach ihrem Weinbau-Studium möchte sie in Dernau leben und arbeiten. Als die Katastrophe über ihr Dorf hereinbrach, waren ihre Eltern im Urlaub. Sie war allein mit der Flut und musste mit ansehen, wie die entfesselte Ahr das Lebenswerk ihres Vaters zerstörte.

Jetzt erst recht!

Trotz der Trauer gibt sie nicht auf. Deshalb hat Lea ihre Pläne geändert. Nach dem Studium wollte sie eigentlich auf anderen Weingütern Erfahrungen sammeln. Daraus wird wohl nichts. Lea bleibt, weil sie gebraucht wird. Und weil ihr die Gegend hier am Herzen liegt. Daran hat auch diese verfluchte Flut nichts geändert.

Ich könnte mich von unserem Weingut niemals trennen. Das ist schon immer mein Ziel gewesen und mein Lebenstraum, hier weiterzumachen. Dafür studiere ich jetzt in Geisenheim. Und das alles wegen der Katastrophe hinzuschmeißen, die Option gibt es für mich nicht.

Gemeinsam sind sie stark. Aber zu zweit sind sie zu wenig. Lea und Ludwig Kreuzberg brauchen Hilfe. Im Tal sind THW und Feuerwehr die Retter in der Not. Und auf dem Weinberg?

Retter in der Not

In guten Zeiten sind sie Konkurrenten, in schlechten Zeiten sind sie füreinander da: Aus ganz Deutschland sind Winzerkollegen an die Ahr gekommen, um zu helfen.



Ludwig Kreuzberg:

Während wir unten im Dreck stehen und schaufeln, bekommen wir da oben sensationelle Hilfe - vom Rheingau, aus der Pfalz, von der Mosel. Ich bin so dankbar, das können Sie sich nicht vorstellen.

Wohin mit dem Wein?

Und trotzdem hat Ludwig Kreuzberg ein Riesenproblem: Das Dorf steht im Dreck. Seine Halle steht im Dorf. Der Dreck in der Halle macht eine Weinproduktion unmöglich. Im Tal gibt es keine Hallen mehr, die unversehrt sind und sauber.

Ohne Halle, kein Wein. Ohne Wein, kein Umsatz. Ohne Umsatz keine Zukunft. So einfach ist das - und so brutal.

Düstere Aussichten

Ob das Weingut Kreuzberg eine Zukunft hat, wird sich in den kommenden Tagen entscheiden. Ein Anfang ist gemacht. Das Ende ist offen.













Teil 2:

Spätsommer

Dernau, fünf Wochen nach der Katastrophe.





Ludwig Kreuzberg:

Meine Tochter hat gestern gesagt: So wie es hier immer noch aussieht, könnte man gut 'nen Horrorfilm in Dernau drehen.
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Tragödien

Wenn Ludwig Kreuzberg durchs Dorf fährt, sieht er überall Trümmer und Schutt. Zwei Mal am Tag kommt ein Wasserwerfer, um die große Hauptstraße vom Dreck und vom Staub zu befreien. "Es ist wie im Krieg. Da passiert etwas Schlimmes von heute auf morgen. Manche kommen besser mit der Situation klar, manche schlechter."



Und manche überhaupt nicht.







Drei Menschen aus Dernau haben sich seit der Flut umgebracht. Ein junger Mann, zwei ältere Damen. Was sie dazu bewegt hat - man kann es nur erahnen. Das Leben nach der Flut ist keine Selbstverständlichkeit.



Drei Suizide in fünf Wochen - in einem Dorf mit 1.700 Einwohnern. Was für eine furchtbare Bilanz.







Licht und Schatten

Wer Glück hat im Unglück, darf sein Haus behalten. Wer Pech hat, muss ertragen, dass es abgerissen wird.

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Der Soundtrack dieses Dorfes: Krach. Es ist ein einziges Dröhnen, Bagger, Laster, Presslufthämmer. Die Häuser, die nicht sofort abgerissen werden, werden entkernt. Irgendwann kommen dann die Baugutachter. Alles steht und fällt mit ihrer Entscheidung: Abriss oder Renovierung? Auch die drei Häuser, die zum Weingut Kreuzberg gehören, warten noch auf ihr Urteil.

Lisa Kreuzberg

Sie ist 16 und geht noch zur Schule. Auf der Baustelle wirkt sie erstaunlich gelassen. Dabei geht es um ihr Elternhaus. Aber Lisa hat sich etwas vorgenommen: Sie möchte keine Angst haben vor dem, was da noch kommt. Sie nimmt sich ein Beispiel an ihrem Vater. Wenn das Weingut abgerissen wird, sagt sie, dann wird das Weingut eben abgerissen.

Anstatt immer nur zu denken: Scheiße, wir haben alles verloren, sollte man lieber denken: Es ist ein Neuanfang, wir machen es jetzt besser als vorher.

Lea ist weg!

Klingt dramatisch. Ist aber Urlaub. Mit ihrer besten Freundin Franziska verbringt Lea ein paar Tage in Österreich. Nicht, weil sie wollte, sondern weil sie sollte. Ihre Eltern hatten sie überredet. "Die Lea muss mal was anderes sehen, nicht immer nur das Chaos und den Dreck!"

Lea hatte ein schlechtes Gewissen - sie wollte das Weingut nicht alleine lassen. Am Ende hat sie es dann eingesehen: Das Tal kostet Kraft. Sie tankt diese Kraft in den Bergen.



Schöne Grüße aus Kaprun

Sandra, Ludwig und Lisa sitzen in den Trümmern ihres Weingutes und bewundern eine heile Welt - auf dem Bildschirm. Am anderen Ende der Leitung sitzen Lea und Franziska und lassen es sich gut gehen - so gut das eben geht.



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Alarmstufe blau!

Auch das noch: Die Frühburgunder-Trauben sind so gut wie durchgereift. Eigentlich eine gute Nachricht. Doch in diesem Jahr ist alles anders.



Ludwig Kreuzberg:

Ich bin ein bisschen überrascht, weil ich jetzt 10 Tage nicht mehr hier war. Die Trauben sind jetzt so ungefähr bei 70 Grad Oechsle. Die schmecken jetzt schon zuckersüß!

Bitter!

Frühreife Trauben! Das hat Ludwig Kreuzberg gerade noch gefehlt! Denn das bedeutet: In gut zwei Wochen muss die Weinlese beginnen. Es geht um alles oder nichts. Mit dem Jahrgang 2021 entscheidet sich die Zukunft des Weinguts.

Stress für die Kreuzbergs - denn sie sind noch nicht so weit. Der Natur ist das egal - sie duldet keinen Aufschub.

Wenn die Trauben erst geerntet sind, müssen sie sofort weiter verarbeitet werden. Aber wo?

Halleluja!

Nicht schön, aber brauchbar: In einem schmucklosen Gewerbegebiet in Meckenheim steht eine leere Halle, die groß genug ist und bezahlbar. Wenn das Weingut Kreuzberg eine Zukunft hat, dann hier - im Exil.

Alles auf Anfang

Ludwig Kreuzberg ist unglaublich erleichtert. Er hat es tatsächlich geschafft! Auf den allerletzten Drücker hat er eine neue Halle gefunden. Er schiebt die ersten Gitterboxen auf die große, leere Fläche. Es fühlt sich gut an - wie der erste Schritt in eine besser Zukunft.

Und die Vergangenheit? Vorbei.

Klar ist es irgendwie auch ein Abschied, von der alten Halle und von der Produktion in Dernau - zumindest für ein Jahr oder zwei. Aber: Ich blicke nicht wehmütig zurück. Das, was morgen ist, ist mir wichtiger, als das, was gestern war. So bin ich eben.

Rein in den Wein!

Die Lese kann beginnen. Die Halle ist vorbereitet, das Team steht. Die Trauben waren so freundlich, etwas langsamer zu reifen, als anfangs befürchtet. Das schlechte Wetter hat den Kreuzbergs in die Karten gespielt - Glück im Unglück. Es klingt so wohltuend normal: Weinlese im Ahrtal! Endlich! Jetzt wartet ein Berg an Arbeit ...





Teil 3:

Der Jahrgang 2021

Dernau, 10 Wochen nach der Flut

Vielleicht wird es ein Spitzenwein. "Wasser hatten wir ja genug", sagt Ludwig Kreuzberg und lacht. Er lacht jetzt wieder öfter. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Dabei sind die Umstände eigentlich noch immer deprimierend - zumindest unten im Tal. Was früher einmal Dernau war, ist jetzt ein befremdlicher Un-Ort, dreckig, laut und fast unbewohnbar, irgendwo in der Schwebe zwischen Abriss und Neuanfang.

Gast-Arbeiter

Im Frühsommer, als noch alles gut war, hatte Ludwig Kreuzberg fünf Ehepaare aus dem Bergischen zu Gast. Das typische Touristen-Programm: Fahrradfahren, Wandern, Wein verkosten. Als die Gäste gingen, kam der Regen, dann kam die Flut.

Zweieinhalb Monate später sind die Gäste wieder da - um den Kreuzbergs bei der Weinlese zu helfen. Einer von ihnen ist Herbert Kriesten aus Wiehl.



Damals haben wir hier mit Ludwig so schöne Stunden verbracht, da haben wir gedacht, wir müssen ihm jetzt helfen. Wir sind zum ersten Mal wieder an der Ahr. Es ist schlimm - es sieht aus wie im Krieg.

Freundschaftsdienste

Die Barrique-Fässer sind Spenden aus der Pfalz, die Edelstahl-Tanks kommen aus Baden und aus Franken: Die neue Halle ist ein Sinnbild der Solidarität. Der Jahrgang 2021 wird tatsächlich produziert - ganz Deutschland sei Dank.

Fehlen nur noch - die Trauben.

Lesen beruhigt

Zum ersten Mal seit Wochen: Routine. Endlich gibt es wieder etwas, das genau so ist, wie es immer war. Wenn Ludwig Kreuzberg im Berg steht, Trauben liest und Glück hat, dann kann er für kurze Zeit alles um sich herum vergessen.

Doch es dauert nicht lange, dann holt ihn Dernau wieder ein.

Es tut schon weh. Jetzt wäre die Straußwirtschaft proppenvoll, die Pension wäre ausgebucht, unsere Stammkunden würden Wein einkaufen - das fehlt uns alles sehr.





In den vergangenen Wochen gab es keine weiteren Suizide. So hören sich in Dernau gute Nachrichten an.







Ausnahmezustand

Die Menschen in Dernau sind längst eine Schicksalsgemeinschaft geworden. Miteinander haben sie viel erlebt und durchlitten. Was auffällt: Sie gehen sehr behutsam miteinander um, offen, zugewandt und achtsam. Ob Bewohner oder Zugereiste: Man ist sich Freund und Helfer.

Und so sieht das dann aus: Ein Wasserwerfer der Polizei wirft Wasser auf ein Blumenbeet. Niemand hat die Beamten darum gebeten. Sie haben einfach angehalten und losgewässert. Sie hatten wohl Mitleid mit den staubigen Blümchen, die eine unverzagte Anwohnerin hier angepflanzt hat. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen.

Die Krönung

Der Jahrgang 2021 hat noch etwas ganz Besonderes zu bieten: Bei der Wahl zur Deutschen Weinkönigin steht eine junge Frau aus Dernau im Finale - Linda Trabach. Sollte sie tatsächlich gewinnen - es wäre Balsam für die Seele dieses geschundenen Dorfes.



Linda live

Um 20 Uhr 15 beginnt die Live-Übertragung im Fernsehen. Das heißt: Public Viewing in Dernau! Normalerweise würde eine solche Veranstaltung im "Kölner Hof" stattfinden, doch die Gaststätte wurde vor einigen Wochen abgerissen. Die Tochter des Hauses hat auf den Trümmern ein kleines Festzelt errichten lassen. Wenn alles gut geht, hat Dernau heute Nacht endlich wieder Grund zum Feiern.

Spot an!

Großbildleinwand, Beamer, Weißwein - für einen perfekten Abend fehlt nur noch eine perfekte Königin. Halb Dernau will dabei sein, wenn Linda Trabach um die Krone kämpft. Was für eine Aufregung!

Showtime!

Sechs Regionalprinzessinnen treten an, Linda gehört zu den Favoritinnen. Sie überzeugt mit Wissen und Charme, übersteht drei nervenaufreibende Vorrunden und steht dann tatsächlich im Finale! Die Kreuzbergs flippen aus...

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Und wenn es ganz am Ende doch nicht reicht? Man möchte gar nicht daran denken. Kann Dernau das verkraften? Lea Kreuzberg glaubt: ja.

Natürlich würden wir das verkraften. Wir haben schon ganz andere Sachen verkraftet. Aber natürlich wäre es schön, wenn Linda gewinnt.

And the winner is ...

Nach einer gefühlten Ewigkeit: Der Augenblick der Wahrheit.

Aus der Traum

Ludwig Kreuzberg trägt es mit Fassung: Die neue Deutsche Weinkönigin kommt aus Baden. Es gibt Schlimmeres. Sehr viel Schlimmeres. Das weiß man in Dernau aus Erfahrung.

Am Ende des Tages ist es doch so: Das Leben nach der Flut geht schon morgen weiter - auf den Baustellen und in den Weinbergen. Der Jahrgang 2021 muss in die Flasche. Wie gesagt: Es könnte ein Spitzenwein werden, preisgekrönt und einzigartig. Für einen Katastrophen-Jahrgang keine schlechte Perspektive.

Der Neuanfang

Lea und Ludwig Kreuzberg blicken zuversichtlich in die Zukunft. Die Halle, die Lese, der Wein - das fühlt sich alles gut an. Sie waren am Boden und standen wieder auf. Sie waren tatsächlich stärker als die Flut - wie so viele Menschen im Ahrtal.

Das klingt nach Happy End. Dabei hat das Leben danach doch gerade erst begonnen ...