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Moderne Lohnsklaven

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Moderne Lohnsklaven

Eine Multimedia-Reportage von Raphael Thelen und Simon Sturm.

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Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation werden in Deutschland mehr als zehntausend Menschen  ausgebeutet.

Sie arbeiten zehn, zwölf und mehr Stunden täglich für einen Stundenlohn von drei, vier Euro. Auch in Branchen, in denen es bereits einen Mindestlohn gibt. Unternehmer umgehen diesen und sparen dadurch Lohnkosten und Sozialabgaben. Staat und Arbeitnehmer werden betrogen.

Zugewanderte Arbeiter können sich kaum wehren, während Unternehmer einflussreiche Lobbyorganisationen finanzieren.

In der Politik tobt derzeit der Kampf um Ausnahmen beim allgemeinen Mindestlohn. Es ist absehbar, dass viele Arbeiter durchs Raster fallen werden. Und das, obwohl die Ausbeutung direkt vor unseren Augen stattfindet.

Ein Beispiel: der Arbeiterstrich in Köln.

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Arbeiterstrich im Kölner Stadtteil Ehrenfeld

Ausschnitt aus "die story" vom 19.05.14

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Tatsächlich gilt Deutschland vielen Osteuropäern immer noch als Paradies. Doch die meisten kennen ihre Rechte nicht, wissen nicht, wie hoch ihre Löhne sein sollten. Ohne Deutschkenntnisse sind sie oft wehrlos und werden ausgenutzt.

Doch was eher nach Mafia und Menschenhandel  klingt, kommt aus der Mitte unserer Gesellschaft. Es sind vor allem mittelständische Unternehmen, die Gesetzes- und Kontroll-Lücken nutzen, um ihren Profit zu steigern.

Ein typischer Fall sind Reinigungsfirmen.
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Sauberkeit im Akkord

"Ich habe den Job gerne gemacht", sagt Petra K. über ihre Zeit als Vorarbeiterin im Dorint Hotel Bonn. Ihre früheren Kolleginnen nennt sie liebevoll "ihre Mädels". Sie vermisst die Zeit mit ihnen. Und vor ein paar Jahren war auch noch alles gut.

Das war, bevor ihre Chefs begannen den Lohn zu drücken und das Arbeitspensum zu erhöhen. Bevor sie erkannte, wie perfide die Unwissenheit ihrer vorwiegend ausländischen "Mädels" ausgenutzt wird. Bevor sie den Mund aufmachte und sich an eine Gewerkschaft wandte. Und: bevor sie ihren Job verlor.

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Die ehemalige Vorarbeiterin Petra K.

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Petra K. tritt hier nur anonym auf, weil sie Angst hat, in Zukunft keinen Job mehr zu finden, wenn sie sich öffentlich äußert. "Moderne Sklaverei", nennt sie das System, mit dem die Reinigungsfirmen Jahr für Jahr mehr fordern und weniger zahlen - trotz branchenweitem Mindestlohn.

Laut einem Vertragszusatz hatten die Reinigungskräfte gerade einmal 25 Minuten Zeit pro Zimmer. Das heißt: Fensterbänke abwischen, Betten beziehen, auf und in den Schränken Staub wischen, Toilette, Badewanne, Spiegel und Böden reinigen. Dazu kommen Flure und Balkone. Wer das nicht in der vorgegebenen Zeit schafft, muss länger arbeiten - unbezahlt.

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Die ehemalige Vorarbeiterin Petra K.

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"Pech gehabt" hat auch Agnieszka Majcherkiewicz. Die Hobbyköchin betreibt einen Blog mit Kochrezepten. Sie träumt davon, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. "Doch dahin ist es ein langer Weg", sagt sie. Mit ihrem früheren Job als Bankangestellte in der polnischen Stadt Kattowitz kam gerade genug für Miete und Lebensmittel zusammen.

Eine Freundin brachte sie auf die Idee, nach Deutschland zu gehen. Sie heuerte bei einem Reinigungsunternehmen an, das sie ins Motel One Bellevue in Berlin schickte.

Doch ihrem Traum hat sie das kaum näher gebracht. Im Gegenteil.

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Agnieszka Majcherkiewicz - Reinigungskraft

Ausschnitt aus "die story" vom 19.05.14

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Das Motel One Bellevue in Berlin bestreitet in einer Stellungnahme, dass es mit seinen Praktiken den Branchenmindestlohn unterlaufe.

Das Dorint Hotel in Bonn sieht die Verantwortung bei den Reinigungsunternehmen. Der ehemalige Vorgesetzte von Petra K. bei der Kölner Firma VDQ sagt, dass 25 Minuten ausreichend seien, um ein Zimmer zu putzen.

Laut Damian Warias von der Gewerkschaft IG BAU hat diese Vorgehensweise der Reinigungsunternehmen System. Er nennt es "Arbeitsverdichtung". Beschweren würde sich keiner, da die Arbeitgeber unliebsamen Arbeitern mit der Kündigung drohten.

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Damian Warias von der Gewerkschaft IG BAU

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Auf dem Bau

Auch in der Baubranche nutzen Unternehmer Menschen aus, die etwa aus Osteuropa nach Deutschland kommen. Die Arbeiter sind bereit für niedrige Löhne zu arbeiten und kennen die Arbeitsgesetze nicht.

Die bulgarischen Trockenbauer auf dieser Baustelle in Köln-Bilderstöckchen arbeiten als vermeintliche Selbstständige für das Unternehmen Nesseler & Grünzig.

Was das mit der Selbstständigkeit genau bedeutet, weiß keiner der Arbeiter auf der Baustelle so genau. Selbst der Polier kann es nicht erklären.
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Polier auf der Baustelle in Köln-Bilderstöckchen

Ausschnitt aus "die story" vom 19.05.14

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Die scheinbar selbstständigen Bulgaren arbeiten fünf Tage die Woche von morgens bis abends. Auch Samstags sind sie für vier Stunden auf der Baustelle.

Organisiert sind sie als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Sie arbeiten auf eigene Rechnung und jeder einzelne von ihnen ist juristisch gesehen selbstständig. Damit gelten für sie andere Regeln als für Arbeitnehmer.

Für Bau-Unternehmer wie Joachim Nesseler eine willkommene Möglichkeit zur Kostensenkung.
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Unternehmer Joachim Nesseler

Ausschnitt aus "die story" vom 19.05.14

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Etwas schlechter vergütet? Die angeblich selbstständigen Arbeiter verdienen nur rund halb so viel wie ein vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer auf einer Baustelle.

Unternehmer Nesseler sagt, dass er auf diese Weise rund vier Euro pro Stunde und Arbeiter spart - bei Großprojekten ein Unterschied von mehreren hunderttausend Euro. Geld, das bei den Unternehmern und Investoren bleibt. Den Arbeitern hingegen bleibt ihr geringes Gehalt und das Ausfallrisiko im Krankheitsfall.
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Michael Kanert ist Richter am Sozialgericht in Berlin. Er kennt dutzende Fälle vorgetäuschter Selbstständiger, von Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen und ein Gewerbe anmelden, um auf hiesigen Baustellen zu arbeiten.

Kommt es zu einer arbeitsrechtlichen Verhandlung, stellt sich oft schon nach wenigen Fragen an den ausländischen "Unternehmer" heraus, dass diese Bezeichnung faktisch nicht zutrifft.
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Sozialrichter Michael Kanert

Ausschnitt aus "die story" vom 19.05.14

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Das Geschäft mit der Pflege

Die Vermittlungsagentur SenioCare24 vermittelt Haushaltshilfen aus Polen nach Deutschland. Mit  rund 1.000 Kunden ist sie eine Branchengröße im Wachstumsmarkt Altenpflege.

Die vorwiegend weiblichen Pflegerinnen sind bei einer polnischen Firma angestellt. SenioCare24 stellt nur den Kontakt zu den Kunden her und organisiert die Logistik. Dafür nimmt sie eine monatliche Gebühr, die sich nach den Deutschkenntnissen der Pflegerinnen richtet.

Pflegerin Dorota Krajewska arbeitet sieben Tage die Woche bei einem älteren Ehepaar. Vor ihrer Anreise war ihr nur bedingt klar, was auf sie zukommt und was ihre Rechte sind.
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Schwerstarbeit Pflege

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Das ältere Ehepaar zahlt an die Agentur SenioCare24 monatlich 1300 Euro. Dafür arbeitet Dorota Krajewska rund zehn Stunden täglich, sieben Tage die Woche und ist 24 Stunden täglich in Bereitschaft. Ein kleines Zimmer dient ihr als Rückzugsort.

Insgesamt kommt sie so auf rund 280 Arbeitsstunden pro Monat und erhält dafür 800 Euro. Die Differenz von 500 Euro geht an die Agentur.

Bricht man ihren Lohn auf die Arbeitsstunde runter, bleiben ungefähr drei Euro. Eine deutsche Pflegekraft verdient vier Mal so viel.

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Tomasz Major ist Vorsitzender der polnischen Arbeitgeberkammer und vertritt rund 3000 polnische und westeuropäische Unternehmen aus der so genannten Entsendebranche.

Er kennt die Vorwürfe der Arbeitsausbeutung. Als Lobbyist setzt er sich jedoch gegen schärfere Gesetze ein und glaubt, dass Fälle wie der von Dorota Krajewska politisch gewollt sind.
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Tomasz Major - Vorsitzender der polnischen Arbeitgeberkammer

Ausschnitt aus "die story" vom 19.05.14

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Der Gang zur Gewerkschaft

Ausbeutung politisch gewollt? Schlechte Löhne für ausländische Arbeiter, damit heimische Unternehmen höhere Gewinne einfahren?

Rechtlich liegen diese Fragen oft in einer Grauzone. Die Reinigungskräfte Petra K. und Agnieszka Majcherkiewicz haben entschieden, sich zu wehren - mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

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Agnieszka Majcherkiewicz suchte Hilfe beim Büro für entsandte Beschäftigte des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).

Mit Hilfe ihrer Beraterin kämpfte sie für die ausstehenden Löhne aus ihrer Zeit beim Motel One Bellevue - mit Erfolg. Das Reiniungsunternehmen zahlte ihr das Geld rückwirkend aus. 

Doch auch in ihrem neuen Job hat sie mit den gleichen Problemen zu kämpfen.

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Mittlerweile führt sie jedoch täglich Protokoll über ihre Arbeitszeiten: wann sie morgens anfängt und abends aufhört , wieviele Stunden sie insgesamt arbeitet. Mit Hilfe dieser Listen kann sie nachweisen, dass sie nicht schon mittags nach Hause geht, wie von ihrem Arbeitgeber behauptet.

Und die Bemühungen haben Erfolg. Mittlerweile zahlt der Arbeitgeber ihr den vollen Lohn.
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Petra K. hatte weniger Glück. Als sie herausfand, dass ihre Kolleginnen und sie zu wenig Geld bekommen,  wandte sie sich an den Betriebsrat des Dorint Hotels und wurde Gewerkschaftsmitglied.

Sie beschwerte sich auch bei der Hotelführung und versuchte ihre Kolleginnen dazu zu bringen, das gleiche zu tun. "Doch sie hatten alle zu viel Angst oder sind auf den Job angewiesen", sagt Petra K.


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Im vergangenen Jahr wechselte alle paar Monate das Reinigungsunternehmen. Subunternehmen kamen und gingen. Für gewöhnlich wurden alle Reinungskräfte übernommen - wenn auch meist zu schlechteren Bedingungen.

Als Petra K. begann sich zu beschweren, stand kurze Zeit später wieder ein Unternehmenswechsel an. Alle Reinigungskräfte wurden übernommen.

Nur sie nicht.

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Ausblick

Im politischen Berlin tobt derzeit der Kampf um die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns von 8,50 Euro. Im Juli wollen die Abgeordneten das Gesetz verabschieden.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles von der SPD beschwört seit Monaten, dass der Mindeslohn "kein Schweizer Käse" werden dürfe. Gleichzeitig kämpfen Vertreter der CDU für mehr Ausnahmen, zum Schutz der Unternehmen.

Und tatsächlich ist abzusehen, dass Unternehmer auch in Zukunft Wege finden werden, Arbeiter in Deutschland auszubeuten. Die Beispiele aus Reinigung, Bau und Pflege zeigen es.
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