Stimmen der Verstummten
Stimmen der VerstummtenVon Andreas Spinrath und Georg Heil
Die Türkei vor dem ReferendumEvet oder Hayır?
Das Referendum ist der vorläufige Höhepunkt eines Machtkampfs, befeuert durch den Putschversuch des 15. Juli 2016.
WDR-Reporter haben in den vergangenen Monaten Menschen getroffen, die eines verbindet: In der Türkei sind viele Stimmen wie ihre verstummt.
Eine Multimedia-Geschichte.
Ein türkischer Offizier
Ein Putsch? Warum?
Ein Putsch? Warum?
Er war dafür, dass der Putsch lückenlos aufgeklärt werden sollte. Dass man die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen müsse. Aber dann traf es ihn und Tausende seiner Kollegen.
Er telefonierte, aber niemand konnte oder wollte ihm etwas sagen. Das Bild war unübersichtlich. Ein Putsch? Ein Militärputsch? Warum?
Nichts habe er davon gewusst, erzählt der Offizier, als wir ihn Monate später treffen. Nie hat er sich zuvor von einer Fernsehkamera filmen lassen. Keine Verbindungen zur beschuldigten Gülen-Bewegung, stets vorbildlich im Beruf. Er war auf dem Weg in die Führungsspitze der türkischen Streitkräfte, diente auf einem prestigeträchtigen NATO-Posten.
Wochen nach dem Putsch war all das vorbei. Rauswurf. Grundlos und ohne jeden Verdacht, wie er sagt. Jetzt lebt er als Asylbewerber in Deutschland. Glaubt, dass ihm seine westliche Bildung, sein Studium in den USA, seine Kontakte zu Kollegen aus den anderen NATO-Mitgliedsstaaten zum Verhängnis wurden.
Wie sich das für ihn anfühle? Als ob nach dem Putsch eine Säuberung innerhalb der Armee eingesetzt habe, als ob die Regierung sich der allzu westlich Denkenden habe entledigen wollen, als ob er in der "neuen Türkei" keinen Platz habe.
Menschen wie den Offizier haben WDR-Reporter in den Monaten seit dem Putsch viele getroffen. Nicht alle wollten sich filmen lassen, die meisten nur, wenn ihre Identität geheim bleibt, wenn das Gesicht verdeckt ist. Sie haben Angst, dass ihren Familien in der Türkei etwas zustoßen könnte.
Sie alle spüren die Bedrohung, die ihren Ursprung in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli des letzten Julis hat.
Einem Sommerabend in der Türkei.
Der Putsch
Der Putsch
Mehmet Ali Şengül
Die Listen
Die Listen
Ein geflohener Beamter
Wie viele Menschen wurden nach dem Putschversuch entlassen?
Die schraffierte Türkeikarte zeigt auf der linken Seite die Zahlen.
Die Folgen des Putschversuchs in ZahlenVorher/Nachher-Ansicht unten starten
"Es war so leicht für sie, uns loszuwerden"
"Es war so leicht für sie, uns loszuwerden"
Sie alle fanden sich auf Listen der Regierung wieder, jeder Name eine Entlassung, ein Berufsverbot, eine Verhaftung: Juristen, Staatsanwälte, Soldaten. Beamte, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen. Und Menschen, die in Europa waren und sich nicht mehr zurücktrauen.
Keiner von ihnen kennt konkrete Vorwürfe. Sie vermuten, dass sie zu westlich seien. Ihr Ideal der Trennung von Staat und Religion widerspreche offenbar der Weltanschauung der derzeitigen türkischen Regierung. Die Gruppe trifft sich regelmäßig, nach langem Zögern sagen sie zu, dass die Reporter bei einem Treffen dabei sein dürfen. Ihre Geschichten gleichen sich. Nach und nach fanden sie sich alle auf den Listen wieder. Sie seien suspendiert und per Befehl aufgefordert worden, in die Türkei zurückzukehren. Wieso? Keine Antwort.
Dann hörten sie, dass jene, die den Befehl befolgten, verhaftet wurden. Sie sahen Berichte von Folter im Fernsehen. Sie glaubten nicht, dass sie in der Türkei ihre Unschuld beweisen könnten.
Zwei türkische Asylbewerberinnen
Die Bedrohung
Die Bedrohung
Banu Güven
Ein gespaltenes Land
Ein gespaltenes Land
In den Medien zeigen sich die Entlassungen und Verhaftungen auf besondere Weise. Prominente Stimmen sind verstummt - hinter Gittern oder aus Angst. Andere sind aus der Türkei geflohen.
In den sozialen Medien zeigt sich der Hass im Besonderen. Hier werden jene angefeindet, die versuchen, mit 140 Zeichen gegen die Regierungsmeinung in der Türkei anzuschreiben. So wie Ali Utlu, der in Köln lebt und die Bedrohung Tag für Tag erlebt.
Er begann 2013 mit dem Beginn der Gezi-Proteste das Internet als Plattform für seine politische Meinung zu nutzen. Vielen gefällt das nicht.
Ali Utlu
Das Referendum
Das Referendum
Der 17. April
Der 17. April
Die Menschen, die uns in den vergangenen Monaten ihre Geschichte erzählt haben, berichten immer wieder von einer Sorge: Was passiert am Tag nach dem Referendum?
Werden die Soldaten zurückkehren, werden die Verhafteten aus den Gefängnissen entlassen? Was ist mit den Journalisten, den Richtern, den Beamten, den Menschen auf den Listen?
Gibt es für sie eine Zukunft in der Türkei?
Was wird aus ihren Stimmen? Werden sie stumm bleiben?
Ein türkischer Offizier
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